Jul 032004
 

Utopie für eine neue Weltordnung – Menschenrechte und Demokratie

Von Walter Hiller

Seit dem Jahr 1948 gibt es das Dokument der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“. Dieses Dokument stellt etwas völlig Neues in der Geschichte der Menschheit dar. Hier wurde zum ersten Mal ein System von grundlegenden Prinzipien und Werten des menschlichen Zusammenlebens in freier Entscheidung von der Generalversammlung der Vereinten Nationen und damit von der Mehrheit der auf der Erde lebenden Menschen, vertreten durch ihre Regierungen, angenommen. Mit dieser Erklärung wird ein Wertesystem universal und eine Regelung für das Zusammenleben der künftigen Gemeinschaft aller Menschen und aller Staaten. In unserer europäischen Geschichte ist diese Universalität das Ergebnis einer ganz allmählichen Entwicklung. (Ausgehend von der französischen Revolution 1789, wird sie danach zur Grundlage einer neuen Staatsauffassung. Der Staat ist nicht mehr absolut.)

Menschenrechte in der Defensive

Alle Politik hat sich auf den international verbindlichen Menschenrechten zu gründen! Dieser Grundsatz war bis zum 11. September 2001 zumindest in Rechtsstaaten und in internationalen Organisationen Konsens. Der Kampf gegen den „Terrorismus“ hat diesen Konsens aufgekündigt. Sicherheitspolitik wurde und ist das Gebot der Stunde. Und viele, auch westliche Regierungen betrachten und behandeln Menschenrechte als ein Hindernis für Sicherheit. Zweifelsohne ist Sicherheit ein zentrales und unbedingt schützenswertes Gut. Nur: Was ist Sicherheit? Und für wen gilt sie? Wer hier genau hinhört, wie z.B. in der NATO über einen „erweiterten“ Sicherheitsbegriff diskutiert wird, hört nur Altbekanntes. Nach wie vor wird Sicherheit vor allem militärisch staatlich und ökonomisch strategisch gefasst und mit solchen Mitteln angestrebt. Der Irak- Krieg mit all seinen negativen Folgen macht dies deutlich und deshalb ist dieses Denken falsch und gefährlich. Sicherheit und Menschenrechte schließen sich nicht aus, sondern ergänzen und bedingen sich gegenseitig. Ein Sicherheitsbegriff ist erst dann wahrhaft „erweitert“, wenn er sich als menschliche Sicherheit versteht. Nach dem von der UN seit 1994 entwickelten Konzept der menschlichen Sicherheit beginnt diese im Alltag der Menschen und das bedeutet letztlich: Menschen sollen frei von Not und frei von Furcht leben können.

Die globale Gesellschaft

Wenn wir davon ausgehen, dass Gesellschaft das umfassendste System menschlichen Zusammenlebens darstellt, so setzt dieses Zusammenleben potentiell die Beziehung bzw. Vernetzung jedes Menschen mit jedem Menschen voraus. Dies erfordert eine gewisse Dichte des Zusammenlebens, die sich global durch den Anstieg der Weltbevölkerung von 0,5 Mrd. 1500, auf 1,7 Mrd. 1900, auf 6,1 Mrd. 2000 ergeben hat und sich auf 8,9 Mrd. 2050 fortsetzen wird. Menschliches Zusammenleben macht soziale Regeln erforderlich und diese Regeln schafft und implementiert Politik. Die Geschichte lehrt uns, so Paul Kennedy in seinem Buch „Aufstieg und Fall der großen Mächte“: Das internationale System, ob es nun eine Zeitlang von sechs oder nur zwei großen Mächten beherrscht wird, bleibt anarchisch das heißt, es gibt keine größere Autorität als den souveränen egoistischen Nationalstaat. Betrachten wir allerdings die Weltwirtschafts- und Weltfinanzstrukturen im Rahmen des Prozesses der Globalisierung, stellen wir fest: Global agierende Konzerne und Finanzinstitutionen übertreffen längst den Einfluss der Mehrzahl der 185 UNO- Mitglieder und selbst im Verhältnis zu den zwei Supermächten, den USA und China, ist ihr Einfluss beträchtlich. Dagegen liegt eine Alternative bzw. die Handlungsoptionen im globalpolitischen handlungsorientierten Bewusstsein einer globalen Zivilgesellschaft, in globalen Institutionen und einer global organisierten Demokratie.

Auf dem Weg zur Entwicklung einer Weltgesellschaft

Die Entwicklung zur Weltgesellschaft muss Nachhaltigkeit zur Voraussetzung haben. Diese Entwicklung ist dann mehr als der Übergang von arm zu reich, von der agrarischen zu einer industriellen Wirtschaft. Diese Entwicklung umfasst materiellen Reichtum, menschliche Würde, menschliche Sicherheit, Gerechtigkeit und Gleichheit. Vor diesem Hintergrund brauchen wir eine wesentliche Erweiterung unseres herkömmlichen Gerechtigkeitsbegriffs. Dazu gehören: Einbeziehung der Natur, Schutz unserer natürlichen Umwelt, Akzeptanz des kulturellen Pluralismus, Rechtliche Integration kultureller Minderheiten, Einbeziehung zukünftiger Generationen, Garantie einer demokratischen Öffentlichkeit und sichern von rechtlichen und sozialen Bedingungen, die dem Einzelnen heute und zukünftig ein intaktes Leben in einer demokratischen Gesellschaft ermöglichen.

Menschliche Sicherheit betrifft sowohl die Gefährdung der individuellen Sicherheit innerhalb von Staaten, die durch unzureichende Fähigkeiten die Sicherheit ihrer Einwohner nicht garantieren können, als auch im globalen Sinne, was nach dem 11. September zu erhöhter internationaler Aufmerksamkeit führte. In der momentanen Situation ist die Gefährdung der Bewohner in den weniger entwickelten Ländern durch Terrorismus weitaus höher als in den USA oder Europa. Deutlich geworden ist aber auch: Die Welt befindet sich in einem außerordentlich bedrohten Zustand – bedroht sowohl durch Terrorakte, als auch wegen der harten Vergeltungsmaßnahmen. Gleichzeitig wird von bestimmten Stellen, Philosophen, Professoren, Politiker und Medien diese Auseinandersetzung als „Kampf der Kulturen“ gedeutet und dabei die von wenigen Menschen verübten Terrorakte in ein vorgeblich globales Strickmuster eingefügt. Dagegen wird viel zu wenig über die Ursachen von Terrorismus nachgedacht und geredet. Wichtig dabei ist zu erkennen, wie die westlichen Staaten in der Zweiten und Dritten Welt wahrgenommen werden. Handeln sie wirklich im Sinne einer fairen und gerechten Zusammenarbeit und Entwicklung oder wird der Westen nicht vielmehr als ausbeuterisch und heuchlerisch wahrgenommen? Massenarmut in den Ländern des Südens ist nicht einfach Schicksal, sondern eine Konsequenz der gegenwärtigen Ordnung der Welt. Und Krieg zu führen gegen den Terrorismus, wie ihn die USA und andere „willige“ Staaten ausgerufen und glauben führen zu müssen, ist ein Weg in die Sackgasse.

Menschenrechte beinhalten das Recht auf kulturelle Identität. Globalisierung findet statt in einer Welt mit kulturellen Unterschieden. Deshalb ist es verständlich, wenn andere Länder, z.B. islamische Staaten, sich gegen universelle Ansprüche der westlichen Kultur abgrenzen. Weltweit besitzen wir viele unterschiedliche Identitäten, die mit Religion, Sprache, Kultur, Nationalität, aber auch politischer Oberzeugung zu tun haben. Dabei spielt die Religion in weiten Bereichen eine nicht unwichtige Rolle, wobei genau auf dieser Basis religiöser Fundamentalismus sich noch stärker auf Religion konzentriert und mit Hilfe der Religion die Menschen auseinander dividiert. Religion stiftet eben keine alles umspannende Identität und kann sie auch niemals stiften. Von überragender Bedeutung ist doch viel mehr, dass wir die Menschen als jene außerordentlich reichen und vielseitigen Kreaturen anerkennen, die wir nun einmal sind. Deshalb sollte der Zugang zu kultureller Vielfalt im Prozess der Globalisierung als eine Quelle humanen Reichtums akzeptiert werden.

Menschenrecht als Recht auf Bildung. Allein durch Bildung, in welchem Land auch immer, ist soziale Integration möglich. Zweifelsohne besteht ein Zusammenhang zwischen Bildung und Lebenserwartung und Lebensqualität, zwischen der Fähigkeit zu lernen und zu schreiben und der Teilnahme an humanen Möglichkeiten. Noch sind etwa eine Mrd. Menschen Analphabeten. Der niedrige Stand der Entwicklung weiter Teile der Menschheit, wovon insbesondere Frauen betroffen sind, könnte durch eine entschlossene und aufgeklärte Anstrengung überwunden werden. (Bis 2015, so das Ziel der UN, soll die volle Alphabetisierung erreicht sein.)

Weltgesellschaft und Demokratie

Es ist höchste Zeit, effektive demokratische Strukturen globaler Politik zu schaffen. Die Akteure dieser Politik müssen demokratisch legitimierte Repräsentanten der globalisierten Gesellschaften und damit der Weltgesellschaft sein. Demokratie auf globaler Ebene hängt ab von der Leistungsfähigkeit wie der Legitimität der Institutionen. Demokratisierung der globalen Institutionen und damit der globalen Politik setzt eine klare konzeptionelle Entwicklung voraus, nämlich die Entscheidung für ein globalres System repräsentativer, also parlamentarischer Demokratie. Wo immer und in jedem Fall muss das System transparent sein und politische Alternativen möglich machen. Die bis heute existierenden und agierenden Institutionen entsprechen nicht einmal in Ansätzen dieser Vorstellung. Diese werden bestimmt von politischen und ökonomischen Machtinteressen der UN Sicherheitsrat als Instrument der Supermächte und die internationalen Finanzinstitutionen werden dominiert von den G 7, dem zwischenstaatlichen Entscheidungszentrum der globalen Wirtschaftspolitik.

Neue gerechte Weltordnung oder Barbarei – Eine andere Welt ist möglich (Attac)

Ein Blick zurück in unsere europäische Geschichte bis zur heutigen Einigung und dem friedlichen Zusammenleben in Europa zeigt, dass es ein langer und schwieriger Prozess war, der durch Kriege und Zerstörung führte und mit großem Leid und Elend für viele Menschen verbunden war. Und scheinbar ist es die Tragik und das Schicksal der Menschheit, erst über diesen Weg zueinander zu finden. Wichtig in diesem Prozess war aber, dass es immer Menschen und Gruppen gab und gibt, die mit starkem Willen, viel Geduld und letztlich einer überzeugenden Aufklärung diesen Weg verfolgten und nach vielen politischen Auseinandersetzungen das Ziel erreichten. Wenn wir heute über einen weiteren Schritt reden, dem Schritt hin zu einer Weltgesellschaft, so ist das nicht weniger utopisch als vor 50 Jahren die Vision einer Europäischen Union. Allerdings, der Weg zu einer befriedeten Weltgesellschaft wird auf Grund der gegenwärtigen Kräfte und Machtkonstellation genau so verbunden sein mit Krieg und Terror, wie wir das in Europa erleben mussten. Ein Konzept für diesen Weg ist das Dokument der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ und den weiteren in den vergangenen Jahrzehnten durch die UN erlassenen Konventionen. Es gibt keinen anderen Weg für eine Befriedung der Kulturen und der Völkergemeinschaft. Jeder andere Weg führt in die Barbarei.


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