Okt 312004
 

Abschiedsfeier

Von John Arnold

Sonntag nach Himmelfahrt: Lukas Evangelium Kapitel 24, Vers 50.

John Arnold 2004

John Arnold 2004

Er führte sie (aber) hinaus nach Betanien und hob die Hände auf und segnete sie. Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel. 

Für Tony Blair sind die Flitterwochen als Premierminister längst vorbei. Mehr darüber brauche ich heute nicht zu sagen. Ich erinnere mich aber noch auf seinen erstaunlichen Wahlsieg im Jahre 1997, was für uns Briten ein Funke der Hoffnung war, das Ende einer Epoche und der Anfang einer anderen, hoffentlich besseren. Ich wohnte damals in Durham, in der Nähe von seinem Wahlkreis. Sobald das Resultat sicher war, fuhr er zum lokalen Flughafen, stieg in ein Flugzeug ein, fuhr auf in den Himmel und verschwand. Das nächste Mal, als man ihn im Fernsehen sah, saß er in 10, Downing Street, im Hause des Premierministers. Er traf Entscheidungen, verteilte Ministerien und nahm die Zügel der Regierung in die Hand.

Das ist ein Gleichnis von Himmelfahrt. Das Sichtbare, das Spektakuläre, das Denkwürdige ist die Fahrt in den Himmel. Das Wichtige dagegen, das Bedeutsame, die innerliche Bedeutung des äußerlichen Bildes ist die Machtübernahme. Seit Himmelfahrt, so meinen die Evangelisten leninistisch gesagt, ist die Machtfrage entschieden. Nach Matthäus: ‘(Ihm) ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.’ (Mt. 28,19.) Allein die Macht eines gekreuzigten ist etwas ganz anderes als die Macht eines weltlichen Siegers oder Eroberers. In Jesus ist Gottes Reich gekommen, ein Reich des Frieden und der Gerechtigkeit.

Die frühen Christen mussten aber bald begreifen, dass das Ende noch nicht, doch nicht gekommen war, dass die Parousia – das endgültige Kommen des Reiches in seiner Fülle – sich verschoben hatte, und dass sie auf absehbare Zeit in der Welt und in der Geschichte weiter leben würden. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts mussten Marxisten ebenfalls begreifen, dass das endgültige Kommen des Kommunismus und das Verschwinden des Staates sich auf absehbare Zeit, vielleicht auf immer ebenfalls verschoben hatten.

Diese doppelte Mischung von Glaube und Politik, von ‘schon’ und ‘noch nicht’, ist der Hintergrund zu unseren Aufbaulagern und Ostertreffen gewesen. Wir haben eine Menge von der Geschichte der letzten fünfzig Jahre und von einander gelernt. Sicher haben wir verschiedene Konsequenzen daraus gezogen; wir haben verschiedene Meinungen darüber was wir erlebt haben. Eine immer sich wiederholende Erfahrung ist aber uns allen gemeinsam, die Erfahrung des Abschiednehmens.

Wenn ich zurückschaue, habe ich den Eindruck, als ob wir ständig voneinander Abschied genommen haben. Nicht nur für uns, sondern für ein ganzes Volk, eine ganze Generation, war die Erfahrung des Abschiednehmens bestimmend. Ich denke an Bahnhof Zoo, wie die Züge langsam um die Kurve fuhren und die Passagiere einerseits und die Zurückbleibenden andererseits weinten und mit Taschentüchern winkten. Ich denke an Helmstedt und Marienborn, an Checkpoint Charlie und vor allem an den Tränenpalast an der Nordseite von Bahnhof Friedrichstrasse, an so viel Leid, so viel Misere, so viel Verzweiflung

Vor zwei Jahren nach unserem Treffen hier bin ich auf der neuen Friedrichstrasse entlang gegangen. Als ich unter der Eisenbahnbrücke kam, hörte ich Musik, fröhliche, lockere Musik. Es schien aus dem Tränenpalast zu kommen. Ich schaute hinein; und tatsächlich spielten junge Musiker, und eine Tanzgruppe übte für die abendliche Schau. Mir kamen Tränen in die Augen, diesmal Tränen der Freude, und ich dachte an das Wort des Psalmisten: „Du hast mir meine Klage verwandelt in einen Reigen.” Das war auch ein Gleichnis – die Verwandlung des Tränenpalastes in einen Tanzpalast, eines Ortes der Trennung in einen Ort der Begegnung, eine Auferstehung aus dem Reiche der Verzweiflung in das Reich der Hoffnung, aus dem Reich des Todes in das Reich des Lebens.

In den ersten Jahren der Aufbaulager und der Ostertreffen haben wir von Jahr zu Jahr nie gewusst, ob wir einander wieder sehen würden. Das Abschiednehmen ist uns deshalb immer besonders schwer gefallen. Schuld daran waren die Instabilität der politischen Lage in Europa und die Willkürlichkeit des Staates. Trotz allem ist es uns aber gelungen zusammen zu bleiben; wir haben uns durch die verschiedenen Etappen des Lebens begleitet und sind zusammen alt geworden. Jetzt, beim Abschiednehmen, sind wir wieder nicht mehr sicher, ob wir uns wieder sehen werden. Schuld daran ist nicht die Politik, was immer nur ein vorübergehendes Phänomen ist, sondern der Tod, der letzte Feind. In unserem Alter ist das normal, wenn auch nicht akzeptabel. Deshalb ist die Erfahrung des Abschiednehmens von besonderer Bedeutung für uns.

Charakteristisch für das Abschiednehmens Jesu am Ende des Lukas-Evangeliums ist die Tatsache, dass es geschah in dem Er die Jünger segnete. Nicht nur seine Präsenz, sondern auch sein Abschied war ein Segen. Es hätte anders sein können – Rüge, Beschuldigung, Ärger und Zorn. Aber das war nicht sein Stil; und es soll auch nicht unser sein. Die Aufbaulager, die Ostertreffen, das gemeinsame Leben – in allen diesen Sachen sind wir ein Segen füreinander gewesen. Das wollen wir auch beim Abschiednehmen sein.

Amen.