Aug 312006
 

Johannesburg im August 1996

Von Gerhard Rein

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Im schwarzen Township Soshanguve. Fünfundsiebzig Kilometer nordwestlich von Johannesburg. Die Lehrerinnen der Montessori-Schule sind stolz auf ihre Klassenräume aus Betonplatten. Wellblechdächer, was sonst. Im Winter zu kalt, im Sommer zu heiß. Isolieren könnte man sie mit Eierkartons, meint Martin. Wellblech, dann Zeitungspapier, dann die Eierkartons. So müßte es gehen. Hoffmann besorgt sich Papier und Schreibe und zeichnet im Detail auf, wie es geht. Das Nächstliegende ist seine Sache. Das Praktische auch. Manchmal wünscht man sich viele Martins in Afrika.

Er unterscheidet sich freilich erheblich von den schwarzen Freunden. Von der Hautfarbe ist hier nicht die Rede. Martin will (und kann) sich nicht entspannen, sich nicht ins Gras setzen und Bier trinken und dösen. Er will soviel wie möglich sehen, erfahren, wissen. Keine ruhige Minute. Was machen wir am Sonntag?

Wir fahren zu Sophie. Eine junge, resolute, kräftige Frau, Mitte dreißig. Das Township, in dem Sophie lebt, heißt Oukasie. Wir packen morgens den Kofferraum voll mit Bier, Cola und Apfelwein in Büchsen für die Frauen. Gudrun hat Frikadellen und achtzig Hühnerkeulen gebraten. Am Telefon hatte Sophie gesagt: „Wir werden bestimmt mehr als zwanzig sein.“ Das war vor einer Woche. Drei Tage später die Nachricht: „Es werden sechzig.“ Gestern soll von neunzig bis hundertzwanzig die Rede gewesen sein. Auf nach Oukasie. Zwei Stunden Fahrt. Wir verlassen die asphaltierten Straßen der weißen Stadt, die so sauber, ordentlich und leer wirkt, und sind im schwarzen Südafrika. Sandwege und Staub. Auf der geraden Straße muß man Slalom fahren, um tiefen Löchern, Steinbrocken und Hunden auszuweichen. Man muß sich durchfragen, Straßennamen gibt es nicht. Aber Sophie kennt jeder. Wenn etwas schief läuft in Oukasie, die Gewalt wieder ansteigt, politische Ränkespie­le den Bau der neuen Schule verhindern, dann wird nach Sophie gerufen. Natürlich gehört Sophie zum ANC, zum Afrikanischen Nationalkongress, und ist gerade bei den Kommunalwahlen gewählt worden.

Ihr Bruder ist im „struggle“, im Kampf gegen die Apartheid erschossen worden. Zu seinem Grabstein gehen wir, wann immer wir hier sind. Jetzt auch mit Martin. Grabsteine spielen in der afrikanischen Tradition eine erhebliche Rolle. Die Enthüllung eines Grabsteines ist wichtiger als Weihnachten.

Vor Sophies Haus stehen Autowracks und ein gewaltiger Eukalyptusbaum. Darum herum eine kleine Rasenfläche. Daneben der neue Wasserhahn. Nicht im Haus. Das ist sauber und gepflegt, aufgeräumt und ­ liebevoll kitschig ausgestattet.

Unter dem Baum lagern die Freunde und ›comrades‹ von Sophie, ihre Familie, die Nachbarn. Das Sonntagspalaver. Die Mehrzahl der Männer ist schon leicht betrunken. So ist das sonntags bei Sophie unter dem Baum. Das, was wir mitgebracht haben, reicht lange nicht. In der nahen, leeren Stadt kaufen wir Fleisch. Einige Frauen bereiten Papp vor, den aus Maismehl hergestellten festen Brei, ohne den hier eine Mahlzeit keine gediegene Mahlzeit ist. Aus der nahen katholischen Kirche kommt der Jugendchor herüber. Alle noch fein in weißen Blusen und schwarzen Röcken oder Hosen.

Heiter wird unter dem Baum darüber geredet, wer denn nach den ersten Kommunalwahlen im neuen Südafrika Bürgermeister werden soll, wer in den Stadtrat einzieht. Sophie soll als Stadträtin wirken. Eine Frau als Bürgermeister, soweit ist Oukasie noch nicht. Wir trinken und essen. Besteck gibt es nicht. Die Hände voller Papp und Soße. Herrlich. Es wird gesungen und getanzt.

Martin mitten drin. Er gibt sich Mühe, soviel zu verstehen, wie nur möglich. Ich erlebe ihn zunehmend aufgeregt. Hier ist es anders als zu Hause. Hier, in der Armut Oukasies, ist nicht Niedergeschlagenheit, nicht Verdrossenheit. Hier wird nicht gemäkelt. Hier ist nicht Verzweiflung, hier ist Aufbruch. Bevor es dunkel wird, fahren wir wieder. Im Dunkeln ist es nicht lustig. In keinem Township in Südafrika und auch sonst nicht auf den Straßen.

Was ist denn nun der Unterschied zwischen dem politischen Wandlungsprozeß in Südafrika und der Wende in Deutschland? Kein Gespräch ohne diese Frage. Natürlich kann man nicht vergleichen, und doch ertappen wir uns immer wieder dabei.

Erst hier in Südafrika, Martin zieht seine Stirn in Falten, als ich das sage, geht mir auf, welch ein Segen (altmodisches Wort) das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist. Das Wissen eines Geheimdienstes ist damit gebrochen. Er kann keinen wesentlichen Schaden mehr anrichten. Hier hat nach Ende der Apartheid kein Opfer Zugang zu den Akten. In jeder Wochenend-Zeitung machen Ex-Geheimagenten oder noch amtie­rende, wer weiß, Geschäfte und Politik mit Dokumenten und Geschichten und Gerüchten aus dem riesigen weißen Sicherheitsapparat. Sie verbergen sich, kommen nicht raus aus ihrem Dunkel, und verbrei­ten nach wie vor Unsicherheit.

In Südafrika wird anders mit der eigenen jüngsten Vergangenheit umgegangen als in Deutschland. Wie wäre es denn gewesen, wenn die Opfer der DDR-Diktatur zu Worte gekommen, ihre Geschichten öffentlich zu hören gewesen wären? Hätte es danach Sehnsucht nach der guten alten DDR noch geben können? In Deutschland gibt es bisher kein Amnestiegesetz. In Südafrika verknüpft man in einzigartiger Weise eine mögliche Amnestie mit dem Erzählen der Wahrheit. Wer sich im Detail zu seinen Taten bekennt, und diese als politisch eingestuft werden, kann mit einer Amnestie rechnen.

Natürlich sind vor der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission auch Halbwahrheiten zu hören. Aber sie hat ohne Zweifel schon dazu beigetragen, daß gegenseitiger Haß, Vorwürfe, Polarisierungen sich aufzulösen beginnen. In Deutschland und in Südafrika gehen die Emotionen hoch, wenn es um Eigentum geht. Aber ganz anders als in Deutschland, wo die Regelung »Rückgabe vor Entschädigung« die Gräben zwischen Ost und West vertieft hat, mußte hier kein weißer Farmer einen Quadratmeter Boden zurückgeben. Auch wenn darauf früher schwarze Menschen lebten, die von ihrem Land mit Zwang vertrieben wurden. Das Miteinander ist auf Gelingen angelegt, nicht auf Rechtstitel, die das neue Südafrika nur spalten würden. Will die Bundesregierung in Bonn von Südafrika lernen? Der Kanzler weist solche Fragen empört von sich. Beim Frühstück auf der Terrasse liegt der Brötchenkorb auf der gelb-roten Markise. Ihr könnt doch die Sonnenenergie ausnutzen, hatte Martin uns beigebracht. Die Brötchen dampfen.


Quelle: Martin Hoffmann: Reflexe aus Papier und Schatten. Berlin, Gerhard Wolf Januspress 1996
http://www.grafiker-hoffmann.de/Webseite_MH_NEU/Texte/MH_Rein_1996.html


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