Jul 302008
 

Überlegungen zu inter- und transreligiösen Kommunikationsprozessen

Von Klaus A. Baier 

Antrittsvorlesung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg am 2. Juli 2008

Inhalt

Einführung
Bemerkungen zur Religiosität des Menschen
Religiöse Sprachspiele
Exklusivismus, Inklusivismus, Pluralismus
Exklusivismus und Polylog
Anmerkungen
Buchempfehlung
Links

Einführung

Ohne eine planetare Perspektive darf heute niemand mehr Wissenschaft betreiben – so bescheiden und überschaubar im übrigen der Arbeitsbereich, in dem er sich bewegt, auch sein mag. Die Globalisierung hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine faszinierende Dimension erreicht, die – als ich jung war – undenkbar erschien. Das führt das Denken in rein lokalen Kategorien zusehends ad absurdum. Gleichzeitig trifft die globale Integration, das signalisieren internationale Umfragen seit Langem, weltweit auf umso stärkere Abwehr, je intensiver sie voranschreitet. Das hängt mit der ungelösten Gerechtigkeitsfrage zusammen. Solange nämlich die täglich zunehmende bizarre Ungleichverteilung von Einkommen und Kapital[1] nicht umgedreht wird, treibt die Angst vor dem Abstieg und der Mangel an Perspektiven Heilbringern und Radikalen immer mehr Anhänger zu.[2] Harald Schumann und Christiane Grefe sprechen von der Globalisierungsfalle, in die der Prozess der Globalisierung zu geraten droht, wenn die Gerechtigkeitsfrage keine befriedigende Antwort erfährt. Den sich damit stellenden Problemen und Herausforderungen muss man sich auch in Theologie und Religionspädagogik stellen. Denn die seit Mitte des vorigen Jahrhunderts in der ökumenischen Bewegung insbes. von Vertretern des „Ökumenischen Lernens“ benutzte Metapher von der „Einen Welt“ beschreibt keine Utopie mehr, sondern harte Realität.

Und doch enthält die Metapher einen semantischen Überschuss – und damit komme ich zu dem besonderen Beitrag, den m.E. Religionspädagogik und Theologie zu leisten haben: In der Ökumenischen Bewegung redet man von der „Einen Welt“ nicht nur im Blick auf ihre Faktizität, sondern auch im Blick auf die Gerechtigkeitsfrage. In vielen der dem ÖRK angeschlossenen Kirchen wird seit langem darüber diskutiert, wie das Heil, das Gott in Jesus Christus allen Menschen eröffnet hat, mit ihrem Wohl zusammenhängt, und man war und ist davon überzeugt, dass die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, d.h. die Gott zwischen sich und seinen Menschen schafft, etwas zu tun hat mit der Gerechtigkeit, die unter den Menschen gelten soll. Das Heil des Einzelnen hat etwas mit seinem gesellschaftlichen Wohl zu tun, Gottes Gerechtigkeit setzt sich dynamisch in die Welt hinein durch – und in der ökumenischen Bewegung war man – vor allem in Kreisen der sog. Sozialökumene – der Meinung, dass die raison d’être der Kirchen darin bestehe, sich in diese Bewegung Gottes, in diese „Gerechtigkeitsbewegung“, hineinnehmen zu lassen.

Inzwischen hat die Gerechtigkeitsfrage den christlichen Horizont deutlich überschritten. Sie bewegt zahlreiche Organisationen der Zivilgesellschaft, die der ungerechten Verteilung der Weltgüter entgegentreten. Für die uns in dieser Vorlesung bewegende Frage nach dem Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen ist nun bedeutsam, dass ähnlich wie in der ökumenischen Bewegung Repräsentanten aller Religionen die Gerechtigkeitsfrage in den Zusammenhang der Heilsfrage stellen. Es geht ihnen um das Heil der Menschen – und also auch um ihr Wohl; sicher in unterschiedlicher Weise, aber unübersehbar haben alle Weltreligionen heute mit ihrer Antwort auf die Heilsfrage immer auch das Gerechtigkeitsproblem im Blick. Von da aus ergeben sich – wie ich noch zeigen werde – interessante Perspektiven für das Verhältnis der Religionen zueinander.

Ich trage Eulen nach Athen bzw. Tauben in die CvO Universität, wenn ich sage, anders als ökumenisch im Sinne von „auf die ganze Welt bezogen“ bzw. „den globalen Lebenszusammenhang auf das universale Heilshandeln Gottes beziehend“ seien auch Religionspädagogik und Theologie als jene Wissenschaften, die die theologischenund religiösen Implikationen der faktisch hergestellten Globalität in den wissenschaftlichen Diskurs bringen, nicht mehr sinnvoll. Theologie und Religionspädagogik haben vor allem die Aufgabe, auf dem Hintergrund der skizzierten Globalisierungsproblematik die Pluralisierung des Christlichen wahrzunehmen, zu verstehen, zu deuten und daraus Handlungsperspektiven für unseren konkreten Alltag zu ziehen. Aber dabei geraten sie unweigerlich in das globale Gemenge nicht nur unterschiedlicher christlicher Konfessionen und Denominationen, sondern der Religionen überhaupt. Und damit bin ich beim Thema meiner Antrittsvorlesung im Zusammenhang dieser Veranstaltung.

Ich beschäftige mich mit dem Verhältnis der Religionen zueinander – und zwar nicht im abstrakt Raum, sondern im Kontext der drohenden Globalisierungsfalle. Dabei habe ich die Großen Weltreligionen im Blick und lasse z.B. die Stammesreligionen und die vielen lokal begrenzten religiösen Gruppen in aller Welt außen vor. Dabei werde ich in der Frage nach dem Verhältnis der Religionen – probeweise – eine Lanze für einen angemessenen theologischen Exklusivismus brechen, die mit Erwägungen über einige anthropologische Bedingungen von Religion zusammenhängen. Darum befasse ich mich im ersten und zweiten Teil meiner Vorlesung zunächst mit der Frage, welche Bedeutung es hat, wenn der Mensch als ein „betendes Tier“ (Alister Hardy)[3] angesehen wird, ein Wesen also, das sich von allen seinen biologisch gesehen tierischen Verwandten dadurch unterscheidet, dass es betet. In einem dritten Schritt diskutiere ich die Plausibilität der Annahme einer notorischen Differenz. Geschichte, Kultur, Religion und Ethik gibt es nur in Vielfalt, Religionsdifferenzen sind unvermeidlich und die Anerkennung der Differenz die einzige Chance, mit den Herausforderungen der Interreligiosität im Prozess der Globalisierung umzugehen. Zum Schluss erwäge ich, wie inter- und transreligiöse Kommunikationsprozesse so gestaltet werden können, dass sie den Umgang mit religiösen Differenzen in konkreten Situationen ermöglichen und ein clash of religions vermieden werden könnte. 

1. Bemerkungen zur Religiosität des Menschen

Ich rede im folgenden also zunächst über die Religiosität des Menschen, die den institutionalisierten, durch Bekenntnisse und Dogmen geordneten sichtbaren Formen von Religion vorauf liegt, aber auch der von Thomas Luckmann so genannten „unsichtbaren Religion“[4], womit er die aus sozialkonstruktivistischer Sicht erhärtete Tatsache meint, dass wir Menschen beim Hereinwachsen in unsere Lebensumwelt auf Sinnsysteme im allgemeinen und Symbolwelten im besonderen angewiesen sind. Diese vorgegebene Sinntradition erfüllt nach Luckmann „eine elementare religiöse Funktion … Sie lässt sich bestimmen als die grundlegende Sozialform der Religion, eine Sozialform, die in allen menschlichen Gesellschaften zu finden ist“[5]. Darum definiert Luckmann Religion durch einen weiten funktionalen Begriff als das Transzendieren der biologischen Natur des Menschen. In diesem Sinne haben alle Menschen mit unsichtbarer Religion zu tun.

Luckmanns Religionsbegriff ist seht weit gefasst; genau genommen ist das, was er als unsichtbare Religionbezeichnet, die Kultur, und Kultur ist die gesellschaftliche Bewältigung von Transzendenz. Das heißt nicht, dass Kultur Religion wäre. Wohl aber bewahrt Kultur die Erinnerung an fundamentale religiöse Erfahrungen, die in Religionssystemen Gestalt gewinnen können (aber nicht unbedingt müssen). Man kann es vereinfachend so sagen: Kultur enthält Religion in unsichtbarer und sichtbarer Form. Oder anders: Zum „kulturellen Gedächtnis“ (Jan Assmann) gehören sichtbare und unsichtbare Religion. Beide aber dürfen nicht mit Religiosität verwechselt werden, auf die ich im folgenden zunächst abhebe.

Die Religiosität liegt der unsichtbaren und der sichtbaren Religion vorauf und beruht letztendlich auf der Fähigkeit des menschlichen Gehirns, Eindrücke zu speichern, zu verknüpfen, wieder zu aktivieren usw. als einer dem Menschen eigene Möglichkeit, „handlungssinntranszendente“ Erfahrungen (Hermann Lübbe) wie Schmerz, Leid, Ohnmacht, Verlust, aber auch Empfindungen von Glück, Freude, Geborgenheit, Anerkennung und Liebe zu deuten, zu ordnen und in sein Selbstbild zu integrieren, kurz, ein Weltbild zu erstellen. Es ist jedoch nicht unser „Weltbildapparat“ (Erhard Oeser), das materielle individuelle Gehirn selbst, das die Ordnung hervorruft oder produziert. Erst die Kommunikation mit anderen und deren Deutungen gibt den an sich bedeutungslosen neuronalen Aktivierungsmustern Sinn und Inhalt. Das subjektive Weltbild ist auch nicht das Produkt einer Eins-zu-eins-Adaption eines vorhandenen Weltbilds zum eigenen, sondern eine emergente[6], d.h. eine in ihrem Entstehen nicht vorab zu planende oder vorherzusehende Leistung des selbstbewussten, mit anderen kommunizierenden Geistes, durch die er sich ihm begegnende oder vorliegende Deutungen so „anverwandelt“, das Neues entstehen kann. Religiosität ist so gesehen die subjektive, kreativ ausgestaltete Seite von unsichtbarer und/oder sichtbarer Religion. Eine klare Abgrenzung zwischen beiden Formen ist nicht möglich. In Moment ihrer Artikulation ist Religiosität auf sprachliche und symbolische Elemente der unsichtbaren wie der sichtbaren Religion angewiesen, die freilich sehr „eigenwillig“ verwendet werden können. Dabei kann unvorhersehbar Neues entstehen, man denke an Jesu Antithesen: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist … Ich aber sage Euch…“. Kurzum: Der Glaube ist eine individuelle emergente menschliche Hirnleistung. Das bedeutet für unsere Fragestellung: nicht die Religionen, also die Religionssysteme selbst begegnen sich. Begegnen können sich immer nur individuelle Menschen. Das wird uns im letzten Teil meiner Vorlesung weiter beschäftigen.

Damit ist gemeint, dass besondere, herausgehobene Momente der Bewusstwerdung von Erfahrungen des Transzendenten, Heiligen und Numinosen (Rudolf Otto), existentielle Schlüsselerlebnissen, innere Betroffenheit, Erschütterungen, seelische Erregungen (Friedrich Schleiermacher) und Vergleichbares als unhintergehbar, unbedingt und unersetzbar erlebt werden. Zumeist ist damit das Gefühl der Abhängigkeit, des Geschaffenseins, des Sich-Vorfindens verbunden, das Rudolf Otto als „Kreaturgefühl“ bezeichnet. In religionswissenschaftlicher Terminologie haben wir es hier mir Heilserfahrungen zu tun – Erfahrungen der Übereinstimmung von Ich und einem es unbedingt angehenden und umgreifenden Wollen.

Ein Gottesbeweis ist das nicht; über die Existenz Gottes kann weder positiv noch negativ entschieden werden. Ich spreche auch nicht mit Wolfhart Pannenberg von einer „unverlierbaren religiösen Dimension“[7] des Menschen, schon gar nicht mit Paul Althaus und Emil Brunner von den Einschlagtrichtern einer „Uroffenbarung“, die allen Menschen zuteil geworden sei, wohl aber von einer Prädisposition (Rupert Riedl) des Menschen, von einer in der Struktur des menschlichen Daseins gesetzten Möglichkeit zur Erfahrung von Transzendenz, die in einer konkreten Religion mit ihrer Geschichte zur Erscheinung kommen kann – aber eben – „unsichtbar“ – in allerlei anderen geschichtlichen Sinngebungen und Weltbildern auch. Dabei ist folgendes zu beachten: So wie das Ich zum Bewusstsein seiner selbst nur durch die Begegnung und Kommunikation mit einem Du kommen kann, so kann auch das religiöse Ich nur entstehen, wo es zu einer Begegnung kommt, die von ihm als Erfahrungen mit dem Unbedingten wahrgenommen wird. Erfahrungen der Liebe sind z.B. solche Begegnungen, weshalb die johanneische Gleichsetzung von Gott und Liebe dem religiösen Empfinden völlig entspricht. Beide Male geht es um eine unvorhersehbare, emergente, nicht zu erzwingende Begegnung mit unbedingtem Charakter. Um diese Erlebnisse benennen und damit kommunikabel zu machen, bieten das „kulturelle Gedächtnis“ (Jan Assmann) bzw. die „unsichtbare Religion“ (Thomas Luckmann) und institutionalisierte Religionen (u.a. auch die christliche Gemeinde) Gottesnamen (oder andere Bezeichnungen für das Unverfügbare) an, deren Gebrauch in Anbetung und Verehrung als Ermöglichungen ergriffen werden können, mit denen der einzelne seine „Unbedingtheitserfahrungen“ zur Sprache bringt. Auch die „Gottesgeschichten“ bzw. die Geschichten von den Wahrnehmungen Gottes (Offenbarungen), die man sich erzählt, und die Ritualisierungen, die den „Verkehr mit Gott“ regeln, können dazu herangezogen werden. Die dem einzelnen aus dem Reservoir von unsichtbaren und sichtbaren Religionen angebotenen Symbolisierungen (religiöse Sprache, Mythen, Symbole, Bräuche, Vollzüge, der Gottesbegriff selbst usw.) prägen ihrerseits die subjektive „Ordnung“, die Sinnzuschreibung und die ethischen Konsequenzen seiner Erfahrung. In Spiritualität, Glauben und Frömmigkeit kann der Moment der Erfahrung selbst überdauern und wiederum neue Erfahrungen ermöglichen; ja, sehr oft sind sie überhaupt Anlass für religiöse Erfahrungen – z.B. im liturgischen Prozess des Gottesdienst, auf einer Pilgerfahrt, beim Vollzug eines religiösen Ritus, durch die Atmosphäre eines Gebäudes usw. Wie alle Wahrnehmung, so ist auch die religiöse vorstrukturiert durch die erworbenen „Vorstellungsbilder“, die im Gehirn gespeichert sind und die bei jeder neuen Wahrnehmung aktiviert und also bewusst werden. Die neuen werden mit den vorhandenen verglichen und als „bekannt“ oder „vertraut“ verzeichnet; andernfalls werden sie ausselektiert, es sei denn sie sind dermaßen überwältigend, dass sie als „neu“ und „wichtig“ eingestuft werden und den einzelnen zur Veränderung eines vorhandenen Wahrnehmungsmusters motivieren. „Seit ein Gespräch wir sind und hören können voneinander …“ (Hölderlin) – kann Neues uns begegnen! Im religiösen Bereich zum Beispiel spricht man dann von „Bekehrungserlebnissen“, die eine „Umkehr“ des Selbstbildes und eine Veränderung bzw. Erneuerung übernommener Weltbilder bewirken können. Sowohl das eine als auch das andere ist in der Regel mit emotionalen Codierungen verbunden: eine Erfahrung wird unterdrückt oder akzeptiert je nachdem, ob sie z.B. das Gefühl der Geborgenheit verstärkt, Lust verhindert, das Selbstgefühl hebt oder schwächt, also dem individuellen Leben und dem Zusammenleben mit anderen dient. Die Lebensdienlichkeiteiner Religion wird damit zu einem wichtigen Kriterium, ob sie als „wahr“ oder „falsch“ angesehen wird.

Auch wenn die Antworten auf die Frage, was dem Leben dient, sehr unterschiedlich ausfallen und also immer different bleiben werden, wir also damit rechnen müssen, dass kulturelle/religiöse Gewissheiten – also Wissensbestände wie Relevanzen, Werte, Normen und vieles mehr – zerbrechlich sind und fremd bleiben müssen, so ist das Kriterium der Lebensdienlichkeit doch hilfreich. Vorab definiere ich sie als die einem Religionssystem von ihren Anhängern und Repräsentanten zugeschriebene Ermöglichung des theoretischen und praktischen Umgangs mit religiöser Differenzen und Fremdheit, die durch Partizipation erworben werden muss. Lebensdienlich ist daher ein Handlungswissen, das bis zu einem gewissen Grad immer unsicher, vage, polyvalent und „unscharf“ bleibt, um situativ flexibel einsetzbar zu sein. 

2. Religiöse Sprachspiele

Man hat gelegentlich Religiosität mit der allgemein menschlichen Disposition zur Sprachfähigkeit oder mit einer musikalischen Veranlagung verglichen bzw. gleichgestellt: wie sie ist auch die Religiosität darauf angewiesen, gefördert, geformt, eingeübt, gestaltet und praktiziert, kurz: gebildet zu werden. Wie sie ist Religiosität theoretisch schwer fassbar und zugänglich nur über praktische Beteiligung. Sie ist wie Sprache – um nicht stumm zu bleiben – oder wie Kunst – um Gestalt zu werden – auf Bildung durch Kommunikation angewiesen: ohne, dass jemand mit mir spricht, lerne ich nicht sprechen und ohne, dass ich gelernt habe, Gestalt wahrzunehmen, kann ich nicht gestalten, was mir widerfahren ist. In je nach Kontext unterschiedlichen Lern- und Bildungsprozessen kann die individuelle Religiosität in unterschiedlichen Religionen (oder besser: in Elementen einer Religion) ihre konkrete Gestalt finden, die ihrerseits wiederum religiöse Erfahrungen kontextuell einfärbt. Einfacher gesagt: als Hindu erfährt einer das Heil im Kontext des Hinduismus bzw. innerhalb einer bestimmten Gestalt des Hinduismus, als Moslem im Kontext der islamischen Gemeinschaft, in die er zufällig geboren worden ist bzw. zu der er sich bekehrt hat, als Christ erfährt jemand das Heil als Katholik, Protestant, Angehöriger der Pfingstbewegung usw. Man kann sagen: Religion ist die „Sprache“, in der die religiöse Begegnung mit dem Heiligen – mag diese heilige Wirklichkeit nun als Macht, als Mächte (Geister, Dämonen, Engel), als (personaler) Gott, (a-personales) Göttliches oder irgendeine letzte Wirklichkeit (Nirvana) verstanden werden – sichtbare Gestalt gewonnen hat. Für den, der sich einer Religion zugehörig weiß, ist sie die sich „in einer bestimmten Tradition und Gemeinschaft lebendig vollziehende (…) sozial-individuell realisierte Beziehung zu etwas, was den Menschen und seine Welt übersteigt oder umgreift“[8]. Eine Religion als Sprache des religiösen Menschen ist deswegen immer Heilsbotschaft und Heilsweg zugleich. Für die Gläubigen ist sie der ihr Wahrnehmen, Deuten und Handeln umgebender, gemeinsam geteilter Sinnhorizont, der nicht nur in allen ihren Lebensäußerungen allgegenwärtig ist, sondern von dem sie annehmen, dass er für alle Menschen das Heil repräsentiert und damit das Geordnete und Sinnhafte vom bloß Zufälligen und Sinnlosen abgrenzt.[9]

Sprache kann man mit Martin Heidegger als „Haus des Seins“ bezeichnet[10], d.h. die Art und Weise, wie sich Menschen das Sein „anwest“, wie sie die sie bestimmende transzendente Wirklichkeit, aber auch Welt erfahren, ist immer durch ihre Sprache beeinflusst. Es gibt keine „reinen“ Sinneserfahrungen, die nicht durch sprachliches Denken „getrübt“ sind. Ebenso gibt es keine eindeutige Bedeutung, denn Sprache ist immer mehrdeutig. Zwar sind alle Menschen prinzipiell in der Lage, miteinander zu kommunizieren und sich dabei zu verstehen. Aber es ist „keine Form menschlicher Vergesellschaftung vorstellbar, in der nicht früher oder später auf massivere oder sanftere Weise erfahrbar würde, dass dem verstehen von Anderen Grenzen gesetzt sind“. Der „Faden der Intersubjektivität“ ist fragil.[11] Das hängt damit zusammen, dass das Denken und die Sprache Ordnungsmittel des Geistes sind, um die Welt nach Maßgabe der eigenen Spielregeln zu erklären: wer unterschiedliche Dinge wahrnimmt, der erlebt auch anders; und wer anders denkt, der benutzt auch eine andere Sprache. Was unter verschiedenen Individuen zu unterschiedlichen Denk- und Sprechweisen führt, unterscheidet Menschen voneinander. Die Mehrdeutigkeit der Sprache macht das Gespräch notwendig, wodurch das dabei „Angesprochene“ in „einzigartiger Strenge“ zu Wort kommen kann. So kann aus Unterschieden neue Identität erwachsen.

Ähnlich ist es mit der religiösen Erfahrung und ihrer Sprachgestalt. Die wechselseitige Durchdringung von religiöser Erfahrung und ihrer sprachlichen Gestalt in einem konkreten sozialen Kontext führt zu ganz unterschiedlichen religiösen Sprachspielen. So wie meine Weltwahrnehmung geprägt ist durch die Wörter meiner Sprache, so meine Heilserfahrung durch die Sprache meiner Religion. Und so wie die Grenzen der Sprache die Grenzen unsrer Welt sind, so die Grenze der Sprache der jeweiligen Religion die Grenze der jeweiligen religiösen Heilserfahrung. Sie bleibt auch dann eine religiöse Erfahrung, eine Erfahrung also, die mich unbedingt an eine transzendente Macht verweist, welchen Namen sie auch immer tragen mag. Sie verweist mich aber nicht nur an sie, sondern sie gibt meinem Leben einen Ort in der Welt und einen Sinn, also eine Perspektive, von der ich mich in meinem Denken und Handeln leiten lasse. Auch diese Perspektive ist durch die Sprache der Religion geprägt, der ich zufällig oder willentlich angehöre.

Wenn Erfahrungen des Heils und das mit ihnen einhergehende Gefühl einer unendlichen Abhängigkeit meines Seins von einer transzendenten Macht – nota bene: einer mein ganzen Leben konstituierenden Heilserfahrung! – in einer konkreten Religion ihre Gestalt finden, wird die Zugehörigkeit zu ihr notwendig. Zumal dann, wenn meine jeweilige Religion durch die Konfrontation mit einer anderen Religion in Frage gestellt wird. Für einen religiösen Menschen ist das keine theoretische Frage allein, sie ist vielmehr von existentieller Bedeutung. Die existentielle Brisanz wird einem dann besonders deutlich, wenn wir uns daran erinnern, dass mit der Antwort auf die Heilsfrage auch die Frage geklärt ist, welche Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, in einem Staat oder einer Gemeinschaft gelten soll; wer das Heil infrage stellt, stellt damit das Wohl aufs Spiel. Und wer das Wohl und also die Gerechtigkeit gefährdet, ist ein Feind auch jener transzendenten Instanz/Macht/Gottheit, die das Heil bewirkt. Weil z.B. manche Muslime Heil und Gerechtigkeit durch den Einfluss des mit dem Christentum identifizierten „Westen“ gefährdet sehen, scheuen sie auch vor Gewalt als einem in ihren Augen legitimen Mittel der Selbstverteidigung nicht zurück. Aber religiöse Extremisten gibt es heute zunehmend auch in jüdischer und christlicher Couleur. Protestantische Erweckungsfundamentalisten, vor allem in den USA, und katholische Charismatiker träumen von einer Re-Christianisierung der Welt. Auch wenn man ihnen Terroranschläge nicht zutraut, eint sie mit den islamistischen Fundamentalisten die Überzeugung, dass das säkulare Gemeinwesen westlicher Prägung ohne Wertegrundlage zur Verwüstung des Geistes führe und dringend wieder auf eine sakrale Grundlage gestellt werden müsse.

In diesem anthropologisch-soziologisch-psychologischen Zusammenhang macht es m.E. Sinn, wenn ich mit Ihnen jetzt die Frage diskutiere, wie sich unterschiedliche Sprachspiele (resp. Sprachgestalten) konkreter individueller Heilserfahrungen im Zusammenhang der globalen Gerechtigkeitsproblematik verhalten sollten: exklusiv, inklusiv, pluralistisch – oder vielleicht in ganz anderer Weise, die ich hier erst einmal noch sehr vage als poly-logischbezeichnen will – (damit Sie etwas haben, worauf Sie in dieser Vorlesung noch lauern können). 

3. Exklusivismus, Inklusivismus, Pluralismus

In seinem Beitrag zum Buch „Nach Gott im Leben fragen“, das Sie an diesem Ort schon des öfteren zur Klärung einer ökumenisch orientierten Theologie und Religionspädagogik herangezogen haben, fragt Uwe Swarat, ob alle in den Religionen der Welt anzutreffende und häufig sehr beeindruckende Frömmigkeit wirklich auf dem Irrweg sei und das Heil verfehle, „nur weil der Glaube an Jesus als den Sohn Gottes und Herrn fehlt“.[12] Muss man wirklich behaupten, dass alle, die nicht an Jesus glauben, verloren gehen?

Eine solche Frage stellt sich heute aber nicht mehr nur den Christen, für die Jesus Christus das Heil der Welt ist. Auch in anderen Religionen sieht man sich im Kontext der Globalisierung zunehmend vor das Problem gestellt, wie man sich zu anderen Heilserfahrungen und ihren Sprachgestalten verhalten soll, und welche Gerechtigkeit gilt. In unterschiedlicher Weise ist auch für die Angehörigen anderer Religion die Heilsfrage ja ein für alle Mal beantwortet, egal, was wir Christen davon halten. Auch für sie steht die Lebensdienlichkeit der Gestalt ihrer Religion fest, man erwartet also, dass sie gerechte Lebensverhältnisse schafft und so dem Wohl der Gläubigen dient. Andernfalls fragt man auch dort, ob die jeweilige institutionelle Form und ethische Haltung der Heilserfahrung angemessen entspricht, auf die man sich beruft. Auch ein Religionswechsel ist wie für Christen auch für sie immer möglich, wenn jemandem die eigene Heilserfahrung bzw. die Lebensdienlichkeit der institutionellen Repräsentation fraglich geworden ist.

In der christlichen Theologie des 20. Jahrhunderts werden drei Modelle der Verhältnisbestimmung diskutiert: Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus. Ich skizziere im folgenden kurz die Stärken und Schwächen der jeweiligen Position, ohne auf ihre Vertreter näher einzugehen.

3.1

Mit Exklusivismus wird die Überzeugung bezeichnet, dass es nur einen Weg zu Gott gibt und dass dieser Weg im Glauben an das Evangelium von Jesus Christus besteht, das durch die christliche Kirche verkündigt wird. Dies ist die herkömmliche Position, wobei im christlichen Horizont die evangelische Theologie gewöhnlich stärker den Glauben an das Evangelium, die katholische eher die Zugehörigkeit zur Kirche betont hat. Beide aber sehen die Heilschancen für Angehörige anderer Religionen nur in einer Bekehrung zum christlichen Gott gewährleistet. Auch wenn man heutzutage weniger streng ist und wie die römisch-katholische Kirche seit dem Vaticanum II den nichtchristlichen Religionen eine unterschiedliche Nähe oder Ferne zu den Heilsmitteln der Kirche zugesteht, oder wie mancher evangelische Theologen bereit ist, den Wahrheitsgehalt anderer Religionen anzuerkennen, so betont man doch, dass der erst mit der Bekehrung zu Christus seine Erfüllung finde bzw. erst die Mitgliedschaft in der allein selig machen Kirche die volle Teilhabe am Heil gewährleiste.

Der Exklusivismus in anderen Religionen weist ähnliche Positionen auf: so betonen im Islam Sunniten und Schiiten die Treue zum Brauch des Propheten (zur Sunna) bzw. zur schiitischen Gemeinde (Schia = Partei sc. Alis), die Sufi-Bruderschaft eher die mystische Erfahrung. Im Hinduismus gilt den einen die enge Bindung an die Kaste als angemessene Ausprägung religiöser Erfahrung, den anderen ist das Bemühen um Erleuchtung wichtiger. Aber auch hier gilt: Ein überzeugter Hindu sieht im Christentum einen problematischen Versuch, vom Rad der Wiedergeburten erlöst zu werden, ein strenger Muslim bezeichnet es als „Feind“, der im Dschihad besiegt werden muss. (Aber auch da gibt es eine gewisse Bandbreite von friedfertiger Überzeugungsarbeit durch ein vorbildhaftes Leben bis zum mit Waffen durchgeführten Kampf.)

Macht man sich deutlich, dass Heilserfahrungen für den Einzelnen von existentieller und für eine Gesellschaft von konstitutiver Bedeutung sein können, erscheint der Exklusivismus als rational und sinnvoll. Denn wenn die gesellschaftliche Kohärenz als mit der Religion aufs engste verbunden angesehen wird, wird man sie dadurch zu schützen suchen, dass man die eigene Religion zentral stellt und gegen andere abgrenzt. Aber auch wenn man den gesellschaftlichen Aspekt nicht betont, macht der Exklusivismus Sinn, weil er die geschichtliche Vermittlung der je eigenen religiösen Transzendenzerfahrung ernst nimmt und die Hoffnung stärkt, in je meiner Religion die befreiende Heilserfahrung wieder zu machen, wie ich oder andere sie dort schon einmal gemacht haben. Das ist z.B. ein Grund dafür, dass Leute immer wieder in die Gottesdienste ihrer Kirchen gehen bzw. an bestimmten Riten ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaften teilnehmen.

Ich sage daher: der Exklusivismus ist ein Ausdruck der Treue zur eigenen geschichtlichen Vermittlung des Heils und der Hoffnung seiner aktuellen Bestätigung bzw. Wiederholung. Als solcher ist er notwendig und nicht nur zufällig. Ihn überwinden zu wollen, kommt dem Versuch gleich, dass Wasser zu reinigen, indem man den Wasserstoff vom Sauerstoff trennt.

Stellt sich die Frage, wie der Exklusivismus hier und der Exklusivismus dort sich zueinander verhalten können. Solange sich Religionen wie und warum auch immer aus dem Weg gehen konnten, war ein schiedlich-friedliches Nebeneinander möglich; im Prozess der Globalisierung ist das anders. Hier setzen die geostrategischen und geopolitischen Überlegungen Samuel P. Huntingtons in seinem Buch „Clash of Civilizations“ an, der zu der pessimistischen Überzeugung kommt, dass an den Rändern der unterschiedlichen durch Religionen geprägten Kulturen auf unabsehbare Zukunft hin mit Gewaltausbrüchen und kriegerischen Auseinandersetzungen zu rechnen sei.[13] Eine trübseligen Perspektive. Aber auch die allein mögliche? Ich komme darauf zurück.

3.2

Im Unterschied zum Exklusivismus besteht der Grundgedanke des Inklusivismus darin, die je eigene Heilserfahrung so zu interpretieren, dass sie nicht nur als universal gültig, sondern auch als universal bereits wirksam, nämlich auch in den Anhängern anderer Religionen und Weltanschauungen wirksam verstanden werden kann. Bekanntester Vertreter dieser Position ist der katholische Theologen Karl Rahner. Er nimmt eine Gestalt der göttlichen Gnade an, die auch dort wirksam ist, wo von Jesus Christus noch nichts gewusst wird. Eine solche universale Wirksamkeit der Gnade sei dort anzunehmen, wo ein Mensch, der ja seinem Wesen nach unbegrenzt für die Transzendenz offen ist, sich selbst wirklich ganz als solches Wesen annimmt. Nach der oben referierten  Definition Luckmanns wäre er also als „religiös“ zu bezeichnen. Weil aber der Mensch als gesellschaftliches Wesen die Gnade immer in der konkreten geschichtlichen Gemeinschaft erfährt, der er zufällig angehört, sind auch die geschichtlichen Religionen Ausdruck des Gnadenangebots Gottes. Man könne daher jene Menschen als „anonyme Christen“ beizeichnen, die dieser Gnade teilhaftig werden. Allerdings mache erst die Verkündigung Jesu Christi das bisher unbewusste Christentum bewusst und lässt aus dem anonymen einen bekennenden Christen werden.

Eine ähnlich Position vertritt der reformierte Theologe Karl Barth in der Spätphase seiner Theologie. Er nimmt an, dass alle Menschen Anteil an dem in Christus verwirklichten Heil haben – ob sie das nun wissen oder nicht. Jesus Christus hat im Kreuz für sich die Verwerfung gewählt und so alle „verworfenen“ Menschen zur Seligkeit „erwählt“. Alle Menschen sind erwählt und können daher nicht in Ewigkeit verworfen werden. Die Aufgabe der Kirche sei es, das aller Welt kundzutun, um das Nichtwissen in der Welt zu überwinden. Gemeinde und Welt unterscheiden sich wie die „aktiven“ Christen hier und die „virtuellen und prospektiven“ Christen dort. Es gibt zwischen ihnen nur einen noetischen, aber keinen ontischen Unterschied.Ähnlich inklusivistisch argumentieren Vertreter anderer Religionen, wenn sie etwa – wie im Reformhinduismus – Jesus und Mohammed auf Grund ihrer göttlichen Ergriffenheit zu Avataras (Erscheinungsweisen) Vishnus erklären oder – wie im Islam üblich – Jesus zu einem vorlaufenden Propheten Mohammeds; und daraufhin – im Reformhinduismus – betonen, man könne auch als Christ in der Meditation der Erleuchtung (Samadhi) teilhaftig werden, und – als Muslim – die Christen als „Anhänger des Buches“ respektieren und ihnen im islamischen Umfeld eine ihre – wenn auch untergeordnete – gesellschaftliche Stellung sichernde Position einräumen.

So sympathisch der Inklusivismus aufgeklärten Christen in einer westlichen Gesellschaft – zu denen ich mich gerne rechne – auch sein mag, sein prekäres Defizit liegt darin, dass er die Heilserfahrungen der anderen immer auf seine eigene bezieht und sie damit de facto an deren Rand bzw. in deren Schatten rückt – was aber bedeutet, dass er sie letztlich nicht ernst nimmt, und damit ihre Bedeutung, die sie für den anderen hat, gar nicht wahrzunehmen bereit ist. Die relativ größeren Heilschancen sieht man denn doch immer noch in der je eigenen Religion.

Zudem eignet dem Inklusivismus ein ungeschichtlicher Zug, was besonders bei Barth zutage tritt, für den über das Heil des Menschen ja immer schon durch Christi Heilstat entschieden ist. Was ist aber mit denen, die trotz der Verkündigung des Evangeliums im „entsetzlichen Nichtwissen“ (Barth) verweilen und also auch zukünftig ihrer herkömmlichen Heilserfahrung mehr trauen als der christlichen? Für Barth sind sie wie die Juden verworfene Erwählte, die in der Geschichte als Zeugen des Gerichts Gottes über alle Religionen angesehen werden müssen. Aber wie soll man sich im konkreten Miteinander zueinander verhalten, wenn man im anderen bestenfalls einen „verworfenen Erwählten“ zu sehen in der Lage ist? Hier entstehen neue Aporien, die im Prozess der Globalisierung gefährliche Folgen für das Miteinander haben können.

3.3

Darum wählt der Pluralismus einen grundsätzlich anderen Ansatz, indem er nicht mehr voraussetzt, dass allein durch Jesus Christus ein Zugang zum göttlichen Heil zu bekommen ist. Vielmehr gebe es neben Christus noch andere, grundsätzlich gleichberechtigte Wege zu Gott. Der bekannteste Vertreter ist der Presbyterianer John Hick (geb. 1922). Er hat diese Denkschule 1973 begründet. Er selbst hat seinen Ansatz als „kopernikanische Wende“ bezeichnet: Nicht die eigene Religion ist das Zentrum, um das sich das „Universum der Glaubensweisen“ dreht, sondern Gott ist es. Deswegen will er als Christ eine theozentrische, für andere Religionen nicht normative Christologie vertreten. Er versteht den Glauben an Jesu Menschwerdung als mythischen, heute unangemessenen Ausdruck für die Ursprungserfahrung, die Menschen damals mit Jesus gemacht haben – dass sie nämlich von der Kraft seines Gottesbewusstseins zur Hingabe an Gott bewegt wurden. Der bleibende Kern des Mythos sei die Erkenntnis, dass Jesus „unser völlig ausreichendes Modell wahrer Menschlichkeit in vollkommener Verbindung mit Gott“ ist. Etwas flapsig formuliert: Jesus ist das Model Gottes, nicht Gott selbst, sondern in seiner Erscheinung für uns Christen die idealtypische Verwirklichung „wahrer Menschlichkeit in Verbindung mit Gott“. Da wir davon ausgehen müssten, sagt Hick, dass Gott alle Menschen gleichermaßen liebt, falle mit dem Gedanken der Inkarnation auch die Vorstellung hin, es gebe nur einen Weg zu Heil. Auf die Frage, warum denn im Neuen Testament allein Jesus als Heilsbringer bezeichnet wird und wir als Christen daran gebunden sind, antwortet der nordamerikanische Katholik Paul F. Knitter (geb. 1928), auch ein Vertreter der Pluralistischen Religionstheorie, man dürfe das nicht als objektive Aussage verstehen, sondern als „Bekenntnissprache“ oder „Liebessprache“, die ebensoviel Recht habe, wie wenn eine Ehemann zu seiner Frau sagt: „Du bist die schönste Frau der Welt.“

Als Hick seine Theorie vorstellte, fand ich sie theologisch sympathisch und habe sie in meinen Lehrveranstaltungen auch immer gerne als Beispiel christlicher Toleranz und Friedfertigkeit vorgetragen – musste dann allerdings im Prozess des interkulturellen Dialogs bald erkennen, dass er wenig hilfreich ist. Vertreter anderer Religionen nahmen ihn nämlich kopfschüttelnd zur Kenntnis, weil sie der „Vogelperspektive“, die einzunehmen notwendig ist, um die Gleichwertigkeit aller Religionen anzunehmen, als eine Variante westlichen Dominanzgebarens misstrauen. In der Tat stimmt sie mit keiner der empirischen Religionen überein, sondern fühlt sich ihnen allen überlegen. Der Fremde wird hier auf sublime Weise gerade nicht in seiner Fremdheit (Alienität) angenommen, sondern an eine ihm fremde Theorie angepasst. Auch das historisch gewachsene Christentum könnte sich in ein solches pluralistisches Universum eingliedern, wenn es den Inkarnationsgedanken aufgäbe und ihn als kulturbedingte Einkleidung der besonderen religiösen Kraft des Menschen Jesus „entmythologisierte“. Das wäre dann kein Christentum mehr, sondern eine Hybridreligion eigener Art. Man kann darüber diskutieren, ob sie angestrebt werden sollte und ob sie lebensfähig wäre.

Wie die inklusivistische ist auch die pluralistische Religionstheorie als argumentatio ad intra zu verstehen, d.h. als Versuch, vom Religionspluralismus verunsicherten Christen zu zeigen, wie man das Heil, das uns in Jesu Namen zugesprochen wird, mit der Erfahrung verknüpfen kann, dass auch andere für sich bezeugen, das Heil durch die von ihnen verehrte Gottheit bzw. durch eine besondere Gotteserfahrung empfangen zu haben. Immer aber – und das ist nicht verwunderlich – bleibt auch hier der Exklusivismus die maßgebliche Instanz, was sich allein darin zeigt, dass man vom anderen als einem anonymen Christen spricht oder davon, dass Gott alle Menschen gleichermaßen liebt, ein im Kontext des christlichen Glaubens plausibler Satz, der aber z.B. Vertretern einer traditionellen Stammesreligion schon nicht mehr einsichtig ist, und auch bei Vertretern der sog. Großen Weltreligionen erst gedacht wurde, als sie sich mit der christlichen Botschaft von „Gottes Liebe“ auseinandersetzen mussten.

Bleibt also der Exklusivismus als die plausibelste Form der Verhältnisbestimmung im Kontext des religiösen Pluralismus? Ja. Denn er trägt – wie ich vorhin bereits sagte – der Treue zur eigenen geschichtlichen Vermittlung des Heils und der Hoffnung seiner aktuellen Bestätigung bzw. Wiederholung Rechnung trägt. Ohne diese Treue keine Religion, ohne Religion hätte die Treue keine Gestalt und es gäbe nichts, woran sie identifizierbar und wodurch sie kommunikabel wäre. Was bleibt, ist die Option, die bezeugten Heilserfahrungen Angehöriger anderer Religionen als solche gelten zu lassen – sie also wahrzunehmen als das, was sie sind: Bezeugung einer Heilserfahrung und Bekenntnis zu der Macht, auf die man sie zurückführt. Jedenfalls kommen wir in der Frage des Heils im Gespräch mit den anderen Religionen nicht weiter, wenn wir ihnen nicht zugeben, dass sie ihre Erfahrungen haben und wir dieunseren, und dass wir hinsichtlich der Heilserfahrung Fremde sind. Und da es hinsichtlich des Heils um fundamentale religiöse Erfahrungen geht, könnte man sogar sagen: „maximal Fremde“ (Michael Schetsche[14]). Das gilt selbst dann, wenn wir uns im interreligiösen Dialog redlich bemühen, die andere Religion wahrzunehmen und die in ihren Glaubenssätzen und institutionellen Verfassungen sich spiegelnden Heilserfahrungen zu verstehen und auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen (der Andere wird durch Zuschreibung von Ähnlichkeit „wie ich“) zu interpretieren. Anders als beispielsweise eine interkulturellen Philosophie, die das Prinzip ihrer eigenen Kritik und der Kritik ihrer Vorurteile anwendet und also ihre eigenen Fundamente infrage stellen kann, ist – wie gesagt – Religion immer Heilsbotschaft und Heilsweg zugleich; und mit dem Heil ist das so eine Sache: wenn ich es infrage stelle, habe ich es schon verloren.

Also „leben und leben lassen“? – Das ist immer noch besser als draufhauen – reicht aber – wie am Tage ist – für das sich zunehmend verkomplizierende Zusammenleben in der Einen Welt nicht aus. Und nun? Stecken wir im Blick auf den interreligiösen Dialog in einer unüberwindlichen Differenz? Ja. Gibt es keine Möglichkeit des Entrinnens aus der gegenseitigen Differenzerfahrung? Nein. Aber machen wir das beste draus! Und das will ich jetzt ansatzweise einmal versuchen.

Ich gehe im folgenden davon aus, dass einander fremde Religionssysteme gerade in der Erfahrung der Fremdheit unverzichtbar aneinander gekoppelt, also energetisch zueinander offen sind, dass sie sich irritieren und zu selbstreferentiellen Operationen veranlassen können. Was wir hier beobachten können, nennt Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie die „paradoxe Gleichzeitigkeit einer Enttäuschung“ und spricht von einer „doppelten Kontingenz“. Er schreibt: „Ego erfährt Alter als alter Ego. Er erfährt mit der Nichtidentität der Perspektiven zugleich die Identität dieser Erfahrung auf beiden Seiten. Für beide ist die Situation dadurch unbestimmbar, instabil, unerträglich. In dieser Erfahrung konvergieren die Perspektiven, und das ermöglicht es, ein Interesse an der Negation dieser Negativität … zu unterstellen“[15]. Auf das Interesse an der Negation der Negativität kommt es mir jetzt mehr an als es Luhmann wohl wichtig gewesen ist: während seine These von der unüberwindlichen Fremdheit (Alienität) darauf hinauszulaufen scheint, dass es notorisch bei einer prinzipiellen, sozusagen ontologischen Differenz des Anderen bleibt, gehe ich davon aus, dass die Differenzen nicht zuvörderst Differenzen der Religionen sind, sondern Differenzen in der Art, wie mit anderen Religionen umgegangen wird. Luhmann selbst spricht von „Systembildungsmöglichkeiten im Wartestand“[16], die sich auf der Schwelle der Systeme auftun, wenn sich im Gespräch und im Handeln (beides gehört zusammen) „emergent“ neue und nun gemeinsam eingenommene Perspektiven auftun. Damit komme ich zum abschließenden Teil meiner Vorlesung und diskutiere jetzt das Verhältnis von Exklusivismus und Polylog. 

4. Exklusivismus und Polylog

Wenn Anhänger einer Religion die anderer Religionen wirklich ernst nehmen, werden sie die Heilserfahrung der Anderen achten und sich dafür einsetzen, dass die Religion, in der sie Gestalt gewonnen hat, in Gesellschaft und Staat respektiert wird. Den Zwang zur Assimilation des Anderen an das Eigene werden sie ablehnen, aber sie werden im konkreten Zusammenleben nicht um die Frage herumkommen, ob die Religion, in der die jeweilige Heilserfahrung Gestalt gewonnen hat, dem Heil entspricht, von dem sie ja bezeugen, es gelte allen. Also: Korrespondiert die sichtbare Religion so mit der religiösen Heilserfahrung, dass die mit ihr verbundene Vision von der Gerechtigkeit das Wohl aller im Blick hat? Ist die konkrete Religion lebensdienlich und also gerecht, oder verhindert sie womöglich das Wohl aller?

Wenn man im interreligiösen Dialog die Gerechtigkeitsfrage stellt, nimmt man den Anspruch der Großen Religionen, eine Heilsbotschaft und ein Heilsweg für alle zu sein, beim Wort und diskutiert ihn auf dem Hintergrund der Frage, wie die Gerechtigkeit im Zusammenleben in der Einen Welt konkret verwirklicht wird. Es geht nicht darum, dem anderen die Erfahrung des Heils abzusprechen; vielmehr darum, ihn und sich selbst auch und gerade da ernst zu nehmen, wo es darum geht, ob und wie die mit dem Heil verbundene Gerechtigkeit Gestalt annimmt. Anders gesagt: Religion hat mit der Beziehung des Menschen zu Gott / zum Göttlichen zu tun. Aber Religion ist nicht selbst etwas Göttliches, sondern etwas durch und durch Menschliches. Sie trägt darum auch die Kennzeichen der Perversion des Heils, das manchmal gerade unter der Verkleidung der erhabensten und edelsten Lebensäußerungen daherkommt. Religion kann sich – so gut wie jede andere Äußerung der menschlichen Kultur – vermischen mit Irrtum, Überheblichkeit und Ungerechtigkeit. „Perversio optimi quae est pessima“, ist eine alte theologische Einsicht, an die mein Freund und Lehrer Ivan Illich vehement erinnert hat: wenn das Heil, also das Beste, was einem Menschen widerfahren kann, verdorben wird, so ist es das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Darum ist der kritische und der selbstkritische Umgang mit Religion eine unaufgebbare Forderung – nicht mit dem Ziel, die jeweilige Heilserfahrung als „falsch“ zu entlarven, wohl aber zu überprüfen, ob die konkrete Religion dem verkündigten Heil womöglich im Wege steht. Es geht also im Religionsgespräch nicht um die Infragestellung der Heilserfahrung der anderen, nicht darum, sie (inklusivistisch) zu vereinnahmen oder (pluralistisch) an einem ihnen fremden Prinzip zu messen, sondern darum, sie beim Wort zu nehmen. Wenn das Heil, das sie bezeugen, aller Welt gilt, dann müssen sie auch das Wohl aller im Blick haben. Da die Vorstellung des Wohls an die Heilserfahrung geknüpft ist, die Artikulation des erfahrenen Heils aber immer an die jeweilige Sprache gebunden und also vieldeutig bleibt, kann auch nicht mit letzter Gewissheit gesagt werden, wie das Wohl beschaffen sein soll, und wie die Gerechtigkeit letztgültig erlangt wird. So ist – um ein Beispiel zu nennen – die Scharia ebenso wenig die letztgültige Ordnung der Welt wie das westliche Gesellschaftsmodell (oder irgend ein anderes). Es geht aber um mehr als die kritische Selbstanalyse der jeweiligen Religion.

Könnte es nicht sein, dass das von allen bezeugte und immer wieder erwartete Heil sich in einem Miteinandersprechen als das sich uns Zusprechende neu ankündigt? Denn wenn stimmt, was ich oben über die Prädisposition zur religiösen Erfahrung sagte und betonte, dass das religiöse Ich nur entstehen kann, wenn es zu einer Begegnung kommt, die von ihm als Erfahrungen mit dem Unbedingten wahrgenommen wird, so könnte doch im Gespräch unterschiedlicher Partner eine neue Heilserfahrung gemacht werden, die dann beide verbindet. Darum sage ich: Wenn das Heil, das in der Sprachgestalt einer jeglichen Religion „wohnt“, im Miteinandersprechen zur Sprache kommt, kann es zu einer emergenten neuen Heilserfahrung der Gesprächspartner kommen, die ihre einmal gemachten Heilserfahrungen nicht suspendiert, wohl aber integriert. Das ist jedenfalls die Hoffnung derer, die zum interreligiösen Dialog bereit sind. Es darf als empirisch gesichert gelten, dass die Hoffnung nicht leer ist. Kommunikationswissenschaftler haben herausgefunden, dass Menschen vor allem dann bereit sind, eine neue Perspektive einzunehmen, wenn es um die Lösung von als gemeinsam empfundenen bzw. gestellten Problemengeht, die mit dem je eigenen bisher erfolgreichen Lösungsweg nicht gelöst werden können; die Bereitschaft dazu ist umso größer, je wichtiger die Bewältigung der Aufgabe für das Zusammenleben heute und morgen ist. Probleme sind faktisch wirksame Katalysatoren des Zusammenlebens der Religionen. Und als eine der wichtigsten Aufgabe wird heute von immer mehr Menschen – auch und gerade von Vertretern der Weltreligionen – die Lösung des Gerechtigkeitsproblems im Prozess der Globalisierung gesehen.

Dazu ist aber die Aktivierung eines in allen Weltreligionen vorhandenen Bewusstseins von der immer wieder auftretenden Diskrepanz zwischen Heilserfahrung und ihrer geschichtlich-konkreten Sprachgestalt in einer Religion notwendig. Das wird auch im interreligiösen Gespräch nur in einer Kommunikationsstruktur möglich sein, die dem anderen auf gleicher Augenhöhe begegnet. Um es klar zu sagen: in einer Atmosphäre des gegenseitigen Respekts vor der Heilserfahrung des Anderen! Das bedeutet, es wird vorausgesetzt, dass die Religionen ein je eigenes Sprachspiel haben und dass jede Religion im Blick auf die anderen etwas zu geben und etwas zu empfangen hat. Die Rolle des Gesprächs wäre dann, dass in Fragen des Wohls nicht von einem der Teilnehmer, sondern von allen beteiligten Gesprächspartnern der Versuch unternommen wird, nach Wegen zu suchen, die überzeugen, und nicht nur nach solchen, die überreden oder gar verführen. Auch wenn gegenseitiges Verstehen für die Akteure nie vollständig möglich ist und religiöse Differenzen nur gelegentlich überwunden werden und permanent neue aufbrechen, so kann der Vorstellung von der Religionsdifferenz aufgrund von differenten Heilserfahrungen doch der funktionale Status einer „regulativen Idee“ zugesprochen werden.

Dann sollte aber das Modell des Dialogs zu dem eines Polylogs weiterführen.[17]

Denn ich halte den Begriff „Dialog der Religionen“ für irreführend, da es im Miteinandersprechen der Religionen doch gerade nicht um ein Gespräch zwischen Zweien geht (worauf das dia- im Griechischen verweist), sondern um ein Gespräch unter Vielen. Zwar hat das Wort „polylogia“ im Griechischen die Bedeutung von „Geschwätzigkeit“, da aber dieses Fremdwort in der ursprünglichen Bedeutung unbekannt ist, möchte ich den von Michael Bachtin in die Literaturwissenschaft und von Franz Martin Wimmer in die Debatte um eine Interkulturelle Philosophie eingebrachten Begriff „Polylogia“ zur Beschreibung des Gesprächsmodells vorschlagen, das mir hier vorschwebt. Ich knüpfe dabei an Überlegungen an, die in der „Genfer“ ökumenischen Bewegung seit der Neunten Vollversammlung des ÖRK 1998 in Harare mit dem afrikanischen Begriff des „Padare“ verbunden sind. Padare ist eine Methode, im Palaver solange miteinander zu sprechen, bis ein bis auf weiteres geltender Konsens gefunden worden ist. Ich will ihnen wenigstens kursorisch die wesentlichen Elemente eines solchen Polylogs skizzieren.

1.

Thematische Fragen der Religionen – Fragen nach dem Heil, nach dessen Erkennbarkeit und der sich daraus ergebenden Begründbarkeit von Gerechtigkeit – sind so zu diskutieren, dass jeder Einigung darauf, wie man in Zukunft miteinander umgehen und zusammen am Wohl für alle in der Einen Welt arbeiten will, ein Polylog möglichst vieler Religionen vorangeht. Dies wiederum setzt eine selbstreferentielle Relativierung der in den einzelnen Religionssystemen entwickelten Strukturen, Begriffe und Methoden ebenso voraus wie einen neuen, nicht-zentristischen Blick auf die Religionsgeschichte der Menschheit. Und da ein Polylog nie in einem abstrakten Raum geführt wird, sondern immer angesichts drängender und konkreter Notwendigkeiten, kann man zwei Minimalregeln formulieren, die zu beachten sein werden, wenn man in gemeinsamer Praxis an der Lösung des globalen Gerechtigkeitsproblems arbeiten will: Halte keine religiöse Meinung, keine theologische Lehre, keine ethische Perspektive für gut begründet, an deren Zustandekommen nur Menschen einer einzigen religiösen Tradition beteiligt waren. Positiv formuliert: Suche wo immer möglich nach transreligiösen Überlappungen in den verschiedenen Heilsbotschaften und Heilswegen, da es wahrscheinlich ist, dass überzeugende Erfahrungen des Heils in mehr als nur einer religiösen Tradition gemacht worden sind. Scheue dich aber nicht vor neuen Differenzerfahrungen und rechne immer mit der Enttäuschung deiner Erwartungen. Bereits die Einhaltung dieser Minimalregeln würde zu verändertem Verhalten im Miteinandersprechen, in der Kommunikations- und Argumentationspraxis führen.

2.

Das ist keineswegs leicht und sicher auch noch kein Königsweg. Allein die Frage, welche Gerechtigkeit denn gelten soll, führt in das Gestrüpp unterschiedlicher religiöser Kulturen. Das illustriert bei uns die Debatte um sog. Ehrenmorde und – wie aktuell in Frankreich – zur Berechtigung der Ehescheidung, wenn nach muslimischem Recht eine Ehe als nicht vollzogen angesehen werden muss, nach französischem Recht aber sehr wohl gilt. Eine polylogische Debatte über Gerechtigkeit steht weitgehend noch aus. „Gibt es einen kulturunabhängigen Begriff von Gerechtigkeit? Welcher Begriff von Gerechtigkeit ist einer plurikulturellen (und plurireligiösen, K.B.) Weltgesellschaft eher angemessen als andere Begriffe? Gibt es insbesondere so etwas wie ein Menschenrecht auf die Beurteilung einer Handlung eines Menschen gemäß seiner eigenen (weltanschaulichen) Überzeugungen? Wo liegen mögliche Grenzen von Toleranz in derartigen Fällen und wie sind sie zu begründen?“[18]

Die Hauptaufgabe einer ökumenischen, interreligiös orientierten Theologie besteht also darin, dass in Sachfragen und vor allem in Fragen des Zusammenlebens nicht von einer Seite her, sondern von allen Beteiligten der Versuch unternommen wird, nach Wegen zu suchen, die überzeugen und nicht nur nach solchen, die überreden oder gar verführen, um den selben Urteils- und Handlungsstandard zu bewirken. Es handelt sich im Polylog also um einen Prozess gegenseitigen Überzeugens um des Überlebens in der Einen Welt willen.

3.

Daraus ergeben sich zwei Postulate; das erste ist – mit Kant – negativ zu formulieren: kein Mensch darf als bloßes Mittel zu einem ihm fremden Zweck gebraucht werden.

Daraus ergibt sich das zweite Postulat: wenn Überzeugungsprozesse angestrebt werden, ist es notwendig, den Adressaten dieser Prozesse eine möglichst intensive Beteiligung an der Argumentation zuzubilligen. Damit dieses Postulat eingelöst werden kann, sind zwei Bedingungen zu erfüllen:

a) Die eine besteht darin, dass sie bereit sind, Urteile und Verhaltensweisen in den Problembereichen, die zur Lösung anstehen, zu ändern. Das kann nicht immer und überall vorausgesetzt werden, vor allem nicht in Fällen von institutionalisierter Abhängigkeit von einer Religion oder übermäßiger Autoritätshörigkeit. Darüber hinaus beeinflussen Größe und Maß gemeinsamer Lebenserfahrung die Bereitschaft zur Veränderung ebenso wie das gemeinsame Interesse, der Leidensdruck, die erwarteten oder befürchteten Folgen einer Entscheidung, der Grad der Identifizierung mit einer Religionsgemeinschaft usw.

b) Die zweite Bedingung ist, dass Urteile, Verhaltensweisen Glaubenssätze etc. nur aufgrund eigener Einsicht aufrechterhalten bzw. geändert werden dürfen. Zwang, gar Gewalt sind im Polylog ausgeschlossen.

Die zweite Bedingung, dass Glaubenssätze nur auf Grund eigener Einsicht aufrechterhalten bzw. geändert werden dürfen, versteht sich nach dem Gesagten von selbst.

Die erste Bedingung (Urteile zu ändern) kann von allen Religionen dann erfüllt werden, wenn ihre Vertreter sich daran halten, dass die Heilserfahrung immer ein transzendentes und also kontingentes Ereignis ist. Man kann es sich nicht selbst beschaffen. Es widerfährt einem. Die sichtbare Religion ist sozusagen das Gefäß, das das Widerfahrnis zu fassen sucht, aber nicht der Inhalt (das Heil) selbst. Jede Religion hat daher auch religionskritische Züge – sonst gäbe es keinen innerreligiösen Disput zwischen Vertretern ein und derselben Religion; wenn alles klar wäre, bräuchte man nicht über die Form des Inhalts zu streiten. Auch für Christen ist das selbstverständlich, denn der biblisch inspirierte Gottesglaube hat immer die Zweideutigkeiten der Religion aufgedeckt, schon im Alten und Neuen Testament gibt es anschauliche Beispiele dafür, dass Religion unterdrücken und befreien, zerstören und heilen kann. Die prophetische Kultkritik („Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!“ vgl. Jes 1, 11 ff, Mt 9, 13), die von Jesus betonte Unterordnung der Religionsgesetze unter ihrem humanen Zweck („der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht“, Mk 2, 27), das von Jesus genannte „Tun des Gerechten“ als Kriterium für Erwählung und Verwerfung im Großen Weltgericht (Mt 25, 31-46), die urchristliche Deutung des Gekreuzigten als Selbsthingabe Gottes und als endgültige Aufhebung des sakralen Opfermechanismus – dies sind nur einige zentrale Motive, die zum christlichen Selbstverständnis gehören. Eine institutionalisierte Religion darf nicht den Anspruch erheben, eine Art „Letztrückversicherungskonzept“ (Luhmann) zu sein.

Ähnliche Selbstregulierungen finden sich in allen großen Weltreligionen. So gibt es z.B. im Hinduismus keinen Absolutheitsanspruch, in dem manche seiner Repräsentanten nichts anderes sehen, als eine Einengung des Bewusstseinshorizontes. Wo immer unabweisbare Gegensätze vorliegen, sehen sie sie eingebettet in den Rahmen einer Komplementarität und versuchen sie, in einem umgreifenden Zusammenhang zu verstehen. Kritik hat hier nicht das Ziel, eine fremde Religion bzw. Weltsicht zu beseitigen, sondern ihr Heilsangebot zu respektieren und womöglich zu integrieren.

Und die Unterscheidung von Religiosität und Religion hat auch im Islam – nicht so sehr im „Gesetzesislam“, aber eindringlich im mystischen Islam immer eine Rolle gespielt. Als schönes Beispiel unter vielen sei ein Wort des muslimischen Mystikers Abū Yazīd al-Bistāmī angeführt: „Am Anfang bildete ich mir ein, dass ich es war, der an Gott dachte, der Ihn kannte und liebte. Als ich zum Ende kam, sah ich, dass Er an mich gedacht hatte, ehe ich an Ihn dachte, dass Er mich gekannt hatte, ehe ich Ihn kannte, dass Seine Liebe zu mir meiner Liebe zu Ihm vorausging, dass Er mich zuerst gesucht hat, so dass ich Ihn suchen konnte.“[19]

Eine solche religiöse Heilserfahrung macht Mut, in aller Religionsdifferenz die Hoffnung auf ein Gelingen inter- und transreligiöser Kommunikationsprozesse mit dem Ziel, an einer für alle geltenden Gerechtigkeit mitzuwirken, zu stärken. Wohl wissend, dass wir dabei in einem prinzipiell unabschließbaren geschichtlichen Prozess einbezogen sind, der erst „am lieben jüngsten Tag“ seine Vollendung finden wird. 


Anmerkungen

[1] So verfügen 2007 z.B. ein Prozent der Menschheit über 40 Prozent des gesamten Anlagevermögens, während immer größere Teile der Bevölkerung mit schrumpfenden Löhnen und wachsenden Unsicherheiten leben müssen.

[2] Harald Schumann / Christiane Grefe: Der globale Countdown. Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung – Die Zukunft der Globalisierung. Köln 2008, S. 29: So „lädt (sc. sich) die Politik allerorts mit Irrationalität und Populismus auf. Von den Islamisten des Mittleren Ostens und Südasiens über Amerikas christliche Fundamentalisten und Protektionisten bis zu Europas Neonazis und Rechtspopulisten formiert sich weltweit eine Gegenbewegung zur globalen Integration. Fremdenfurcht, Rassismus und die Sehsucht nach nationaler oder regionaler Abschottung gegen die Aufsteiger des Südens wachsen an. Parallel dazu reagieren immer mehr Regierungen auf die neue antiglobalistische Stimmung mit geostrategischen Plänen zur militärischen Sicherung einer eigenen Ressourcenbasis.“  

[3] A. Hardy: Der Mensch – das betende Tier. Religiosität als Faktor der Evolution, Stuttgart 1979.

[4] Th. Luckmann, Die unsichtbare Religion. Mit einem Vorwort von H. Knoblauch, Frankfurt/ M. 1991.

[5] Th. Luckmann, Die unsichtbare Religion, a.a.O., 89f.

[6]  Emergenzphilosophie bezeichnet im Anschluss an die Theorien von C. LL. Morgan und S. Alexander eine Form des Evolutionismus, für die ein Ding nicht nur eine Addition seiner Elemente (resultant) ist, sondern ein qualitativ Neues, Aufsteigendes (emergent) und für die die Welt den Nisus (d.h. nach S. Alexander das „creative principle of emergent evolution“ ) zum Auftauchen (emergence) der Gottheit manifestiert. Vgl. dazu Art. Emergenzphilosophie. HWPh, Bd. 2, S. 452; ferner: Art. Nisus, in: HWPh, Bd. 6, S. 864. M.W. hat Michael Welker den Begriff „emergence“ in die theologische Debatte eingeführt, um damit das unvorhersehbare Wirken des Heiligen Geistes in der Gemeinschaft der Glaubenden zu bezeichnen.  

[7] Wie Wolfhart Pannenberg in mehreren Veröffentlichungen, vgl. zuletzt Syst. Theol. Bd. 1, Göttingen 1988, S. 133-205.

[8] Nach H. Küng, J. van Ess, H. von Stietencron, H. Bechert: Christentum und Weltreligionen. Islam, Hinduismus, Buddhismus. München, Zürich 1984, S19.

[9] Vgl. dazu H.G. Soeffner: Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen. Göttingen 2000, S. 153-179, hier: S. 168.

[10] Vgl. M. Heidegger: Das Wesen der Sprache (1957), in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959: „Das Sein von jeglichem, was ist, wohnt im Wort. Daher gilt der Satz: Die Sprache ist das Haus des Seins.“

[11] J. Dreher, P. Stegmaier(Hrsg): Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz. Grundlagentheoretische Reflexionen, Bielefeld 2007, S. 8.

[12] H. Link-Wieczorek u.a.: Nach Gott im Leben fragen. Ökumenische Einführung in das Christentum. Freiburg, Basel, Wien 2004, S. 175.

[13] S. P. Huntington: Der Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München 1993.

[14] M. Schetsche (Hrsg): Der maximal Fremde. Begegnungen mit dem Nichtmenschlichen und die Grenzen des Verstehens. Würzburg 2004.

[15] N. Luhmann: Doppelte Kontingenz, in: Ders.: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/ M. S. 148-190, hier: S. 172.

[16] Ebd.

[17] Zum folgenden vgl. F.M. Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Wien 2004. 

[18] F.M Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Probleme und Ansätze. 2. überarbeitete und erweiterte Aufl. Wien 2000, S. 138 f.

[19] Zitiert von H. Küng, a.a.O., S. 154 nach Tor Andrae, Islamische Mystiker, S. 130. 


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