Sep 302009
 

Über das Neue Forum und den Lauf der Dinge

Von Gerhard Rein, September 2009

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Von den Schwierigkeiten ein politischer Christ zu sein!

Richter Johann vom Amtsgericht Cochem verurteilte die beiden Angeklagten am 5. November 2002 zu sechs Wochen Haft ohne Bewährung. (Sie hatten Transparente am Zaun eines militärischen Sperrbezirks gehängt). Es wiege besonders schwer, so der Richter, dass die Angeklagten im fortgeschrittenen Lebensalter (67 und 63 Jahre alt) mit ihren Vorstrafen ein schlechtes Vorbild für Kinder und Enkel wären. Sie könnten der jüngeren Generation keine Werte vermitteln und durch fehlende positive Sozialprognose bestünde eine Wiederholungsgefahr.

Neben Wolfgang Sternstein ist hier von der Stendaler Ärztin Dr.Erika Drees die Rede. Sie gehört zu den Gründerinnen des Neuen Forum. Sie starb am 11. Januar 2009 in einem Hospiz in Stendal. Mein letzter Brief vom Dezember 2008 blieb ohne Antwort. Erika Drees widme ich meinen kleinen Text. Und tue das mit ziemlicher Beschämung. Ich habe Erika Drees bei den Sitzungen der Oekumenischen Versammlung in der DDR kennen gelernt, die sie zusammen mit Heino Falcke und Christof Ziemer einberufen hatte. Das ist ja das Dilemma von uns, den Journalisten, wir reden, ich rede oder schreibe immer nur darüber, und sonst nichts, und dann trifft man Menschen, die tun, was sie sagen, die machen wahr, was sie angekündigt hatten. Nach dieser Konsequenz sehne ich mich, und denke nicht daran, ihr nahe zu kommen. Das ist die Beschämung.

Und da liegen sie nun vor mir, die leicht vergilbten, braun-grau-schwarzen Flugblätter, Aufrufe, Pamphlete. Nur zwanzig Jahre alt, und wirken heute doch, Ormig- Abzüge, kaum noch lesbare Durchschläge, wie Funde aus einer sehr alten Truhe.

  • „Wir müssen mit den Genossen die Reform machen“, sagt Sebastian Pflugbeil.
  •  „Wir müssen Egon Krenz eine Chance geben“, meint Rolf Henrich.
  • „Wir müssen uns von der Angst befreien, das ist das Allerwichtigste“, so Jens Reich.
  • „Wir müssen raus aus der Kirche und rein in die Gesellschaft“, Hans-Jochen Tschiche.
  • „Jetzt sind sie endgültig verrückt geworden“, Bärbel Bohley zur Maueröffnung.

Stimmen, Momentaufnahmen vom Oktober, vom November 1989.  Eine Mischung aus Wahnsinn, Chaos und Wunder. So sind uns diese Monate in Erinnerung geblieben. Wir kommen nicht davon los. Werden wir irgendwann einmal genug haben von dem Blick zurück? Als die selbsternannte „Diktatur des Proletariats“ schließlich zusammenbrach und es am 18.März 1990 zur ersten freien Wahl für die Volkskammer in der DDR kam, erklärte der Schriftsteller Stefan Heym am Wahlabend:“ Die DDR wird nichts sein als eine Fußnote in der Weltgeschichte“. Diese inzwischen viel zitierte Bemerkung löste eine Debatte aus, die bis heute anhält. Bestärkt fühlen sich vor allem westliche Historiker, die uns in der Pose der Sieger erklären, es habe ein System mit Zukunft gegeben, und eins ohne. Den Westen als parlamentarische Republik, den Osten als Land mit doppelter Diktaturerfahrung. Den Westen als unabhängige Demokratie, den Osten als sowjetische Satrapie, als abhängigen Satelliten.

Stimmt ja fast alles, oder? Aber, obwohl nur Fußnote, bleiben zwanzig Jahre nach Gründung des Neuen Forum, zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, sichtbare und unsichtbare Spuren der DDR. Sie sind hier heute die sichtbaren. Der Blick zurück bleibt bis auf weiteres Bestandteil unseres Alltags. Nicht nur weil wir wissen, dass sich Vergangenheit zur Zeit besser verkauft als Zukunft, sondern weil wir auch noch nicht damit fertig sind.

Das Neue Forum gehört zu den Trägern der Revolution. Und ich, Ausdruck meiner Bescheidenheit, möchte dazu beitragen, dass diese Revolution verteidigt wird. Dazu gibt es einigen Anlaß, denn bei mir verstärkt sich der Eindruck, dass die Träger dieser Revolution nicht überbewertet, sondern bewusst zunehmend abgewertet werden. Ihnen wird sogar der Anteil abgesprochen, den sie zum politischen Umbruch in der DDR beigetragen haben. Anders als die Mehrzahl ihrer Kritiker haben die Mitglieder der kritischen Gruppen in der DDR gegen das System gedacht, gegen das System gelebt. Sie haben etwas gewagt. Sie haben ihre Angst überwunden. Sie haben sich aus ihrer Lethargie, aus ihrer Stummheit befreit. Diese Revolution ist nicht fehlgeschlagen. 

Aber nun wissen wir ja: zu jeder anständigen Revolution gehört eine Gegenrevolution. In diesem Fall besteht sie darin, die Bedeutung der Ereignisse zu verändern, sie zu manipulieren. Ins Gegenteil zu verkehren was stattfand, die Interpretation der Ereignisse an sich zu reißen und Geschichte um zu schreiben. Reden wir also über die Konterrevolutionäre. Reden wir zum Beispiel über Lothar de Maiziere. Um Gottes Willen! Was soll das denn, höre ich es ächzen. Warten Sie mal ab.

Vor zehn Jahren, 1999, schilderte de Maiziere die Oppositionsgruppen wie folgt:“ Sie wollten eine neue DDR haben, die klein, pazifistisch, ökologisch, himmlisch gerecht sein sollte – ein Art Gottesstaat …. Sie wollten eigentlich eine neue Bildungsdiktatur.“ ( Benno-Verlag: Durch Umkehr zur Wende,1999). Eine durch und durch infame Unterstellung.

Wäre eine neue gemeinsame Verfassung nicht hilfreich gewesen, wird de Maiziere gefragt. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (16.03.08) antwortet der Jurist so:“ Die Verfassungsdiskussion ist …. das Geschwätz von Intellektuellen.“

Dass solcher Unsinn belohnt wird, zeigte sich im vergangenen Jahr, als Lothar de Maiziere von der Deutschen Nationalstiftung mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet wurde. Mit anderen (auch Nooke) hatte er ein Freiheits- und Einheitsdenkmal vorgeschlagen. Im ersten Anlauf ist das ja grotesk gescheitert, aber die ausgezeichneten Herren werden nicht aufgeben. Und der Anti-Intellektuelle de Maiziere outet sich ausgerechnet als Hegelianer, als er erklärt, das Freiheits- und Einheitsdenkmal in Berlin werde „die durch das Holocaust-Denkmal symbolisierte Geschichte dialektisch aufheben“ (SZ 25.11.08).

Die hier zuhauf anwesenden Hegelianer werden ahnen, was damit gemeint ist.

Nun wundere ich mich mal: Der uns so lieb gewordene Zentralrat der Juden in Deutschland, unser kleiner Wächterrat, der keine Gelegenheit verpasst, einen dünnen, braunen Furz zu einer riesigen antisemitischen Kloake aufzujazzen, schweigt zu de Maizieres merkwürdigen Ungeheuerlichkeit. Kramer, übernehmen Sie!

Im Jahr 2007 veröffentlichte der Theologe und Philosoph Richard Schröder sein Buch: „Die wichtigsten Irrtümer der deutschen Einheit“. Gegen Geschichtsklitterer und Miesmacher rücke Schröder die Dinge zurecht, heisst es im Klappentext des Herder-Buches. Schröder beklagt in diesem Buch die Unfähigkeit, sich freuen zu können. In jeder Revolution gebe es Verlierer.

Transformationsprozesse seien nun mal ungerecht. Sie glichen nämlich Naturprozessen, und die verliefen bekanntlich nicht nach Kriterien der Gerechtigkeit. Eine leider unvermeidliche Zumutung. Das Missvergnügen sei ein Ergebnis des Umstellungsstresses. Im Übrigen seien nicht wenige Oppositionelle in der DDR demokratieunfähig gewesen. So die Thesen Schröders. Eine Wo-gehobelt-wird-fallen-Späne-Philosophie. Ost- und Westdeutsche sind sich immer noch fremd. Ziemlich regelmässig klären uns Studien und Umfragen darüber auf, dass Benachteiligungsgefühle eher wachsen als zurückgehen und dass das Land nach der Wahrnehmung der Bürger immer noch gespalten ist.  Wollen wir aber, wie Richard Schröder, so zynisch sein, die tiefen Gegensätze in Deutschland lediglich als Missvergnügen durch den Umstellungsstress zu beschreiben? So als gäbe es keine tiefe kulturelle Kluft zwischen Ost und West?

Ich plädiere ja schon lange dafür, dass wir nicht unsere Einheit feiern, sondern, in Freiheit, unsere Vielfalt. „Die Zeit ist reif dafür.“ Dass ich hier den Schlusssatz aus dem ersten Aufruf des „Neuen Forum“ von Anfang September 1989 zitiere ist natürlich eine Grenzüberschreitung. Verzeihen Sie es mir, oder auch nicht, aber mir liegt daran, dass wir nicht nur in die irgendwie gelungene Vergangenheit verliebt sind, sondern auch Gegenwärtiges bedenken.

Es gibt einen Aufruf des „Neuen Forum“ vom 4.Oktober 89. Alle Sympathisanten werden darin eindringlich aufgefordert, sich von aller Gewalt fernzuhalten. Keine Gewalt, keine blinden Aktionen. „Keine Gewalt“. Der tausendfach wiederholte Ruf auf den Strassen der DDR während der Revolution hat ihren erfolgreichen, unblutigen Ausgang wesentlich befördert. Dieser Ruf war vielleicht sogar die Voraussetzung des Gelingens. Die Gewaltfrage hat sich damit freilich nicht erledigt. Sie bleibt von brennender Aktualität. Und meine Assoziationen dazu haben mit der Revolution in der DDR weiterhin zu tun.

Wir wissen: Gewalt gebiert Gewalt. Aber gab es 1989/1990 nicht die begründete Aussicht, dass nach der gewaltfreien Revolution die Einsicht, die Hoffnung sich ausbreiten würde, dass Krieg keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln mehr sein müsse. Dass das Austragen von Konflikten in Osteuropa inclusive der DDR Modelle von Konfliktlösungen zeitigte, die in die Zukunft wiesen und die auf klassische Gewaltlösungen verzichten  konnten. Alles für die Katz. Ein Traum, eine Episode. Ausgerechnet nach der  weitgehend friedlichen Auflösung des sozialistischen Ostblocks feiert der selbstproklamierte Sieger der Geschichte im Sommer 1990 die Rückkehr der Gewalt in die Weltpolitik. Die USA beginnen im Namen der Zivilisation die Kriege gegen die Bösen. Ich will meinen Respekt nicht verhehlen, dass das Neue Forum im Dezember 2001 erklärt, dass es sich diesen Kriegen verweigere. Aber nicht alle haben Kriege satt. Angela Merkel biedert sich George W. Bush bis zur Peinlichkeit an. Als Oppositionsführerin befürwortet Merkel den Irak-Krieg der USA und schreibt unter der Überschrift „Schröder spricht nicht für alle Deutschen“ am 20.Februar 2003 in der Washington Post: „dass verantwortungsvolle politische Führung in keinem Fall den geschützten Frieden der Zukunft gegen den trügerischen Frieden des Tages eintauschen darf.“

Und einige, die vor Jahr und Tag noch auf den Strassen und Plätzen der DDR „Keine Gewalt“ skandiert hatten, sehen sich leider nun aufgerufen, an der Seite von Angela Merkel für den Irak-Krieg sich aussprechen zu müssen.

Wir wissen ja , dass in Nordkorea die Entfernung von der Mutterpartei ein strafwürdiges Delikt ist. Ich wünschte mir, dass die konservative Fraktion der DDR-Bürger-bewegung, von heute an nenne ich sie die Gruppe der Selbstgerechten, eingedenk ihrer eigenen Geschichte sich in dieser Frage von der Parteimutter entfernte.

Aber das ist wohl eine nicht ganz realistische Hoffnung angesichts der Gefahr, die ich darin sehe, dass diese Gruppe drauf und dran ist, sich die ganze DDR-Opposition zur Beute zu machen. Ein jüngstes Beispiel dafür: Am 17.Juni 2009 wird stellvertretend für die ganze Bürgerbewegung dem Berliner Bürgerbüro der Point Alpha Preis verliehen. Auf dem Gelände des ehemaligen US Camps Point Alpha in Hessen hält Joachim Gauck die Laudatio. Für die anschliessende Podiumsdiskussion qualifizieren sich vor allem Menschen, die nach dem politischen Umbruch in der DDR am Ende den Weg in die CDU gefunden haben. Angelika Barbe, Nooke und Co. Gunter Weißgerber aus Leipzig, Mitinitiator des Neuen Forum, Bundestagsabgeordneter, wird dabei gefragt, wie lange er denn noch in der SPD bleiben wolle. Und das Goldkind Weißgerber antwortet wie folgt: Er wolle erst einmal das Ergebnis der kommenden Bundestagswahlen abwarten und dann sehe man weiter. Am Abend des 17. Juni 2009 erfahre ich, dass Bärbel Bohley das Bürgerbüro, das sie mit begründete, verlassen hat. Sie protestiere damit gegen die einseitige politische Ausrichtung, die das Bürgerbüro unter der Leitung von Ehrhart Neubert genommen habe.

Und von Ferne habe ich sie wieder umarmt, die Unabhängige, Eigenständige, nicht Korrumpierbare.

Dabei hat Bärbel Bohley gelegentlich auch Traurigkeit in mir ausgelöst. Das System Kohl habe ich ja in der Bundesrepublik aus der Nähe erlebt und konnte nur schwer nachvollziehen, auch im großen Bohley-Interview mit der Südddeutschen Zeitung vom Januar 2009 nicht, was diese Beziehung so denkwürdig gemacht hat. Ganz ignorant bin ich ja nicht. Am 19. Dezember 1989 war ich in Dresden. Und da hat in dieser aufgeregten, erwartungsverrückten Euphorie Helmut Kohl eine europäische Rede gehalten. Ich habe meinen Hut gezogen, und tue es noch heute für diesen 19. Dezember 1989 in Dresden. Aber einmal reicht. Mehr wird nicht gezogen.

Angela Merkel hat ja am 15. August 2009 im niedersächsischem Wahlkampf die „Glanzleistungen“ Kohls in den Jahren 1989/90 gewürdigt und erklärt: „Das war hervorragend, nicht zuletzt auch, weil ich (ohne ihn) heute nicht Bundeskanzlerin wäre.“ Ein Jahr zuvor, am 18. Juli 2008, spricht Angela Merkel auf einem Parteitag der CSU in Nürnberg über Franz Josef Strauß und ruft: „Ohne ihn würde ich heute hier nicht stehen.“. Und nun frage ich mich: Angenommen, Sie wären nicht auf die einigermaßen verrückte Idee gekommen, mich hier um eine kleine Rede zu bitten, sondern Sie hätten zu ihrem Jubiläum Angela Merkel eingeladen, glauben Sie, dass Frau Merkel heute hier erklärt hätte:“ Ohne das Neue Forum wäre ich nicht…….. Nein, es waren F.J. Strauß und Helmut Kohl. Aus der DDR jedenfalls niemand. Bei Strauß fällt mir immer mein Strauß-Lieblingszitat ein.“ Ein Volk, dass diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.“

Mein Blick von außen aufs Neue Forum:

Auch ich komme ja nicht los. Auch ich: ein Teil der Fußnote. In der Erklärung des Neuen Forums vom 6. Oktober 1989 zum 40. Jahrestag der DDR heisst es: „Das Neue Forum mag eines Tages entbehrlich sein- jetzt ist es unentbehrlich.“ So viel Hellsicht ist selten. Ich erlebe das Neue Forum heute durch seine früheren Protagonisten. Wenn ich sie sehe, sie treffe, ihnen zuhöre, freue ich mich. Das gilt auch ausdrücklich für Joachim Gauck, der das Neue Forum in Rostock angeführt hat. 

Also: ich freue mich, wenn ich Joachim Gauck begegne. Seine rhetorischen Fähigkeiten sind aussergewöhnlich, sein Pathos der Freiheit fast unwiderstehlich. Konservativ zu sein ist keine Schande. Ich weiß ja, wie ich lebe. Ich bin doch nicht weit weg davon. Es gibt freilich einen Punkt, an dem ich vehement widerspreche: wenn das Konservative für mich tendenziell dazu neigt, wie bei de Maiziere und Richard Schröder, Andersdenkende mit Feindbildern zu überziehen und sie generell abzuwerten.

Sie müssen nun entscheiden, ob meine durchschnittliche Inkompetenz dazu ausreicht, folgende Punkte deutlich zu benennen. Wenn Gauck davon spricht, dass wir Deutschen „friedensverwöhnt“ seien, werde ich schon ziemlich unruhig. Immer wieder spricht Gauck von Menschen in unserem Land, „die fast neurotisch auf der Größe der deutschen Schuld beharren“. Abgesehen davon, das solch ein Satz für den Vorsitzenden eines Vereins „Gegen Vergessen…“ schon bemerkenswert genug ist, weiß ich nicht, wen Gauck hier wirklich meint.

Wenn Marianne Birthler ausgerechnet die genuine Antikommunistin Gesine Schwan in der verrückten Debatte um „Unrechtsstaat“ als „Ossiversteherin“ vorführen will, frage ich mich langsam, was die „Wessiversteher“ Birthler und Gauck denn so zu bieten haben. Diese meine unverschämte, dumme Retourkutsche hat folgenden, mich bedrückenden Hintergrund:

Am 21. August 2009 haben Birthler, Gauck, Richard Schröder und Co. in der „Zeit“ eine Erklärung zum 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939 als Anzeige veröffentlicht. Einige der Mitunterzeichner, die zu achten ich ganz viele gute Gründe habe, sind hier heute anwesend. Ich wüsste sehr gern, was sie wohl gedacht haben, als sie die Gesamtliste der Unterzeichner zu Gesicht bekamen.

In der Erklärung stehen wunderbare Sätze zum 1. September 1939, zu deutscher Scham und deutscher Trauer wegen des Überfalls auf Polen. Bei vielen Anlässen sind in den vergangenen Jahren solche Sätze immer wieder aufgeschrieben und ausgesprochen worden. Wir kennen sie. Sie haben auch hier ihr gutes Recht. Meinen Großeltern gedenkend, die am 2. September 1939 an der Weichsel erschlagen wurden, nicht von Polen, habe ich solche oder ähnliche Sätze gelegentlich gern gelesen.

Für mich neu ist freilich die Verknüpfung der Erinnerung an die Schande des 1. September 1939 mit dem vorausgegangenen Hitler-Stalin-Pakt eine Woche zuvor. Von deutscher Schuld ist in der Erklärung nirgendwo die Rede. Nicht die Rede ist davon, dass ohne den Beitrag sowjetischer Soldaten in ihrem Kampf gegen den Faschismus wir 1945 nicht befreit worden wären. Sind wir nicht gleich zweimal mit Hilfe der Sowjetunion befreit worden, weil ohne den Anteil Gorbatschows, also der Sowjetunion, die DDR wohl nicht 1989 an ihr Ende gekommen wäre?

Meine Bekümmernis besteht nun darin, dass in dieser Erklärung der 1.September 1939 nur benutzt, instrumentalisiert wird, um auf die schrecklichen Folgen der diktatorischen Regime der Sowjetunion hinzuweisen, von denen wir auch schon wussten. Alle Sätze stimmen. Aber zusammen gelesen, lösen sie eine merkwürdige Reaktion aus. „Ein freies und demokratisches Europa. … braucht die Erinnerung an die kommunistische Ära und ihre Überwindung“, lese ich. Wer wollte da nicht zustimmen? Aber braucht ein freies Europa nicht auch die Erinnerung an, sagen wir, das Münchner Abkommen von 1938, wo Hitler mit den demokratischen Regierungen von London und Paris das Ende der Tschechoslowakei besiegelte, oder an Jalta Februar 1945, wo Stalin mit den Demokraten Roosevelt und Churchill die Welt nach Hitler einvernehmlich aufteilten? Da davon aber nicht die Rede ist, bleibt bei mir der fatale Eindruck, Schatten des alten Unrechts sollen in meinem Gedächtnis bleiben, auf der anderen Seite gab es nur Licht.

Als besonders sympathisch erscheint in der Birthler-Gauck-Erklärung, zumindest auf den ersten Blick, dass darin die Erinnerung an das Leid ostmitteleuropäischer Staaten und deren Kampf gegen kommunistische Diktaturen eine wesentliche Rolle spielt. Der zweite Blick führt in eine andere Richtung.

Mitte Juli 2009 haben Vaclav Havel und Lech Walesa mit fünf anderen Ex-Präsidenten Ostmitteleuropas einen Brief an Barack Obama geschrieben. Sie warnen darin vor Russland. Die Aufgabe des geplanten Raketenschildes in Osteuropa würde die Glaubwürdigkeit der USA

beschädigen. Einen fast warnenden Ton nimmt man wahr, wenn man in dem Brief an Obama liest: „Einige Führer aus unserer Region haben für ihre Unterstützung des unpopulären Krieges im Irak einen politischen Preis bezahlt. Sie werden in Zukunft sorgfältiger politische Risiken abwägen, wenn sie die Vereinigten Staaten unterstützen“.  Havel, Walesa und Co. plädieren für eine transatlantische Renaissance und geben deutlich zu erkennen, dass sie Obamas Abrüstungsplänen, wenn sie Russland einschliessen, skeptisch gegenüber stehen. Die Birthler-Gauck-Erklärung ist in diesem Kontext zu lesen. Das  sie ihn nicht benennt ist merkwürdig genug. Die Selbstgerechten als clandestine Anti-Obama-Lobby? Das ist eine Pointe, aber keine gute.

Wen habe ich nun noch nicht beleidigt?

In meinem Manuskript folgt nun der Hinweis, dass sich die Türen des Saals öffnen und einige Clowns auf die Bühne stürmen. Sie rufen laut: Seid Ihr alle da? Seid Ihr alle angekommen? Was antworten die Kinder?

Ehrhart Neubert schreibt 1999: „Heute stehe ich den kapitalismuskritischen  protestantischen Revolutionären sehr kritisch gegenüber. Für mich sind sie immer noch nicht angekommen und schleppen die achtziger Jahre mit sich herum.“

Sie wissen besser als ich, dass es in der frühen DDR eine heftige Diskussion über Ankunftsliteratur gab. Ankommen sollte man im Sozialismus der DDR. Heute woanders. Ich beende meinen Text mit einem Beispiel von Ankunftsliteratur unserer Tage, von 2002. Die Autorin lässt uns vermuten, dass sie so gelebt hat, dass sie sich selbst nicht beschämen wollte.

„Wir wurden am 5. November 2002 zu 6 Wochen Haft ohne Bewährung verurteilt, der Gang ins Gefängnis ist quasi eine Fortsetzung unseres Protestes gegen die wieder zunehmende Bedrohung der ganzen Schöpfung… Bitte bedauert uns nicht, sondern unterstützt uns durch Weitersagen….“ Aus einem Knastbrief von Erika Drees.

Was daraus folgt?

Bewahren Sie die Erinnerung an eine gelungene deutsche Revolution. Lassen Sie sich nicht zur Beute machen. Kommen Sie nicht an. Bleiben Sie in Ihrem kritischen Leben.


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