Dez 062011
 

Brief von Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge

Tegel 30.04.1944 (1)

Lieber Eberhard!
Wieder ist ein Monat herum – geht Dir die Zeit auch so rasend schnell vorbei wie bei mir? Ich wundere mich oft selbst darüber – und wann wird der Monat kommen, in dem Du zu Renate, ich zu Maria und wir wieder zueinander kommen? Das Gefühl, daß jeden Tag große Ereignisse die Welt in Bewegung setzen und alle unsere persönlichen Verhältnisse verändern können, ist so stark in mir, daß ich Dir gern viel öfter schriebe, schon weil man ja nicht weiß, wie lange man es noch kann und vor allem, weil man so oft und so lange wie möglich alles miteinander teilt. Ich bin eigentlich  fest überzeugt davon, daß, bis Du diesen Brief hast, die großen Entscheidungen an allen Fronten bereits im Gange sind. In diesen Wochen wird man dann innerlich sehr fest sein müssen und ich wünsche Dir, daß Du es sein kannst. Man muß alles an Gedanken zusammennehmen, um über nichts zu erschrecken. Ich bin im Blick auf das Kommende fast geneigt, das biblische [„es muß“] zu zitieren, und ich empfinde etwas von der 1. Petr. 1,12 (2) erwähnten „Neugierde“ der Engel, wie Gott das scheinbar Unlösbare sich nun zu lösen anschickt. Ich glaube, daß es nun soweit ist, daß Gott sich aufmacht, etwas zu vollbringen, was wir bei aller äußeren und inneren Beteiligung nur mit ganz großem Staunen und mit Ehrfurcht in uns aufnehmen können. Irgendwie wird es sichtbar werden – für den, der es überhaupt zu sehen vermag – daß Ps. 58,12b und Ps. 9,20f (3) wahr sind; und Jeremia 45,5 (4) werden wir uns täglich zu wiederholen haben. Es ist für Dich noch schwerer als für mich, das getrennt von Renate und Eurem Jungen durchzumachen; darum werde ich auch ganz besonders an Dich denken und tue es schon jetzt.

Wie gut schien es mir für uns beide, wenn wir diese Zeit zusammen durchleben und uns gegenseitig beistehen könnten. Aber es ist eben wohl „besser“, daß es nicht so ist, sondern daß jeder allein da hindurch muß. Es fällt mir schwer, Dir jetzt in garnichts helfen zu können – als darin, daß ich wirklich jeden Morgen und Abend und beim Lesen der Bibel und auch sonst noch oft am Tage an Dich denke. Um mich brauchst Du Dir bitte wirklich garkeine Sorgen zu machen; es geht mir unverhältnismäßig gut und Du würdest Dich wundern, wenn Du mich besuchen kämst. Die Leute hier sagen mir immer wieder, – was mir, wie Du siehst, stark schmeichelt – daß von mir „eine solche Ruhe ausstrahle“ und daß ich „immer so heiter“ sei, – so daß meine gelegentlichen persönlichen gegenteiligen Erfahrungen mit mir selbst wohl auf einer Täuschung beruhen müssen (was ich allerdings durchaus nicht wirklich glaube!). Dich wundern oder vielleicht sogar Sorgen machen würden Dir höchstens meine theologischen Gedanken mit ihren Konsequenzen und hierin fehlst Du mir nun wirklich sehr; denn ich wüßte nicht, mit wem ich sonst überhaupt so darüber sprechen könnte, daß es für mich eine Klärung bedeutet.

Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte – sagen konnte, ist vorüber; ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und d.h. eben die Zeit der Religion überhaupt. Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein. Auch diejenigen, die sich ehrlich als „religiös“ bezeichnen, praktizieren das in keiner Weise; sie meinen vermutlich mit „religiös“ etwas ganz anderes.

Unsere gesamte 1900jährige christliche Verkündigung und Theologie aber baut auf dem „religiösen Apriori“ der Menschen auf. „Christentum“ ist immer eine Form (vielleicht die wahre Form) der „Religion“ gewesen. Wenn nun aber eines Tages deutlich wird, daß dieses „Apriori“ garnicht existiert, sondern daß es eine geschichtlich bedingte und vergängliche Ausdrucksform des Menschen gewesen ist, wenn also die Menschen wirklich radikal religionslos werden – und ich glaube, daß das mehr oder weniger bereits der Fall ist (woran liegt es z.B. daß dieser Krieg im Unterschied zu allen bisherigen eine „religiöse“ Reaktion nicht hervorruft?) – was bedeutet das dann für das „Christentum“?Unserem ganzen bisherigen „Christentum“ wird das Fundament entzogen und es sind nur noch einige „letzte Ritter“ oder ein paar intellektuell Unredliche, bei denen wir religiös“ landen können. Sollten das etwa die wenigen Auserwählten sein? Sollen wir uns eifernd, piquiert oder entrüstet ausgerechnet auf diese zweifelhafte Gruppe von Menschen stürzen, um unsere Ware bei ihnen abzusetzen? Sollen wir ein paar Unglückliche in ihrer schwachen Stunde überfallen und sie sozusagen religiös vergewaltigen? Wenn wir das alles nicht wollen, wenn wir schließlich auch die westliche Gestalt des Christentums nur als Vorstufe einer völligen Religionslosigkeit beurteilen müßten, was für eine Situation entsteht dann für uns, für die Kirche? Wie kann Christus der Herr auch der Religionslosen werden? Gibt es religionslose Christen? Wenn die Religion nur ein Gewand des Christentums ist – und auch dieses Gewand hat zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden ausgesehen – was ist dann ein religionsloses Christentum?

Barth, der als einziger in dieser Richtung zu denken angefangen hat, hat diese Gedanken dann doch nicht durchgeführt und durchdacht, sondern ist zu einem Offenbarungspositivismus gekommen, der letzten Endes doch im Wesentlichen Restauration geblieben ist. Für den religionslosen Arbeiter oder Menschen überhaupt ist hier nichts Entscheidendes gewonnen. Die zu beantwortenden Fragen wären doch: was bedeutet eine Kirche, eine Gemeinde, eine Predigt, eine Liturgie, ein christliches Leben in einer religionslosen Welt? Wie sprechen wir von Gott – ohne Religion, d.h. eben ohne die „zeitbedingten“ Voraussetzungen der Metaphysik, der Innerlichkeit etc.?

Wie sprechen (oder vielleicht kann man eben nicht einmal mehr davon „sprechen“ wie bisher) wir „weltlich“ von „Gott“, wie sind wir „religionslosweltlich“ Christen, wie sind wir , Herausgerufene, ohne uns religiös als Bevorzugte zu verstehen, sondern vielmehr als ganz zur Welt Gehörige? Christus ist dann nicht mehr Gegenstand der Religion, sondern etwas ganz anderes, wirklich Herr der Welt. Aber was heißt das? Was bedeutet in der Religionslosigkeit der Kultus und das Gebet? Bekommt hier die Arkandisziplin, bzw. die Unterscheidung (die Du ja bei mir schon kennst) von Vorletztem und Letztem neue Wichtigkeit?

Ich muß heute abbrechen, da der Brief gerade mit weg kann. In zwei Tagen schreibe ich Dir weiter darüber. Hoffentlich verstehst Du ungefähr, was ich meine und langweilt es Dich nicht. Leb einstweilen wohl! Es ist nicht leicht immer echolos zu schreiben; Du mußt entschuldigen, wenn es dadurch etwas monologisch wird!

In Treue denkt sehr an Dich
Dein Dietrich

Ich mache Dir aus Deinem Nichtschreiben wirklich keinen Vorwurf!
Du hast zu viel anderes!

Ich kann doch noch etwas weiterschreiben. – Die paulinische Frage, ob die [Beschneidung] Bedingung der Rechtfertigung sei, heißt m.E. heute, ob die Religion Bedingung des Heils sei. Die Freiheit von der ist auch die Freiheit von der Religion. Oft frage ich mich, warum mich ein „christlicher Instinkt“ häufig mehr zu den Religionslosen als zu den Religiösen zieht, und zwar durchaus nicht in der Absicht der Missionierung, sondern ich möchte fast sagen „brüderlich“! Während ich mich den Religiösen gegenüber oft scheue, den Namen Gottes zu nennen, – weil er mir hier irgendwie falsch zu klingen scheint und ich mir selbst etwas unehrlich vorkomme, (besonders schlimm ist es, wenn die anderen in religiöser Terminologie zu reden anfangen, dann verstumme ich fast völlig und es wird mir irgendwie schwül und unbehaglich) – kann ich den Religionslosen gegenüber gelegentlich ganz ruhig und wie selbstverständlich Gott nennen. Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen – es ist eigentlich immer der deus ex machina, den sie aufmarschieren lassen, entweder zur Scheinlösung unlösbarer Probleme oder als Kraft bei menschlichem Versagen, immer also in Ausnutzung menschlicher Schwäche bzw. an den menschlichen Grenzen; das hält zwangsläufig immer nur solange vor, bis die Menschen aus eigener Kraft die Grenzen etwas weiter hinausschieben und Gott als deus ex machina überflüssig wird; das Reden von den menschlichen Grenzen ist mir überhaupt fragwürdig geworden (ist der Tod heute, da die Menschen ihn kaum noch fürchten und die Sünde, die die Menschen kaum noch begreifen, noch eine echte Grenze?), es scheint mir immer, wir wollten dadurch nur ängstlich Raum aussparen für Gott; – ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen. An den Grenzen scheint es mir besser, zu schweigen und das Unlösbare ungelöst zu lassen. Der Auferstehungsglaube ist nicht die „Lösung“ des Todesproblems. Das „Jenseits“ Gottes ist nicht das Jenseits unseres Erkenntnisvermögens! Die erkenntnistheoretische Transzendenz hat mit der Transzendenz Gottes nichts zu tun. Gott ist mitten in unserem Leben jenseits. Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf. So ist es alttestamentlich und in diesem Sinne lesen wir das N.T. noch viel zu wenig vom Alten her. Wie dieses religionslose Christentum aussieht, welche Gestalt es annimmt, darüber denke ich nun viel nach und ich schreibe Dir bald darüber mehr. Vielleicht wird hier gerade uns in der Mitte zwischen Osten und Westen eine wichtige Aufgabe zufallen. –

Jetzt muß ich wirklich schließen. Wie schön wäre es, einmal ein Wort von Dir zu all dem zu hören. Es würde für mich sehr viel bedeuten, mehr als Du vermutlich ermessen kannst! – Lies übrigens gelegentlich Sprüche 22,11.12 (5). Hier ist der Riegel gegen jede fromm getarnte Flucht. –

Alles, alles Gute!
Von Herzen Dein Dietrich

 


Anmerkungen

(1) Nach der Abschrift in Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Herausgegeben von Eberhard Bethge, Neuausgabe München 1970, S. 303-308.

(2) „Was auch die Engel gelüstet zu schauen.“

(3) „Es ist ja noch Gott Richter auf Erden.“ „Herr, stehe auf, dass die Menschen nicht Oberhand haben … Gib ihnen, Herr, einen Meister, dass die Heiden erkennen, dass sie Menschen sind.“

(4) „Und du begehrst dir große Dinge? Begehre es nicht! Denn siehe, ich will  Unglück kommen lassen über alles Fleisch, spricht der Herr; aber deine  Seele will ich dir zur Beute geben, an welchen Ort du ziehst.“

(5) Gemeint ist wohl Spr. 24,11 und 12: „Errette die, so man töten will; und  entzieh dich nicht von denen, die man würgen will. Sprichst du: ‚Siehe, wir  verstehen’s nicht!’ meinst du nicht, der die Herzen wägt, merkt es, und der auf deine Seele achtet, kennt es und vergilt dem Menschen nach seinem Werk?“


Links


Dietrich Bonhoeffer wurde einmal gefragt, ob er die Gewaltsame Entmachtung Hitlers verantworten könne. Er antwortete folgendes:

  • „Wenn ein Betrunkener mit seinem Auto über den Kurfürstendamm rast und auf den Bürgersteig gerät, kann es doch nicht meine, des Pfarrers erste oder einzige Aufgabe sein, die Opfer des Wahnsinnigen zu beerdigen und die Angehörigen zu trösten, sondern dem Betrunkenen das Steuer zu entreißen.“