Dez 072011
 

An alle Fernsprechteilnehmer

Etwas, das keine Farbe hat, etwas,
das nach nichts riecht, etwas Zähes,
trieft aus den Verstärkerämtern,
setzt sich fest in die Nähte der Zeit
und der Schuhe, etwas Gedunsenes,
kommt aus den Kokereinen, bläht
wie eine fahle Brise die Dividenden
und die blutigen Segel der Hospitäler,
mischt sich klebrig in das Getuschel
um Professuren und Primgelder, rinnt,
etwas Zähes, davon der Salm stirbt,
in die Flüsse, und sichert, farblos,
und tötet den Butt auf den Bänken.
Die Minderzahl hat die Mehrheit,
die Toten sind überstimmt.
In den Staatsdruckereien
rüstet das tückische Blei auf,
die Ministerien mauscheln, nach Phlox
und erloschenen Resolutionen riecht
der August. Das Plenum ist leer.
An den Himmel darüber schreibt
die Radarspinne ihr zähes Netz.
Die Tanker auf ihren Helligen
wissen es schon, eh der Lotse kommt,
und der Embryo weiß es dunkel
in seinem warmen, zuckenden Sarg:
Es ist etwas in der Luft, klebrig
und zäh, etwas, das keine Farbe hat
(nur die Jungen Aktien spüren es nicht):
Gegen uns geht es, gegen den Seestern
und das Getreide. Und wir essen davon
und verleiben uns ein etwas Zähes,
und schlafen im blühenden Boom,
im Fünfjahresplan, arglos
schlafend im brennenden Hemd,
wie Geiseln umzingelt von einem zähen,
farblosen, einem gedunsenen Schlund.

Aus: Gedichte von 1950 – 2000 von Hans Magnus Enzensberger

Hans Magnus Enzensberger zu seinem Gedicht

Das indefinite Pronomen „etwas“, dieser unbestimmte Menschenbegriff, steht syntaktisch als Subjekt der ersten und letzten, inhaltlich funktional aber auch als Subjekt der anderen Strophen.

Der erste Halbsatz ist pleonastisch. […] Dagegen ist der zweite Halbsatz ein kleiner Schritt voran. „Etwas“ verliert seine Leere.

Dieses „Zähe“ ist farb- und geruchlos, gedunsen, klebrig und fahl.

Es scheint so viele Eigenschaften zu besitzen, dass es im einfachen Wort nur andeutungsweise festzuhalten ist.

Das Etwas breitet sich aus, und da es zäh ist, bröckelt es weder noch rinnt es, sondern „trieft“. Auch dieses Verbum rührt, nebenbei bemerkt, an die Sphäre des Ekels.

Das Etwas ist offenbar in der technischen Zivilisation, und zwar in ihren verborgenen Nervenzentren, zu Hause: mithin kein ahistorisches Gespenst, sondern etwas, das sich in der Geschichte, in unserer Geschichte ausbreitet, ohne dass wir es auf Anhieb beim Namen nennen können.

Ganz offensichtlich ist die Antithese zwischen „phlox“ und „erloschenen resolutionen“. Letztere werden durch die knappe Feststellung „das plenum ist leer“ erweitert.

Nachdem so das Ungeheuerliche am Ende der dritten Strophe abgesteckt, durch Anspielungen, durch paradoxe Äußerungen … und sonstige Stilmittel … umkreist wurde und damit das Bedrohliche dem Leser stärker ins Bewusstsein gerückt ist, beginnt die letzte Strophe mit zusammenfassend wesentlichen Worten aus der ersten Strophe, die jetzt jedoch auf die vorbereitete Bewusstseinsebene des Lesers treffen.

Mit dem „Wir“ des letzten Satzglieds erreicht der Text sein Ziel, ein zweites Subjekt, das dem ersten, dem „zähen Etwas“, gegenübertritt. Dieses Wir widersteht dem Zähen, das sich ausbreitet, als sein Opfer oder als sein Herr und stellt es damit fest.

Das Leben, die Natur, die eine thematische Komponente des Gedichts, wird vergiftet durch jene andere, das ungeheuerliche und nicht zu fassende Etwas, das sich ins Leben hineinfrisst.

Gewiss, die Radioaktivität geht „gegen uns“ – aber nicht nur sie. Sie tötet „den butt im meer“ – aber nicht nur sie. Jenes Etwas des Gedichts ist umfassender als jede Qualifikation, jede Einzelbedeutung, die es annehmen kann.

2004 Cornelsen Verlag