Dez 062011
 

Wahlverhalten und Religiosität in den USA

In God we trust

Nicht nur auf Münzen und Dollar-Scheinen bekunden die Amerikaner der Welt, dass sie auf Gott vertrauen. Auch ihr Wahlverhalten ist nur zu verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass Religiosität in keinem Land der westlichen Welt stärker, tiefer und weiter verbreitet ist als in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Von Marcia Pally

Religiosität ist in Amerika stärker, tiefer und im Volk weiter verbreitet als in allen anderen industrialisierten Ländern der Welt. Zwar schickt Südkorea heute Missionare in die Vereinigten Staaten, vielleicht weil man dort der Ansicht ist, die Amerikaner wären nicht mehr fromm genug. Aber glaubt man den Amerikanern selbst, dann braucht man sich auch in Südkorea keine Sorgen zu machen: 95 Prozent der Amerikaner sagen, sie glaubten an den Allmächtigen, vier von zehn geben an, wenigstens einmal in der Woche die Kirche zu besuchen. Und wenn selbst ein Fünftel der Atheisten erklärt, an Gott zu glauben, dann ist es kein Wunder, wenn fast achtzig Prozent der Amerikaner der Überzeugung sind, dass auch heute noch Wunder geschehen.

Der Glaube wird in den Vereinigten Staaten seit jeher als etwas Positives empfunden. Er verbindet die Amerikaner von heute mit den Gründervätern und ist somit ein identitätsstiftendes Element. Die Kirchen in der Neuen Welt sind aber ganz anders strukturiert als die im alten Europa. Seit der ersten großen Erweckungsbewegung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dem „First Great Awakening“, sind sie das Gegenteil von hierarchischen Anstalten, deren Führungen mit den politischen Eliten zusammenarbeiten.

Die amerikanischen Kirchen sind Organisationen, die von unten nach oben aufgebaut sind, die sich der Probleme des Volkes annehmen und von einfachen Männern und Frauen geleitet werden. Die in der amerikanischen Verfassung niedergelegte Trennung von Kirche und Staat bewahrte die Kirchen durch die erzwungene Distanz vor der Gefahr, korrumpiert zu werden. So konnten sie sich ihren Ruf als volksnahe Einrichtungen erhalten.

Im 19. Jahrhundert setzten sich die Kirchen für die kostenlose Schulbildung ein; sie unterstützten Landbesitzer gegen Großgrundbesitzer und Farmer gegen Banker; sie propagierten Abstinenz (damals ein Ziel der Frauenbewegung) und im Norden die Abschaffung der Sklaverei. Vor dem Bürgerkrieg (1861 bis 1865) war die Post das größte Staatsunternehmen in Amerika, doch die evangelikalen Kirchen hatten schon mehr Bedienstete als die Post; sie betrieben doppelt so viele Einrichtungen und nahmen dreimal so viel Geld ein.

Nach dem Bürgerkrieg kümmerten sich katholische Wohlfahrtseinrichtungen und protestantische Social-Gospel-Bewegungen intensiv um die Armen. Sie gehörten zu den Ersten, die in Amerika Kritik am Laissez-faire-Kapitalismus übten. Im 20. Jahrhundert betrieben die Kirchen so viele soziale Hilfseinrichtungen, dass der Staat, trotz des Verfassungsgebots, seit langem auch kirchliche Einrichtungen finanziell unterstützt. Die öffentlichen Mittel dürfen allerdings nicht für religiöse Aktivitäten ausgegeben werden.

Angesichts einer so umfangreichen wirtschaftlichen und sozialen Betätigung der Kirchen kann es kaum überraschen, dass die Religion in der Politik eine bedeutende Rolle spielt. Doch wie? Die wechselseitigen Beziehungen lassen sich am ehesten verstehen, wenn man sich zunächst die vorherrschenden Motive der Amerikaner für eine politische Betätigung und für ihr Wahlverhalten vor Augen führt und dann die jeweiligen religiösen Anschauungen betrachtet, die diese Motive überlagern können.

Keine Einstellung ist in der amerikanischen Politik so ausgeprägt wie das Verhältnis zum Staat. Durchgängig gilt die Losung: Je weniger desto besser. Ist das Land nicht aus einer Revolution gegen den „starken Staat“ in England hervorgegangen? Haben sich die Einwanderer und Siedler nicht mangels staatlicher Institutionen auf sich selbst verlassen müssen, wenn sie überleben wollten? Das politische Klima in Amerika ist bestimmt von Misstrauen gegen den Staat und dem Vertrauen auf die Fähigkeiten des Einzelnen und der freien Zusammenschlüsse in der Zivilgesellschaft, dem Vertrauen auf „uns, das Volk“.

Dass die meisten Amerikaner sehr wohl auf staatliche Einrichtungen wie das öffentliche Bildungswesen und die sozialen Sicherungssysteme angewiesen sind, spricht nicht gegen diese Überzeugung. Die Mentalität „Privat geht vor Staat“ gilt über alle sozialen und ökonomischen Grenzen hinweg. Selbst im Frühjahr 2009, auf dem Höhepunkt der jüngsten, von den Banken heraufbeschworenen Wirtschaftskrise, war mehr als die Hälfte der Amerikaner der Ansicht, ein starker Staat, „big govern-ment“, sei ein größeres Problem als „big business“.

Die Republikanische Partei steht seit mehr als hundert Jahren für das Modell eines „schwachen Staates“, der möglichst wenig reguliert und den Bürgern so wenige Steuerlasten wie möglich auferlegt. Die Demokraten versprachen den Armen und den Einwanderern bis zur Weltwirtschaftskrise von 1929 zwar mehr, vertraten im Kern aber eine ähnliche Politik wie die Republikaner- so stark ist der Gedanke eines „schwachen Staates“ im Denken der Amerikaner verwurzelt. Tatsächlich war es der Republikaner Theodore Roosevelt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kartelle einschränkte und den Arbeitsmarkt reformierte, um das Funktionieren des Markts zu verbessern. Dennoch war dies ein großer Schritt in Richtung eines „stärkeren Staates“. In der Weltwirtschaftskrise setzte sein Neffe Franklin, ein Demokrat, mit massiven staatlichen Konjunkturprogrammen diesen Weg fort.

Franklin D. Roosevelt vertrat die Minderheit in Amerika: Auch für sie stehen der Einzelne und seine Möglichkeiten im Vordergrund; allerdings mit dem Unterschied, dass der Staat nicht als Hindernis gesehen wird, sondern als Instrument zur Durchsetzung einer Politik, die dem Einzelnen nicht nur eine formale, sondern eine realisierbare Chance bietet. Obwohl Roosevelt die Wirtschaft in <Ie% Rezession mit einer staatlichen Ausgabenpolitik kräftig ankurbelte, gewannen die alten Überzeugungen aber bald wieder die Oberhand.

Gerade die Generation, die in der Weltwirtschaftskrise, während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit am meisten vom „New Deal“ Roosevelts profitiert hatte, wählte von 1968 bis 1992 mit Ausnahme Jimmy Carters, der nur eine Amtszeit regierte, die Republikaner. Der demokratische Präsidentschaftskandidat Bill Clinton siegte 1992 nur, weil, er ein wirtschaftspolitisches Programm vertreten hatte, das nach Rooseveltschen Maßstäben gemäßigt republikanisch war. Heute denken die Demokraten mit Ausnahme ihres kleinen linken Flügels ebenso. Wie groß die Vorbehalte gegen staatliche Interventionen sind, zeigt die Tea-Party-Bewegung. Binnen weniger Monate konnten die populistischen Kreuzzügler für einen „schwachen Staat“ zwölf Prozent der Bevölkerung für sich gewinnen. In deren Augen haben die Präsidenten Bush und Obama mit ihren Rettungsprogrammen für die Banken viel Geld verschenkt, während gleichzeitig viele Amerikaner ihr Haus und ihren Arbeitsplatz verloren. Da kann es doch nur eine Lösung geben: Fegt diese Kerle aus ihren Ämtern! Je schwächer der Staat, desto besser.

Auch die Mitglieder religiöser Gruppen in Amerika folgen bei der Wahlentscheidung den Überzeugungen von einem starken oder einem schwachen Staat. Ökonomische Interessen werden dabei oft außer Acht gelassen. Denn viele, die eigentlich von staatlichen Maßnahmen profitieren könnten, glauben dennoch an einen schwachen Staat; Wenn Amerikaner sich bei Wahlen jedoch abweichend von ihren Ansichten über einen starken oder schwachen Staat entscheiden, dann tun sie das meistens aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit.

Weiße Protestanten aller sozialen Schichten wählen mehrheitlich republikanisch. Denn ihr stark individualistisch geprägter Glaube ist seit den Anfängen der amerikanischen Nation eine der Hauptquellen für die Hervorhebung der Eigenverantwortung und die Vorliebe für einen schwachen Staat. Noch weiter verbreitet ist diese Einstellung in den evangelikalen Bewegungen, die von der Unabhängigkeit bis zum Ersten Weltkrieg innerhalb des Protestantismus dominierten. Sie waren zumeist aus verfolgten Gruppen in Europa hervorgegangen und kultivierter! daher noch entschiedener einen individuellen, spirituellen und obrigkeitsfeindlichen Glauben. Als Opfer europäischer Staaten und Staatskirchen betrachteten sie den Staat mit besonderem Argwohn.

Der Arminianismus – die theologische Basis der Methodisten, der populärsten Glaubensgemeinschaft in Amerika während des gesamten 19. Jahrhunderts – fügte die Idee der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen hinzu: Wir können nicht nur Vergebung unserer Sünden erlangen, sondern uns gänzlich davon befreien. Diese optimistische Lehre, wonach individuelle Anstrengungen zu einer stetigen Verbesserung führen können, geht unzweifelhaft mit der positiven Einstellung der Amerikaner zum Unternehmertum einher.

Wenn Protestanten, Evangelikale und auch Mormonen für die Republikaner stimmen und damit den „schwachen Staat“ wählen, dann stimmen sie letztlich für ihre eigenen Grundüberzeugungen und Werte. Und wenn sie sich der Tea-Party-Bewegung anschließen, dann tun sie das erst recht. Bei den vergangenen drei Präsidentenwahlen entschieden sich die weißen Protestanten in ihrer Mehrheit für den republikanischen Kandidaten, ganz wie es dem historischen Muster entspricht. Für die bevorstehende Kongresswahl wird erwartet, dass mehr als die Hälfte der Protestanten und zwei Drittel der weißen Evangelikalen republikanisch wählen werden, darunter jenes Drittel der evangelikalen religiösen Rechten, die der Tea-Party-Bewegung zugerechnet wird.

Warum aber steht eine Minderheit der Protestanten den Demokraten nahe? Die Antwort ist in den Folgen einer individualistischen Obrigkeitsfeindlichkeit zu suchen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Ablehnung der Obrigkeit eine progressive Kraft, die sich gegen etablierte politische und religiöse Eliten wandte und für die einfachen Leute Chancengleichheit schaffen wollte. Für diesen Liberalismus votieren die republikanischen Protestanten. Doch im zurückliegenden Jahrhundert brachte der freie, unregulierte Markt auch große Not über die Arbeiter – was dem von Jesus geforderten Dienst an den Armen widerspricht.

Dieser religiöse Auftrag führte etwa ein gutes Drittel der Protestanten in das Lager der Demokraten; und zwar sowohl solche mit niedrigem Einkommen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, als auch solche mit hohem Einkommen, die der Ansicht sind, der Staat müsse den einfachen Leuten helfen, Boden unter die Füße zu bekommen – auch das ein Beispiel für religiöse Überformung.

Der christliche Auftrag, den Bedürftigen zu helfen, zeitigte jedoch nicht nur bei Mitgliedern der protestantischen Hauptkirchen Wirkung, sondern auch bei Evangelikalen, dem unerschütterlichsten republikanischen Block. Der evangelikale Theologe Scot McKnight sprach daraufhin von der „größten Veränderung innerhalb der evangelikalen Bewegung am Ende des 20. Jahrhunderts“ und von einem „christlich-sozialen Gewissen ganz neuer Art“.

Millionen Evangelikaler haben sich mittlerweile von der religiösen Rechten losgesagt und treten nun für eine gegen Militarismus und Konsumdenken gerichtete Politik ein, in deren Mittelpunkt die Bekämpfung der Armut, der Umweltschutz und eine Reform der Einwanderungsgesetze stehen. Während sich noch immer mehr als die Hälfte der Mitglieder der protestantischen Hauptkirchen für einen schwachen Staat ausspricht, sind es bei den Evangelikalen nur noch 48 Prozent – ein bemerkenswerter Rückgang angesichts der Inbrunst, mit der sich ihr Individualismus früher gegen den Staat richtete.

Die meisten „neuen Evangelikalen“, wie man sie nennt, sind zwar wie die „alten“ gegen die Abtreibung. Doch viele setzen zur Verringerung der Abtreibungszahlen auf finanzielle, medizinische und menschliche Hilfe für Schwangere – und nach der Geburt für Mutter und Kind. Unter den jüngeren weißen Evangelikaien billigen 58 Prozent gewisse Formen gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, und selbst von den älteren weißen Evangelikalen sind 37 Prozent für eingetragene Partnerschaften. Wegen der Abtreibungsfrage wollen viele „neue Evangelikale“ die Demokraten nicht wählen. Doch wenn diese „neuen Evangelikalen“ Republikaner bleiben, wird die Republikanische Partei durch deren Engagement für Umweltschutz, Armutsbekämpfung und eine Reform der Einwanderungsgesetze unter Druck geraten. Das könnte durchaus der größere Erfolg sein.

Christliche Glaubensüberzeugungen verändern das vorherrschende politische Muster bei den Protestanten also auf zweierlei Weise: Der Auftrag, den Bedürftigen zu helfen, lässt bei einer beträchtlichen Minderheit die Distanz zum schwachen Staat der Republikaner wachsen. Doch der Widerstand gegen Abtreibung und Homoehe treibt selbst Protestanten mit Sinn für einen „stärkeren Staat“ zurück zu den Republikanern. Deshalb besteht keine einfache Korrelation zwischen Anhängern der Tea-Party-Bewegung und Protestanten mit Ausnahme der Religiösen Rechten. Zwar sind die meisten Mitglieder der Tea-Party-Bewegung Protestanten, aber die meisten Protestanten gehören nicht zur Tea-Party-Bewegung. Dasselbe gilt für die Evangelikalen.

Bei den amerikanischen Katholiken nahm das Verhältnis zwischen Politik und Religion eine ganz andere, nahezu entgegengesetzte Entwicklung. Die meisten begannen als Demokraten, während sie heute ein breiteres politisches Spektrum abdecken. Zwar bevorzugen die nicht aus Lateinamerika stammenden Katholiken zur Hälfte noch immer einen starken und nur zu 37 Prozent einen schwachen Staat. Doch als Einwanderergruppe, die noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts unter Vorurteilen und Diskriminierung zu leiden hatte, gaben die Katholiken lange Zeit viel eindeutiger einem stärkeren Staat den Vorzug, weil sie einen Staat benötigten, der ihnen Hilfe anbot und Verständnis für die Belange der Einwanderer zeigte. Außerdem haben Katholiken gemeinhin ein positiveres Verhältnis zu Institutionen.

Der katholische Korporatismus hat seine Grundlage im Glauben an den Leib Christi und überträgt sich von dort auf die Kirche als Körperschaft, die dem Christentum in der Welt Zuflucht bietet und es verwirklicht. Zwar ist auch nach der katholischen Lehre der Gläubige verantwortlich für sein Tun, doch das Gewicht liegt eher auf der Anhänglichkeit an die Institution als auf zupackend-unternehmerischem Handeln. In gewissem Sinne ist die Kirche für die Gläubigen ein Gerüst, an dem sie sich aufrichten können. Während der protestantische Individualismus in eine synergetische Wechselwirkung mit dem „frontier“-Denken trat und eine zupackend-individualistische Einstellung förderte, beeinflusste der katholische Korporatismus die Einwanderer in den Städten. Dort schränkten Vorurteile in gleichem Maß die Nutzung der Chancen ein, wie die Einstellung vorherrschte, dass man dem Staat nicht mit Misstrauen begegnen muss, sondern Hoffnungen in ihn setzen kann.

Als die Demokraten im 19. Jahrhundert die katholischen Wähler zu umwerben begannen, gewannen sie eine Gruppe für sich, die ihnen bereits zuneigte. Seit die Feindseligkeit gegen die Katholiken geschwunden ist und die Katholiken verstärkt in den höheren sozialen Schichten zu finden sind, machen sie wie einst die Protestanten die Erfahrung, dass sich ihnen zahlreiche Chancen bieten. Und wie die Protestanten haben sie zwei Gründe, sich den Republikanern zuzuwenden: niedrigere Steuern und weniger staatliche Regulierung. Außerdem wendet das republikanische Parteiprogramm sich gegen die Abtreibung. Bei den drei zurückliegenden Präsidentenwahlen stimmte folglich eine Mehrheit der nicht aus Lateinamerika stammenden Katholiken für die republikanischen Kandidaten. Ein ähnliches Wahlverhalten und damit eine beträchtliche Veränderung gegenüber der Tradition ist auch in der kommenden Woche zu erwarten.

Die aus Lateinamerika stammenden Katholiken zeigen heute ähnliche politische Einstellungen, wie sie lange von den nicht aus Lateinamerika stammenden Katholiken vertreten wurden. Aufgrund ihrer ökonomischen Interessen, ihrer korporatistischen Einstellung und der Sorge um die Einwanderer aus Lateinamerika stimmen sie trotz ihrer Ablehnung der Abtreibung und der Homoehe für die an einem stärkeren Staat ausgerichtete Politik der Demokraten. Während etwa die Hälfte der nicht aus Lateinamerika stammenden Katholiken 2008 für die Republikaner stimmte, wählten mehr als drei Viertel der Latinos Obama.

Bei den Latinos hat die religiöse Überformung noch nicht zu einer Abkehr von den ökonomischen Interessen, der Ausrichtung auf Einwanderungsprobleme und den korporatistischen Motiven geführt, die eine Wahlentscheidung für die Demokraten begründen. Republikanische Strategen hoffen allerdings auf diesen Effekt, sobald sich die Einkommenslage der Latinos verbessert.

Die Kinder lateinamerikanischer Einwanderer schließen heute die Lücke zwischen der Armutsgrenze und den mittleren amerikanischen Einkommen im selben Maße wie eingesessene Einheimische nichtlateinamerikanischer Herkunft. Falls die Latinos dem Vorbild der nicht aus Lateinamerika stammenden Katholiken folgen, dürften sie sich sowohl aus ökonomischen Interessen als auch aufgrund ihrer konservativen Ausrichtung an „Familienwerten“ verstärkt den Republikanern zuwenden.

Dieser Prozess hat wohl schon begonnen. Heute gehören 15 Prozent der Latinos evangelikalen Kirchen an, und mehr als die Hälfte der aus Lateinamerika stammenden Katholiken sind Anhänger von Bewegungen, die Elemente charismatischer Erneuerung in ihre religiöse Praxis integrieren. Unter den evangelikalen Latinos, die meist schon in den Vereinigten Staaten geboren sind, finden sich doppelt so viele Anhänger der Republikaner wie bei den katholischen Latinos. Sie teilen nicht nur die Ansichten der Republikaner zur Abtreibung und zur Homoehe, sondern auch zur staatlichen Armenhilfe.

Die afroamerikanische Wählerschaft, die nahezu vollständig im Protestantismus verwurzelt ist, zeigt viele Ähnlichkeiten mit den Latinos. Aufgrund ihrer zumeist prekären wirtschaftlichen Lage bilden sie den homogensten demokratischen Block. Dass sie 2008 zu 98 Prozent für Obama stimmten, entspricht ihrer grundsätzlichen Unterstützung der Demokraten – und das, obwohl viele von ihnen Abtreibung und Homoehe ablehnen. Bei sozialem Aufstieg ist eine geringfügige Hinwendung zu den Republikanern zu verzeichnen, doch dieser Trend ist bislang weder Statistisch noch politisch bedeutsam.

Hindus, Buddhisten, Muslime, nicht kirchlich gebundene Gläubige und Ungläubige, die insgesamt nur einen geringen Teil der amerikanischen Wahlberechtigten ausmachen, neigen eher zu den Demokraten und einem „stärkeren Staat“. Das gilt auch für die amerikanischen Muslime, die nach Meinung vieler Europäer den oberen Einkommensschichten angehören, aber in Wirklichkeit zu mehr als der Hälfte weniger als das Durchschnittseinkommen verdienen.

Bei all diesen Gruppen ist die religiöse Überformung politischer Ansichten zugunsten der Republikaner kaum ausgeprägt. Obwohl den muslimischen Amerikanern Homosexualität mehrheitlich Unbehagen bereitet, sind sie etwa zu gleichen Teilen für und gegen die Abtreibung. Hindus, Buddhisten, Anhänger sonstiger Glaubensrichtungen, nicht kirchlich gebundene Gläubige und Ungläubige sind in diesen Fragen progressiver. Sozialer Aufstieg könnte auch hier eine Hinwendung zu den Republikanern bewirken, doch dafür gibt es noch keine Anzeichen.

Die jüdische Bevölkerung Amerikas, die mit 1,7 Prozent nur einen kleinen Anteil an der Gesamtbevölkerung stellt, gehört nach den Afroamerikanern zu den treuesten Anhängern der Demokratischen Partei und stimmte jeweils zu mehr als drei Vierteln für Clinton, Gore und Obama.

Gerüchte, dass Obama ein Muslim und daher gegen Israel eingestellt sei, konnten an der Parteibindung der jüdischen Amerikaner ebenso wenig etwas zu ändern wie Obamas Eintreten für eine Zweistaatenlösung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern, die den Interessen beider Seiten Rechnung trägt. Auch die Tatsache, dass die amerikanischen Juden mehrheitlich der Mittelschicht angehören und über einen Hochschulabschluss verfügen, ändert wenig an ihrer Einstellung, obwohl die soziale Stellung eigentlich eine Neigung zu den Republikanern erwarten ließe.

Hier sind zwei religiöse Überformungen im Spiel: Eine zahlenmäßig weniger bedeutsame in der kleinen Gruppe ultraorthodoxer Juden, die wegen ihrer konservativ-religiösen Einstellung zu Abtreibung und Homosexualität und der israelfreundlichen Haltung der Republikaner kaum den Demokraten zuneigen dürften. Bei Wahlen entscheiden sich die meisten dennoch für die Demokraten. Weitaus bedeutsamer ist eine religiöse Überformung, die amerikanische Juden auf Distanz zu ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen gehen lässt. Sie hat ihren Ursprung im biblischen Gebot, den Armen zu helfen, und in einer jahrtausendealten Tradition der mildtätigen Gabe. Mit der Emanzipation aus dem Getto im 19. Jahrhundert erweiterte sich diese Mildtätigkeit auf ein breites Spektrum nichtjüdischer Wohlfahrtseinrichtungen, wobei die amerikanischen Juden bis heute einen weitaus höheren Beitrag zu den philanthropischen Aktivitäten leisten, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht.

Außerdem sind im jüdischen Denken Einfühlung und Mitgefühl – mit Verfolgten, mit dem Anderen, mit Einwanderern – durch den ausgeprägten Antisemitismus seit der Spätantike tief verwurzelt,. Daher haben amerikanische Juden nicht nur Sympathie für eine staatliche Unterstützung der Armen, sondern sie legen auch gegenüber Abtreibung und Homosexualität eine liberalere Haltung an den Tag als die Angehörigen der meisten anderen religiös gebundenen Gruppen.

Weil die Einwanderung der Juden in die Vereinigten Staaten ihren Höhepunkt um die Wende zum 20. Jahrhundert erreichte, sind die meisten Juden heute in der dritten oder vierten Generation Amerikaner. Sie hatten also genug Zeit, um die vorherrschende Ansicht zugunsten eines „schwachen Staates“ zu übernehmen. Doch die religiöse Überformung der politischen Einstellungen reicht hier aus, um die Nähe zu den Demokraten zu sichern. Verglichen mit etwa 20 Prozent der Juden wählte 2008 fast die Hälfte der protestantischen Latinos republikanisch, obwohl sie noch längst nicht so lange in den Vereinigten Staaten leben.

Tatsächlich haben die Demokraten im ganzen Land gleich mit zwei Nachteilen zu kämpfen. Die Orientierung am starken Staat ist in Amerika nicht nur die Minderheitsmeinung, die Demokraten gelten zugleich auch als die weniger religiöse Partei – und das in einem hochreligiösen Land. Obwohl Barack Obama und Hillary Clinton sich 2008 im Wahlkampf religiös stärker engagierten als der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain, hielten nur 28 Prozent der Amerikaner Obama für den religiöseren Kandidaten. Und obwohl die Erfahrung als Einwanderer und die religiöse Überformung der politischen Ansichten im Sinne einer Hilfe für die Armen viele Wähler veranlassen, sich den Demokraten zuzuwenden, leidet die Partei unter ihrem säkularen Image und dem religiösen Image der Republikaner.

Manchmal wird den Amerikanern vorgeworfen, sie stimmten gegen ihre persönlichen wirtschaftlichen Interessen, wenn sie Kandidaten der Republikanischen Partei wählten. Die oben beschriebenen Verhaltensmuster legen den Gedanken nahe, dass viele auch ihre religiösen Interessen nicht richtig verstünden, weil sie trotz der Überzeugung, dass den Armen geholfen werden müsse, republikanisch wählten. Man darf aber nicht übersehen, dass Eigenverantwortung und ein schwacher Staat das amerikanische Credo schlechthin darstellen. Deshalb fühlen sich Millionen von Einwanderern zu dem Land hingezogen. Erfolgreich sind sie nach diesem Verständnis dann, wenn sie hart gearbeitet haben und so weit aufgestiegen sind, dass dieses Credo als richtig empfunden wird. Dann erst haben sie den amerikanischen Traum verwirklicht.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.10.2010
D
ie Verfasserin lehrt an der New York University Multilinguale und Multikulturelle Studien
und war in diesem Jahr abermals Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin.