Feb 092012
 
Neues zur „Abendländischen Wandlung“ von Jean Gebser

Von Peter Gottwald

Ockham trifft Gebser in der Jenseits-Bar.
Ockham: Sie haben aber einen dichten und wirren Bart.
Gebser: Ich schätze jedes Haar und freue mich über jede Locke.
Ockham: Sie sind ja ein Dichter!
Gebser nickt und lächelt
Ockham trinkt aus, nickt Gebser zu und geht, man hört ihn noch murmeln
entia non sunt  multiplicanda praeter necessitatem – ha, diese Dichter!
Gebser, nachdenklich, für sich: Immer noch derselbe Analytiker… Messerhelden…

Einleitung

Wenn nach fast 70 Jahren dieses Werk erneut verlegt wird, muss man sich nach dessen Aktualität, aber auch nach seiner Richtigkeit fragen, was Gebsers Einschätzungen einzelner Wissenschaften betrifft. Nur so dürfen wir hoffen, an seinem großen Werk, dem Aufweisen einer neuen Bewusstseinsstruktur, einer neuen kulturellen Möglichkeit in unserer von Krisen geschüttelten Zeit mit- und weiterzuarbeiten.

Das soll im Folgenden in Bezug auf die Biologie und die Psychologie unternommen werden. Dabei ist jeweils mit – aus heutiger Sicht – Fehleinschätzungen Gebsers zu beginnen, mit der Bekräftigung seiner Sichtweise fortzusetzen und mit neuen Hinweisen auf eine in diesen Wissenschaften auch heute sich manifestierendes „Neues Bewusstsein“ zu enden.

1. Die Biologie

Die Beobachtungen von de Vries, von ihm selber irrtümlich als „Mutationen“ im heutigen (genetischen) Sinne verstanden, war zu keiner Zeit „ein Schlag gegen die von Darwin aufgestellte Abstammungslehre“ (I/239). Das spontane Auftreten einer Veränderung in den Erbanlagen, sei es durch die Einwirkung von Strahlung oder chemischen Stoffen, ist vielmehr zu einer weiteren Säule in der Erklärung des Evolutionsgeschehens geworden. Mutation und, wie Darwin schon sagte, Selektion sind und bleiben einstweilen die einzigen uns bekannten Faktoren in diesem Prozess. „Zufall und Notwendigkeit“ nannte deshalb Jaques Monod seine moderne Beschreibung der Phylogenese1.
Gebsers positive Bezugnahme auf die Quantentheorie trägt nichts zur Erklärung des Evolutionsprozesses bei (I/239). In diesem Zusammenhang von „Kräften“ zu sprechen, die „aus dem Inneren“ eine Mutation hervorbringen können, führt ebenfalls nicht auf die richtige Spur (I/240). Selbst die von Gebser erwähnte „Quantenbiologie“, welche auch für die Biologie quantenmechanische Aspekte geltend machen möchte und damit die „kausalen“ Faktoren durch eine „akausale“ Betrachtung ergänzt wissen will, kann die Evolutionstheorie nicht aus den Angeln heben (I/240). Auch der Bezug auf das Werk von Edgar Dacqué, das für Gebser noch ein Hinweis auf eine andersartige Biologie war, ist heute nicht mehr wirkmächtig, weil obsolet, besser: irrelevant für die besonderen Fragen der Biologie. Es scheint, als habe sich Geber überwiegend gegen einen „Darwinismus“ wenden wollen, der freilich als neue Ideologie, auf einem politischen Missverstehen von Darwins Lehre gründend, immer schon und immer noch kritisch zu hinterfragen ist.

Im Folgenden geht Gebser auf drei Strömungen der biologischen Wissenschaft ein, auf drei „Paradigmata“ im Sinne Thomas Kuhns2  also, die sich teils ergänzen, teils eindeutig widersprechen: Eine materialistische d.h. im Wesentlichen biochemische, sodann eine am Gestaltbegriff und am Umweltbegriff orientierte, und schließlich eine „vitalistische“, die, von Driesch ausgehend, zu Strukturen wie der Kulturbiologie eines Ludwig Klages und der Völkerbiologie eines Oswald Spenglers führte, die Gebser mit Recht kritisierte und die heute für die Biologie keine Bedeutung mehr haben.

Auch Begriffe wie „Pflanzenschrift“ (cf. Bose) und sogar Pflanzenpsychologie (cf. Francé) sind heute, anders als noch für Gebser, ohne eine fundamentale Bedeutung für die Biologie (I/242-246).

Gehen wir nun zu den beiden verbleibenden Strömungen  zurück, so ist eine Mahnung Gebsers aufschlussreich. Es gehe nämlich in der Biologie darum, „anschauliche Tatsachen eher zu abstrahieren“, da sich sonst nämlich seelisches Geschehen im Forscher  störend auswirken könne: Seine „Gefühle, Neigungen, ja selbst Triebe“ (I/247) könnten bei seinen Wertungen eine Rolle spielen, die „naturgemäß unser Denken und unser Urteil verwirren müssen.“ Abstraktionen spielen nun sowohl im „materiellen“ wie im „gestaltorientierten“ Paradigma hervorragende Rollen.

Dem zweiten wendet sich Gebser mit einer Darstellung der Werke Herrmann Friedmanns intensiv zu. Die Begriffe „Gestalt“, allgemeiner noch „Form“ weisen nun auf eine unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten hin, die insbesondere von der Psychologie um 1920 genauer untersucht und zu einer eigenen „Schule“ dieser Wissenschaft wurde – davon später mehr. Friedmann suchte eine Biologie zu entwickeln, in der diese Begriffe zu Grundbegriffen werden sollten, hinter denen alle messbare  „Größen“ zurückzutreten hätten; auch Mathematik und Physik hätten dann das Primat einer solchen Biologie anzuerkennen. Entsprechend entwarf Friedmann die Ansätze zu einer „Gestaltmathematik“, der – im Gegensatz zu Gebsers Einschätzung – jedoch bis heute kein bahnbrechender Erfolg beschieden war. Er geriet völlig in Vergessenheit. Auch heute noch aber ist Friedmanns Nachweis einer Überwindung des „Haptischen“ als grundlegende Wahrnehmungsweise durch das „Optische“, welches eben zu „Gestalten“ führt, von Bedeutung. Freilich müsste dieses Werk gleichsam für die Gegenwart „neu entdeckt“ werden, damit es nicht in derselben Vergessenheit verbleibt wie Kaysers „Harmonik“, die für Gebser noch eine so große Bedeutung hatte.

Gebser zeigte am Beispiel der Arbeiten v. Monakows, Goldsteins und Haldanes, wie sich in den 30er Jahren ein „Holismus“ entwickelte, welcher die Zersplitterung in Physikalisches, Biologisches und Geistiges zu überwinden suchte (I/257-262). Diese „Ganzheitslehren“ verloren jedoch, wie man heute sagen muss, ihre Bedeutung zugunsten der sich entfaltenden Allgemeinen Systemtheorie, die in der Gestalt der Kybernetik Regelungsvorgänge in Lebewesen und Maschinen zu untersuchen begann und damit zu einer neuen Herrschaft des Mechanisch-Materiellen Paradigmas führten, einem neuen Universalismus, in dem nun freilich neben dem alten Kausalitätsprinzip (die Kybernetik spricht von „Wirkungsgefügen“) die Informatik eine immer  wichtiger werdende Rolle spielt. Unterschiede in der „Organetik“, d.h. also der materiellen Beschaffenheit eines Systems werden dann jeweils einer „materiellen Wissenschaft“ überlassen (Anatomie, Physiologie und Chemie) oder aber direkt in Technik umgesetzt.

Wenn Gebser in den Arbeiten Portmanns das Wagnis anerkennt, „auf den geistigen Aspekt und dessen vernachlässigten Einfluss auf die Biologie hinzuweisen“ (I/262), so ist festzuhalten, dass Portmann diese Haltung für die Erforschung des menschlichen Verhaltens forderte, d.h. aber für die Erforschung eines ganz neuen, erst mit dem (biologisch gegründeten) Menschen in Erscheinung tretenden Bereichs, nämlich des Geistigen! Dieses ist im genauen Sinne das neue „Emergente“, eine Kulturleistung, um deren Genese und Entfaltung es Gebser ja auch in „Ursprung und Gegenwart“ ging. Es entsteht damit eine neue, eine Philosophische Anthropologie oder eben auch Kultur-Anthropologie, die das Biologische als Basis zu wahren hat – aber für das Geistige ganz neue Methoden und Aussagen zu finden hätte! Und da hat Portmann mit dem bei Gebser zitierten Satz „Die klaren Gestalten, die um uns leben, sie sind Zeugen der Gestaltungen, welche größer sind als das auf Erden sichtbare“ (I/263) eine Aussage gewagt, die auf ein Transzendentales Bezug nimmt – darin Gebsers eigenen Aussagen nahe kommend. Gerade hier aber wird der Wissenschaftler, sofern er Agnostiker ist, Zurückhaltung üben und jedenfalls, wenn er philosophisch interessiert ist, nach den Regeln und Spielzügen dieses für einen Wissenschaftler obsolenten (oder doch fremd gwordenen) Sprachspiels fragen.

Auf Gebsers Wahrnehmung hat Portmann „geantwortet“, indem er für die Festschrift zu Gebsers 60. Geburtstag einen Artikel verfasste mit dem Titel „Neue Fronten der biologischen Arbeit“3. Darin beschreibt er den Siegeszug einer physikalisch-chemisch orientierten Biologie, auf deren Grundlage eine Biotechnik als industrielle Macht entwickelt wurde. Dieser Richtung hält er eine andere, umfassendere, entgegen, die er als „betont qualitative Lebensforschung“ bezeichnet (24). Die Morphologie wird als Vorläufer genannt, die „Überwindung der Sonderung von Leib und Seele“ als Ziel. Lebewesen zeichnen sich durch ihre Fähigkeit zu einem Wandel, zur Anpassung an Umweltveränderungen, aus, und deshalb nennt Portmann sie hier „Subjekte4“, denen sich eine neue, eine Verhaltensforschung, widmet. Sie betont die Bedeutung der großen Verschiedenheit der Lebensformen neben der allgemein anerkannten Allgemeinen Biologie der biochemischen Prozesse. Dabei richtete sich Portmanns Interesse auf die „unadressierten“ Erscheinungen im „Äußeren“ der Lebewesen, die weder durch ein Nutzen- noch durch ein Zwecke-Denken zu erfassen sind. Hier könnte sich ein neuer, ein „höherer“ Sinn manifestieren. Portmann betonte die Notwendigkeit, sich als Forscher zu entscheiden und die Werte zu reflektieren, welche diese Entscheidung tragen. Freilich hat die allgemeine Systemtheorie in Verbindung mit der Informatik heute den größeren Einfluss und kann aufgrund ökonomischer Auswirkungen stärker mit gesellschaftlicher und finanzieller Unterstützung rechnen.

Auch die um 1935 sich entfaltende Ethologie (Konrad Lorenz, Erich von Holst und Nico Tinbergen, um nur einige zu nennen), auf die Gebser nicht hinwies, die aber recht genau dem entspricht, was Portmann für eine „qualitative Lebensforschung“ forderte, konnte gegen diese Trend zur Systemtheorie nicht nachhaltig wirken, zumal einzelne Vertreter wie die Lorenz-Mitarbeiter H. Mittelstaedt und N. Bischof selber schon kybernetische Analysen betrieben5.

Allerdings ist doch wohl auch durch diese neuartige Form der Beziehungsaufnahme zu vielen Tierarten (Fische, Graugänse, Affenarten, Wale), durch Beobachtung ohne experimentelles Eingreifen, bei vielen Menschen, nicht nur diesen Forschern, eine neue Art des Mitgefühls entstanden, aufgrund dessen nicht nur Biologen, sondern auch die Teilhaber an den zahlreichen Produktionen der Tierfilmerei, vermehrt bereit zu sein scheinen, jeglichem Tier- und Pflanzenleben auf unserem Planeten ein Lebensrecht zuzugestehen, welches das Menschenrecht auf Ausbreitung und Ausbeutung einzuschränken beginnt. Dies mag man als einen weiteren Keim eines Integralen Bewusstseins verstehen, auch wenn sich noch nicht realisert, was Gebser später eine Systase nennen wird, welche das Systemdenken überwindet.

Dabei geht es nicht nur um kausale Faktoren, wie sie in der neuen „Ökologie“ als der Lehre von den Lebewesen in Lebensräumen in systematischen Zusammenhängen, noch vorherrschend sind, sondern auch um „akausale“ Betrachtungen, besser gesagt eine neuartige „Haltung“, die z.B. der (stark bedrohten) Artenvielfalt6  eine neue Bedeutung gibt – auch jenseits der berechtigten Befürchtung, dass man selbst in der Ökologie nicht alle Faktoren oder Variablen kennt. All dies geht mit der von Vielen schon eingesehenen Notwendigkeit einher, sich selbst, und die Gattung Mensch insgesamt, einzuschränken zugunsten anderer Lebensformen – und dagegen erhebt sich sofort und an vielen Orten ein Widerstand, der von einer noch zu entwickelnden „Ökosophie“ nichts wissen will, weil sie eine Wandlung jedes Einzelnen voraussetzt und unsere verschwenderische Lebensform in Frage stellt.

Hier ließe sich eine ganze Fülle von neueren Veröffentlichungen anschließen, in denen mehr oder weniger deutlich auf diese Notwendigkeit hingewiesen wird und alternative Szenarien betrachtet werden. In bunter Reihenfolge:

  • So spricht A. D. Sacharow7  schon 1973 von einer dringend notwendigen „Geohygiene“, die jedoch nur auf internationalem Wege möglich werden kann.
  • Carl Honorés8  ergänzt mit seinem Buch „In praise of slow“ (2004), dem schon Ivan Illich9  mit seiner Forderung nach „Entschleunigung” voranging (1978) das bekannte „Small is beautiful“.
  • Roger Garaudy10  plädiert in seinem Buch „Das Projekt Hoffnung“ gegen die herrschende Wachstumsideologie, welche die Lebenswelt bedroht.
  • Pierre Rousseau11  spricht in seiner „Geschichte der Zukunft“ (ein gleichsam „zeitfreier Titel“) von einem „Attentat gegen die Natur“, für das der Mensch zur Rechenschaft gezogen werde.
  • Johan Galtun12  analysiert in seinem Buch „Eurotopia: Die Zukunft eines Kontinents“ Konfliktformationen in der Welt von Morgen, dort u.a. die Mensch-Umwelt-Problematik.
  • Hans-Peter Dürr13  erlegt seiner „Zivilgesellschaft“ die Sorge um die Umwelt und ein nachhaltiges Naturverständnis auf.
  • Dennis Meadows14  „Die Grenzen des Wachstums“ ist inzwischen schon ein Klassiker mit seiner Analyse u.a. von Umweltverschmutzung und Lebenserwartung.
  • Friedrich Cramer15  fragte schon 1978 in seinem Buch „Fortschritt durch Verzicht“: Ist das biologische Wesen Mensch seiner Zukunft gewachsen? Nur wenn es den Gang Natur – Widernatur zu einer „Übernatur“ vollendet, meinte er: „Unter Übernatur verstehe ich die vom Menschen bewusst gemachte Natur. Er erkennt den Anteil von Natur in sich selbst, kann ihn qualitativ und quantitativ beschreiben, er braucht ihn weder zu tabuisieren  noch romantisch zu überhöhen. Er hat auch die Prinzipien der Funktion und des Entstehens der Natur und seiner selbst soweit geistig durchschaut, dass er die Zusammenhänge und Bedingungen seiner Existenz und damit die Bedingtheit seines Seins erkennt. Dadurch wird auch die außer ihm befindliche Natur wieder zum Partner. Der Mensch kann wieder einswerden mit der Natur, die er sich dadurch völlig aneignet, aber eben nicht aneignet im Sinne einer Eroberung, sondern einer Identifikation.“(180) Hier klingt an, was Gebser später „Transparenz“, ja „Diaphanität“ nennen wird.
  • Nigel Calder16  stellte uns in seinem Buch „Vor uns das Paradies“ das „Umwelt-Spiel“ als eine Facette von Möglichkeiten vor, wie wir zu einem neuen Miteinander mit der Natur kommen können: So könnte man beispielsweise einen Teil der Welt als „Wildnis“ belassen, in der man die Natur hegen und pflegen, aber auch nach festen Regeln jagen könne. Eine sich entwickelnde Biotechnologie dürfe man in dieser Wildnis nur mit großer Vorsicht einsetzen, und zur heute erst so genannten Ökologie meinte er, es gelte die Wechselbeziehungen zwischen den Arten Tag für Tag und Jahr für Jahr zu beobachten.
  • Pierre Bertaux17  sprach bekanntlich schon von einer „Mutation der Menschheit“ und fand es „geradezu unumgänglich, „das Menschheitsgeschehen unserer Zeit als biologisches Ereignis zu betrachten und zu werten“. Ich verstehe diese Aussage so, dass eine kulturelle Evolution im Sinne Gebsers nur im Einklang mit der Natur erfolgreich sein kann, d.h. beiden (für eine Weile) die Existenz sichert.
  • Dennis Gabor18  stellte uns eine „Menschheit morgen“ vor, die im Einklang mit der Natur lebt und ein inner-gesellschaftliches Gleichgewicht zwischen beharrenden und schöpferischen Tendenzen gefunden hat. Interessanterweise spricht er von einer „Erziehung zur Muße, die man treffender als eine Erziehung zum „Glücklichsein in einer komplexen Zivilisation“ ansehen müsse! Hier begegnen wir einem Gedanken, den Josef Pieper19  in seinem Buch „Muße und Kult“ entwickelt hat.
  • Prentice Mulford20  hatte ja schon früh ein Ende von „Unfug des Lebens und des Sterbens“ gefordert. Immer wieder lesenswert sein „Geplänkel mit einem Baum“, aus der ich nur die Moral ziehen kann, dass es oft besser ist, nicht gegen die Natur zu kämpfen, sondern still und achtsam zu beobachten!

Vergessen wir nicht, dass bisher nur Männer zu Wort kamen, und dass wir gut daran tun, die Stimmen der Frauen zu hören, die, wie Riane Eisler21 und Carola Meier-Seethaler22, eine eigene Sicht auf die Kulturgeschichte entwickelt haben!  Der Wahlspruch „von der Herrschaft zur Partnerschaft“ mag dann nicht nur für das Verhältnis der Geschlechter, sondern auch für das von „Mensch und Natur“ gelten.

Gleichsam als Exkurs möchte ich hier aus den Werken des Biologen und Anthropologen Joachim Illies zitieren, der den Gebser-Lesern durch die einfühlsame Einführung in Gebsers Hauptwerk bekannt ist (II/1-13).

Schon in seinem Buch „Wissenschaft als Heilserwartung23“ schlägt er die Themen an, die auch Gebser bewegten: Technik als Hoffnung, Grenzen des Lebens, Wissenschaft im Wandel, das Bild des Menschen, Können und Dürfen. Illies setzt sich kritisch mit der Hoffnung auf Lebensverlängerung durch Organersatz und auf ein Überleben nach „Einfrieren“. Er fordert auf, das Sterben und den Tod als natürliche Prozesse anzunehmen, die zu den Bedingungen des Lebendigen gehören. Wo er sich auf Gebiete wie die Mythologie und die Theologie vorwagt, gelangt er zu Aussagen, die denen Gebsers sehr nahe kommen: Stets geht es ihm um ein „Wahren“, das sich gerade auch in der Offenheit für Neues zu bewähren hat. Auch im „Jahrhundert der Biologie“, dem XX., galt für ihn, dass moralische Alltagsentscheidungen möglich und nötig sind: „Konsumverzicht, Askese, Bemühung um Individualitätsgewinn  und Behauptung in der drohenden Uniformiertheit von Handeln und Denken sind Ansätze zu einer Selbstgestaltung der menschlichen Gegenwart, die allein eine menschliche Zukunft möglich macht“( 131).

Titel wie „Zoologie des Menschen“ (1971)  und „Anthropologie des Tieres“ (1973) weisen darauf hin, dass und wie Illies den Menschen als einen Teil der Natur versteht, der aber darüber hinaus auch die Verantwortung dafür trägt, dass den „Tieren“ ihre Lebensräume und –möglichkeiten zu erhalten sind!

Seine Werke sind ein unserer Zeit nahes Zeugnis dafür, wie ein Wissenschaftler eines bestimmten Fachgebietes aus der intuitiven Erfassung eines „Neuen“ heraus, das sich wie bekannt in der enthusiastischen Aufnahme von Gebsers Werk zeigte, seine Wissenschaft, die Biologie, in einen größeren Sinnzusammenhang neu einbetten konnte.

Abschließend möchte ich eine neuere Zusammenfassung von der „Wissenschaft des Lebens“ zitieren, die von dem Biologen Ernst Mayr stammt24. Ihm geht es um eine Darstellung der Biologie als eines „Ganzen“, das den Spezialisten wie den Genetikern, Embryologen, Taxonomen, Ökologen und vielen anderen aus den Augen geraten ist. Dabei ist seine „systemische Auffassung“ eine leitende, welche davon ausgeht, dass die lebenden Organismen eine Hierarchie von immer komplexeren Systemen, von Molekülen, Zellen und Geweben bis hin zu ganzen Organismen, Populationen und Arten, bilden, und dass in jedem „höheren System“ neue Merkmale auftreten (Emergenz), die sich allein aus Kenntnis der Bausteine nicht voraussagen lassen. Damit bekräftigt er eine Sichtweise, die oben als systemtheoretische oder kybernetische bezeichnet wurde25. Über diese hinaus aber finden wir in seinem Werk eine tiefe Sorge und die Einsicht, dass wir die von uns selbst geschaffenen Probleme, hier nennt er Überbevölkerung, Umweltzerstörung und die Unwirtlichkeit der Städte, „weder durch technischen Fortschritt noch durch Literatur oder Geschichte behoben werden, sondern nur durch Maßnahmen, die auf einem Verständnis für die biologischen Wurzeln dieser Probleme beruhen.“ Er hofft, gerade auch als ein philosophisch gebildeter Biologe einen Beitrag leisten zu können zu einem „besseren Verständnis von unserem Platz in der Welt und von unserer Verantwortung für die übrige Natur“. Hier trifft er sich mit Philosophen wie Hans Jonas26 und dessen „Prinzip Verantwortung“, Anthropologen wie Gregory Bateson27 und seinem Aufruf zu einer „Ökologie des Geistes“ und Molekularbiologen wie Manfred Eigen28 wie bei einem Symposium, auf dem die Biologie ihre Stimme, als eine im Dialog der Vielen, zur Realisierung eines neuen Bewusstseins für die Existenz des Menschen in der Welt erhebt.

Und zuletzt liefert uns das Buch von Kristian Köchy29  eine Einführung in die „Biophilosophie“, die den Versuch macht, die enorm divergierenden Forschungsbereiche der modernen Biologie zu integrieren und mit philosophischen Konzepten, ja sogar mit politischen Zielsetzungen in Einklang zu bringen.

Damit seien wenigstens einige Hinweise gegeben darauf, dass sich in der Biologie seit Gebsers Wahrnehmungsversuch die Hinweise darauf deutlich vermehrt haben, dass auch hier immer neue Keime für ein Integrales Bewusstsein zu finden sind, die es zu pflegen gilt.

2. Die Psychologie

Folgt man Gebser, so stellt die Psychologie die Frage: Was ist die Seele? Dies nun gilt heute nur noch für die von Gebser genannten Traditionen des Religiösen, vor allem die christlichen Religionen, für den Okkultismus und für die(jenigen) Künstler, die, wie Gebser sinngemäß sagte, „alles was sie schaffen, gestalten oder formen, der ihnen innewohnenden seelischen Kraft zuschreiben, ja selbst in ihrer Fähigkeit des Nachempfindens von Kunstwerken einen Beweis der Existenz der Seele sehen“. Nach wie vor „enthält sich“, wie Gebser sagte, allein der wissenschaftlich eingestellte Mensch, ihre Existenz von vornherein als feststehend anzuerkennen. Um diese Wissenschaften allein wird es im Folgenden gehen, die heute eben nicht mehr „seelisches Geschehen“ untersuchen, sondern das Verhalten, das Handeln und Erleben der Menschen. Ihnen aber wird sogar schon vorgeworfen, die Psychologie habe „die Seele verschleudert, das Bewusstsein verloren und schließlich den Geist aufgegeben30 .“ Dem hätte sich wohl auch Gebser anschließen können, der ja von der Seele sprach, „wenn wir das gänzlich Unfassbare in uns und in der Welt bezeichnen wollen“(I/277).

Es scheint mir wichtig, zunächst noch einmal zu reflektieren, wie Gebser über dies hinaus von „Seele“ sprach, „da wir unter „Seele“ nicht nur die persönliche Seele verstehen wollen, sondern jene bereits größtenteils immaterielle Grundform oder Grundlage alles Natürlichen“(I/288). In seinem Hauptwerk „Ursprung und Gegenwart“ wird er diese als die „Mythische Bewusstseinsstruktur“ bezeichnen, die immer noch in uns präsent und wirksam ist. Sie wahrzunehmen wird dann eines sein, sie wissenschaftlich zu erklären zu suchen, ein anderes – ihr durchaus nicht angemessenes! Nur von dieser Sichtweise her sind Gebsers Betrachtungen zur Psychologie als Wissenschaft plausibel.

Gebser unterscheidet nun zwischen einer „objektiven und experimentellen“ und einer „subjektiven empiristischen“  Richtung dieser Wissenschaft. Der ersteren rechnet er den Behaviorismus und die Gestaltpsychologie zu, welch letztere er trotz der Verwandtschaft zu den schon erwähnten Gestaltlehren nicht näher untersucht. Er vermutet in dieser Richtung durchaus die Möglichkeit, „einst Gestaltungen vorauszunehmen“, geht aber nicht näher auf sie ein.

Inzwischen ist diese Richtung durch die Arbeiten von Wolfgang Metzger31, der ebenso wie der schon von Gebser erwähnte D. Katz, die gesamte Psychologie auf der Grundlage der Gestaltlehre neu aufbauen wollte, zu einem gewissen Abschluss gekommen, da sich seit 20 Jahren hierzu keine neuen Ansätze gesellten. Die Psychotherapieform der „Gestaltpsychologie“ eines Fritz Perls und seiner Nachfolger, ist nur lose mit dem klassischen Gestaltbegriff verbunden, sie versteht sich zwar als Bindeglied zwischen experimenteller und Tiefen-Psychologie,  doch ist sie als Hybridform eben auch von keiner dieser beiden wirklich anerkannt worden32.

Ausführlich bespricht Gebser nun die Tiefenpsychologien, und zwar zunächst das Werk Sigmund Freuds. Ihm verdankten wir die Entdeckung der Wirksamkeit eines „Unbewussten“ – und einen entscheidenden Beitrag zu der Bestimmung, „was nicht Seele ist“ (I/284). Diese Aussage macht, wie sich oben  zeigte, zwar Sinn, trifft aber nicht den Kern von Freuds System, denn dieser vertrat ja die Auffassung, dass er Seelisches durchaus mit seiner Begrifflichkeit von einem „seelischen Apparat, seinen Instanzen, seiner Dynamik und Ökonomie“ vollständig erfassen könne.

Ausführlich stellt Gebser dann die Freudschen Begriffe „Libido“, „Komplex“, „Verdrängung“ und „Sublimierung“ vor; es handele sich um  die begriffliche Fixierung von Wirklichkeiten, die wir höchstens in ihren Äußerungen wahrnehmen. Sie sind Hilfswerkzeug zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren. (I/285) Der entscheidende Schritt zu einer Loslösung vom Materialismus sei ihm allerdings nicht gelungen, und wenn er auch die Grenzen zwischen Körper und Seele „verwischt“ habe, so habe er „andererseits (dies ist seine indirekte Leistung), diese Grenzen klarer herausgearbeitet“. Für Gebser gibt es aber über diese gleichsam „negative Psychologie“ hinaus, wie oben gesagt, eine Gewissheit von Seelischem, das als ein Unzerstörbares tiefer ist, „als dass es in dem gewünschten Maße von verstandesmäßigen Überlegungen erreicht oder aufgehellt werden kann.“ (I/287)

Noch einmal arbeitet er diese Sichtweise genauer aus, indem er Freuds Begriffen von „Seele“ ein „reduziertes Gepräge“ nennt, welches man ihm heute nicht mehr geben dürfe. Es ist interessant, dass Gebser sich nicht mit Georg Groddeck33  und seinem Werk auseinandergesetzt hat, der, so möchte ich sagen, diesen seinen eigenen Vorstellungen von einem „Seelischen“ als einem stets Wirksamen, ja sogar Numinosen, näher kam! Dagegen bespricht er nun das Werk Alfred Adlers, dem er vorwirft, dass dadurch Freuds Lehre von den Lebenstrieben noch mehr missverstanden wurde, „da er diese mit ungeeigneten Mitteln bekämpfte.“(I/287) Man vergleiche hierzu die 1978 von Russell Jacoby34  vorgelegte Analyse, die unter dem Titel „Soziale Amnesie“ die „konformistischen Psychologien von Adler bis Laing“ als Revisionsbewegungen gegen die Psychoanalyse Freuds (und ihre kränkende Wirkung) bezeichnete.

Es geht nun Gebser durchaus darum, einerseits seine oben dargestellte Auffassung vom „Seelischen“ zu belegen, ja wahrnehmend zu vertiefen, andererseits aber auch um die Anerkennung eines Denkvermögens, das „Neuland nur schrittweise zu assimilieren vermag“(I/289). Deshalb setzte er sich auch besonders intensiv mit dem Werk Carl Gustav Jungs auseinander. Dabei spielt der Begriff der „Archetypen“ eine zentrale Rolle. Betrachtet man diese als „unbewusste Urbilder“, die in der „tiefsten Schicht des Unbewussten liegen“, die Jung als das „Kollektive Unbewusste“ bezeichnete, dann erhebt sich sogleich die Frage nach deren Herkunft oder Genese. Folgt man Jung, so hätte man in ihnen die psychische Manifestation dessen zu sehen, was die biologische Verhaltensforschung oder Ethologie (siehe oben) die instinktive, d.h. angeborene Tendenz zu bestimmten Verhaltensweisen nannte. Damit wäre dieses „Gedächtnis“ phylogenetisch vorgegeben – es erweist sich als die dem Gehirn genetisch einprogrammierte Struktur. Begehren nach Nahrung und Liebe, Bereitschaft zu Aggression und Flucht werden so immer wieder neu „wirklich“, wie sie eben für das Überleben „wirksam“ waren – und daher vererbt, sagt und die Evplutionstheorie. Dass diese Urbilder in jeder Kindheitsgeschichte aktualisiert und damit für das Individuum „bekräftigt“ werden, ist die ontogenetische Seite dieser Vorgänge, Vorgänge, die uns dank der Arbeiten Piagets und anderer Entwicklungspsychologen deutlicher geworden ist. Bekanntlich führt jedoch von dieser kein „Wirkungsweg“ zu den genetischen Bausteinen, den Chromosomen – diese auf Lamarck zurückgehende Sichtweise hat sich nicht durchgesetzt. Diese Verankerung des „Psychischen“ im „Biologischen“ ist für heutige Wissenschaftler gesichert – und wird jedenfalls zur Zeit nicht in Frage gestellt.

Wenn es Jung darum geht, für die Lebensmitte einen Weg der Wahrnehmung dieser Archetypen zu fordern und damit eine Wandlung von einem „Ich“ zu einem umfassenderen „Selbst“ begründen, so bringt er nach Gebser damit „ein religiöses Element“ in die Psychologie hinein, das Jung selbst niemals klar formulierte. In seinem Werk sind einerseits „Gott“ und „Natur“ fast Synonyme, eine mögliche Überwindung der Religionen jedoch durch ein neues, ein geistiges Vermögen, das zu einem Integralen Bewusstsein führen kann, nicht im Bereich der Wahrnehmung.

Gebser vermag deshalb dem Werk Jungs nicht einen „zukunftsenthaltenden Charakter“ zuzusprechen – und darin ist ihm auch heute noch zu folgen. Inwieweit seine Hoffnung auf ein von Jungs Werk inspiriertes wissenschaftliches Denken tragen mag, das sich mehr auf ein „Stimmendes“ gründe als auf das „Beweisbare“, scheint mir ungewiss.  Auch Gebsers Begriff einer „psychischen Disponiertheit des Individuums“, das erst das Entstehen der Archetypen ermögliche, ist mir fragwürdig (I/294) – ebenso wie Gebsers Aussage, dass ohne das Auge „das Licht inexistent“ wäre. Da behaupte ich, dass das, was wir „elektromagnetische Wellen“ nennen (und andere intelligente Lebensformen anders bezeichnen mögen), auch ohne die Wahrnehmung des Homo sapiens „existieren“. So mag ich auch nicht mit Gebser das Kollektive Unbewusste als den „seelischen, damit raum-zeitlosen, damit aber auch kosmischen „Seinsgrund“…auffassen (I/295). Und vollends kann ich Gebser nicht folgen, wenn er von der Archetypen „Rückverbindung zu dem viel- oder nulldimensionalen, außernatürlichen, außerweltlichen Kosmos – ja womöglich zu einer vorerst noch unvorstellbaren, fast außerkosmischen „Gegebenheit“, die in unserem Wortsinne existent, die aber auch inexistent sein kann“, spricht. Hier vernehme ich Anklänge an jüngste, geradezu schon verzweifelt anmutende Äußerungen christlicher Theologen35!

Im Hauptwerk wird sich das entfalten, was Gebser hier zunächst eine „neue Position“ nannte, die einem „Hinaufwachsen in jenes „Geistige“ entspricht, welches keinen Gegensatz zu „seelisch“ und „körperlich“ darstellt, sondern womit wir jene Bewusstseinsstruktur bezeichnen möchten, welche vielleicht zu erreichen sich die Menschheit anschickt.“(I/297) Wie darüber zu reden sein wird, ist umstritten und wird es wohl bleiben.

Bleibt nachzutragen, dass die beiden von Gebser treffend beschriebenen psychologischen Wissenschaften auch fundamental verschiedene Beziehungsformen realisieren. In der „experimentellen“ erleiden die „Versuchspersonen“ das, was ihnen die „Versuchsleiter“ vor- oder auferlegen; in der „empiristischen“ haben die „Analytiker“ zuvor schon „am eigenen Leibe und der eigenen Seele“ erfahren, was in einer Psychoanalyse vor sich geht an Beziehungsdramatik, die mit dem Begriff der „Übertragung“ kaum angedeutet wird. Hier spielen sich in der Tat „Dramen“ ab, und deswegen konnte George Politzer auch anregen, diese Psychologie als eine Dramenlehre aufzufassen – statt sie als Wissenschaft misszuverstehen36! So bezeichnet Gebser die „Komplexe Psychologie“ Jungs wohl mit Recht als eine „Seelenlehre“ in seinem eigenen Sinne, über die „Wissenschaft“ hinausreichend, dazu als eine „Seelenführung“, eine Psychagogik auf der Basis einer neuen Hermeneutik. Damit wird sie zu einem Beziehungsangebot, das zwar nicht das Religiöse ersetzen kann, diesem aber doch nahe kommt (Gebser). Damit wird auch dies – zu einer Glaubensfrage und auch zur (bangen) Frage danach, wem man sich anvertrauen könne – und wohin dieser Weg führe?

Welche Entwicklungen hat die Psychologie nun genommen, seit Gebser sie wahrzunehmen suchte? In aller Kürze ist festzuhalten, dass die „ganzheitlichen“ Ansätze der 30er Jahre in ihrer Bedeutung zurücktraten, der behavioristische Ansatz sich in der Nachkriegszeit kräftigen und in neue Therapieformen wie die „Verhaltenstherapie“ münden konnte37, und dass sich in der Nachfolge von Carl Rogers38 eine „Humanistische Psychologie“ etablierte, die allerdings von einer Ideologie eines „guten Menschen“ ausging und ebenfalls (wenn auch nicht nach der Intention des Urhebers) in eine Form der Psychotherapie mündete, die „Wissenschaftliche Gesprächstherapie“. In einer Art Gegenbewegung gewann die „Kognitive Psychologie“ als Zweig der experimentellen Psychologie seit den 80er Jahren an Bedeutung auch deshalb, weil sie einen Anschluss an die Neurowissenschaften in Form einer „Kognitiven Neuropsychlogie“ gewann, der zur Zeit viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Nur en passant sei erwähnt, dass aus dieser neuen Tradition eine „Zerebralisierung“ der Selbstgestaltung zu werden droht, die seelisches und kognitives Geschehen durch elektronische Apparaturen, ja sogar intrazerebral, zu beeinflussen, insbesondere zu „stärken“ verspricht. Aus der „humanistischen“ Bewegung ging nun um 2000 eine „Transpersonale Psychologie“ hervor, die es unternimmt, außergewöhnliche Bewusstseinszustände zu untersuchen, experimentell herzustellen und sogar zur Schaffung einer neuen Kultur einzusetzen. Dass damit die Psychologie in Bereiche vorstößt, ja geradezu „einbricht“, die traditionell dem Religiösen zugerechnet werden, scheint die Vertreter nicht zu schrecken. Ob und wie dieses wissenschaftlich-technische Vorgehen tatsächlich zu einer neuen Kultur, gar zu einer Realisierung eines Integralen Bewusstsein führen kann, ist überaus fraglich39. Hier beginnt ein Technizismus um sich zu greifen, der die Keime dessen, was Gebser eine Abendländische Wandlung nennen konnte, zu ersticken droht – deshalb noch einmal zurück zu diesem Werk und weiteren von Gebser dargestellten Aussichten, insbesondere die Beziehungen der Psychologie zur Biologie, Ethnologie und Medizin betreffend40.

In der Entwicklung einer „Psychosomatik“ sah Gebser bekanntlich den zu begrüßenden Versuch, die cartesianische Trennung von Leib und Seele zurückzunehmen. Hier hat ein Enkel des von Gebser geschätzten Biologen Jacob von Uexküll, nämlich Thure von Uexküll41, in der Nachfolge Viktor von Weizsäckers42 Entscheidendes geleistet. Er entwarf und praktizierte eine ärztliche Haltung, die „Funktionskreise“ und „Situationskreise“ seiner Patienten untersuchte und zu einer umfassenden Diagnostik ausbaute. Diese Sichtweise ist der kybernetischen recht nahe, und auch in der Psychotherapie spricht man seit längerem von einer „systemischen“ Sichtweise, die sich u.a. auf das schon erwähnte Werk Gregory Batesons stützt. Für Gebser war eines in all diesen Ansätzen wichtig: Es ging ihm bei seinen Wahrnehmungsversuchen stets um den „kritischen Punkt“, an dem zu spüren sei: Bis hierher komme man mit naturwissenschaftlichen Überlegungen aus, um die Dinge zu verstehen; „wollen wir aber weiterkommen, so müssen wir den Boden des Beweisbaren, Fassbaren, Greifbaren, Anschaulichen oder Vorstellbaren verlassen und uns in jenes Gebiet hineinwagen, wo nur noch das ungetrübte Herz (dieses ist aber eine fast unrealisierbare Forderung) uns jeweils zu sagen vermag, was stimmt.“(I/312)

Nun wissen wir, dass genau an jenem Punkt die Physiker sich auf die Mathematik stützen, deren Strukturen nichts weniger als anschaulich sind, wenngleich in dem Maße stimmig, wie die Kollegen dem zustimmen. Etwas Vergleichbares finden wir weder in der Biologie noch in der Psychologie. Ist die Biologie aber doch noch „materiell“ beschreibbar bis in die Wirkungsverhältnisse komplexer Systeme (von Lebewesen und Umwelten) hinein, so ist die Psychologie entweder auf die Hirnforschung reduziert (ein unbefriedigender, heute gleichwohl von Vielen angestrebter Zustand), oder auf die gemeinsame Übung in einem der vielen „Sprachspiele in Lebensformen/Beziehungen“ eingestimmt. Über diese jeweiligen Bedeutungserteilungen hinaus aber muss immer wieder ein Konsens gesucht werden: Und das heißt eine Einigung auf das, was hier jeweils stimmig genannt werden darf. Damit soll hervorgehoben werden, dass alle Wissenschaft – wie alle anderen menschlichen Projekte auch – auf ein „Miteinander“ angewiesen ist, das sich seiner tragenden Fundamente immer neu vergewissern muss. Dieses Fundament aber ergibt sich nie aus den Wissenschaften selbst, sondern stets nur aus der Gesamtkultur, in welche sie eingebettet sind – und um eben ein neues Fundament ging es Gebser und geht es uns.

Ein persönliches Schlußwort

Bleibt mit einem gewissen Bedauern festzuhalten, dass es zwar jemanden wie Jean Gebser gab, der eine Beziehung zu den Wissenschaften gesucht hat, dass es aber seitens der Wissenschaften nur sehr wenige gab und gibt, die sich mit vollem Ernst auf Gebsers Werk eingelassen haben und von dorther ihre wissenschaftliche Tätigkeit neu zu gestalten versuchten, ohne den Kontakt zu ihren Kollegen gänzlich zu verlieren – eingestandenermaßen eine fast unmögliche Aufgabe. Wenn man, wie der Verfasser, erfahren musste, wie eine solche Kontaktaufnahme zu Unverständnis und Ablehnung der Kollegen führte, kann es geschehen, dass man eben auch in einer „Vorschule einer Freien Psychologie“ einstweilen nur mit wenigen Menschen forschen kann43. Immerhin aber war es dieses Buch, das den Verfasser in Berührung mit Gebsers Werk brachte, denn nach der Lektüre meinte einer seiner Zenlehrer schon 1984: Wenn Sie so denken, sollten Sie Gebser lesen! Daraus wurde eine Übung, der ich mich bis heute unterziehe – und die ich den Studierenden zumutete!

Ein Weiteres scheint mir notwendig – und das ist die Weiterarbeit an dem, was Gebser in Ansätzen, gleichsam in Keimen, wahrnahm. Sein Werk gilt es zu wahren, aber unsere Arbeit darf nicht beim Aufbewahren dieses Werkes stehen bleiben, sondern muss auf der einen Seite die Notwendigkeit eines persönlichen Wandels bei jedem Einzelnen akzeptieren44, und auf der anderen Seite gilt es, mit vergleichbaren Ansätzen und deren Vertretern und Vertreterinnen die Kooperation zu suchen, damit tatsächlich eine neue Kultur entstehen kann.

Anmerkungen
  1. J. Monod: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. dtv, München, 1975
  2. Th. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1967
  3. Adolf Portmann: Neue Fronten der biologischen Arbeit“, in: Transparente Welt (Hrsg. G. Schulz, Verlag Hans Huber, Bern, 1965)
  4. Hierin folgt er scheinbar Jakob von Uexküll, doch äußert er sich vorsichtiger als dieser: Es sei bei diesem Wort nicht sofort an ein bewusstes Ich mit all seinen besonderen Attributen zu denken.
  5. Auch der Verfasser dieser Zeilen hat sich seinerzeit dieser Richtung zugeordnet und eine Dissertation mit dem Titel „Kybernetische Analyse von Lernprozessen“ vorgelegt. Verlag Oldenbourg, München, 1972.
  6. Hier ist an das Lebenswerk des Biologen E. O. Wilson zu erinnern, wie es in seinem Werk „Consilience“ zusammengefasst ist. Vgl. dazu auch: Richard Leaky und Roger Lewin: Die sechste Auslöschung. Lebensvielfalt und die Zukunft der Menschheit. S. Fischer, Frankfurt a. M. 1996
  7. Andrei D. Sacharow: Wie ich mir die Zukunft vorstelle. Diogenes, Zürich, 1973
  8. Carl Honoré: Slow Is Beautiful. How a worldwide movement is challenging the Cult of Speed. Orion, London, 2004
  9. Ivan Illich: Fortschrittsmythen. Rowohlt, Reinbek, 1978.
  10. Roger Garaudy: Das Projekt Hoffnung. Europa Verlag, Wien, 1977.
  11. Pierre Rousseau: Geschichte der Zukunft. Paul List Verlag, München,  o. J.
  12. Johan Galtung: Eurotopia – die Zukunft eines Kontinents. ProMedia, Wien, 1993
  13. Hans-Peter Dürr: Für eine zivile Gesellschaft.  Dtv, München, 2000
  14. Dennis Meadows: Die Grenzen des Wachstums. Dva informativ, Stuttgart, 1972
  15. Friedrich Cramer: Fortschritt durch Verzicht. Ist das biologische Wesen Mensch seiner Zukunft gewachsen? Fischer Taschenbuch, Fischer, Frankfurt a. M. 1978
  16. Nigel Calder: Vor uns das Paradies? Das Umwelt-Spiel. Fischer, Frankfurt a. M. 1973
  17. Pierre Bertaux: Mutation der Menschheit. Diagnosen und Prognosen. Ficher, Frankfurt a. M. 1963
  18. Dennis Gabor: Menschheit morgen. Fischer, Frankfurt a. M., 1969
  19. Josef Pieper: Muße und Kult. Kösel, München, 1948
  20. Prentice Mulford: Unfug des Lebens und des Sterbens. Fischer, Frankfurt a. M., 1977
  21. Riane Eisler: Kelch und Schwert. Von der Herrschaft zur Partnerschaft. Weibliches und männliches Prinzip in der Geschichte. Goldmann, München, 1989
  22. Carola Meier-Seethaler: Ursprünge und Befreiungen. Die sexistischen Wurzeln der Kultur. Frankfurt a. M. , 1992, sowie: Jenseits von Gott und Göttin. Plädoyer für eine spirituelle Ethik, Beck, München, 2001
  23. Joachim Illies: Wissenschaft als Heilserwartung. Der Mensch zwischen Furcht und Hoffnung. Furche Verlag, 1969
  24. Ernst Mayr: …Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens. Spektrum, Heidelberg, 1998
  25. Vgl. dazu auch das Lebenswerk Gregory Batesons.
  26. Hans Jonas: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Insel Verlag, 1994
  27. Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1983.
  28. Manfred Eigen: Jenseits von Ideologien und Wunschdenken, 1991, Stufen zum Leben, 1992, beide in der Serie Piper, München. Zur Gestalt des Manfred Eigen in der Geschichte der Begegnung zwischen Wissenschaftlern der DDR und der BRD vgl. übrigens den faszinierenden Roman von Reinhart Heinrich: Jenseits von Babel. Verlag Neues Leben, Berlin, 1987.
  29. Kristian Köchy: Biophilosophie. Eine Einführung. Junius Verlag, Hamburg, 2008
  30. „Psychology has bargained away the soul, gone out of it´s mind and finally lost consciousness“.
  31. Wolfgang Metzger: Gestaltpsychologie. Steinkopff Verlag, Darmstadt, 1975
  32. Man vergleiche hierzu Fritz Perls´ Autobiographie unter dem Titel „Gestalt-Wahrnehmung“, in der seine lebenslange Bemühung um eine allgemeine Theorie dokumentiert ist. Verlag W. Flach, Frankfurt a. M. 1981
  33. Georg Groddeck: Das Buch vom ES. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin. Fischer, Frankfurt a. M., 1979. Vgl. auch dessen Roman „Seelensucher“ sowie sein „Auftreten“ im Faust-Buch des Verfassers: Lebe wohl. Dr. Faust – Adieu Mephistopheles (P. Gottwald: LIT Verlag, Münster, 2008).
  34. Russell Jacoby: Soziale Amnesie. Eine Kritik der konformistischen Psychologie von Adler bis Laing. Surkamp, Frankfurt a. M. 1978
  35. Vgl. dazu P. Gottwald: Integrales Bewusstsein – wie es zur Sprache (und zur Welt) bringen? P. Lang Verlag, Bern, im Druck.
  36. Georges Politzer: Kritik der Grundlagen der Psychologie. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1978 Diese Tradition setzte sich bekanntlich bis in unsere Tage und Habermas` Analyse des Scientistischen Missverständnisses der Psychoanalyse fort.
  37. Vgl. dazu den Text von P.Gottwald aus dessen „propagandistischer Phase“: Verhaltenstherapie und Verhaltensmodifikation: Die Kontrolle menschlichen Verhaltens.In: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft, München, 1973.
  38. Carl Rogers: Der neue Mensch. Klett-Cotta, Stuttgart, 1983
  39. Kritisch dazu siehe Gottwald, P.: Zen im Westen (2003), sowie „Moderne Spiritualität“, (2010) beide im LIT Verlag, sowie „Integrales Bewusstsein“ bei P.Lang, im Druck.
  40. Einen guten Überblick über den Stand der Psychologie als akademisches Fach bietet das von Kurt Pawlik herausgegebene „Handbuch der Psychologie. Wissenschaft – Anwendung – Berufsfelder. Springer, Heidelberg, 2006. Zwar werden Freud, Jung und dler noch zitiert, doch gibt es kein Kapitel „Tiefenpsychologie“ oder „Psychoanalyse“.
  41. Thure von Uexküll: Psychosomatische Medizin. Urban und Schwarzenberg, München, 1986
  42. Dass dieser Arzt und Wissenschaftler heute in ein Zwielicht gerückt erscheint, das er mit seinem Bruder Ernst von Weizsäcker teilt (vgl. dazu Gernot Böhme: Fragwürdige Medizin. Campus, Frankfurt a. M., 2008), wirft einen Schatten auf seine wissenschaftliche Autobiographie „Natur und Geist“, Kindler, München,  3. Aufl. 1977, die ich schon lange studiere und bewundere.
  43. Vgl. dazu P. Gottwald: In der Vorschule einer Freien Psychologie. Forschungsbericht eines Hochschullehrers und Zenschülers. Isensee, Oldenburg, 1989.
  44. Ob dies durch die Annahme der Zenübung, wie beim Verfasser, geschieht oder durch die Hingabe an eine der vielen anderen Traditionen geleistet wird, ist nicht so wichtig wie die sich dann anschließende Übung einer „spirituellen Ökumene“, die im Teilen und Mitteilen der jeweiligen „Kostbarkeiten“ das zu verwirklichen sucht, was Gebser später eine „Präligio“ nannte, welche an die Stelle der Religionen treten könne.
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