Mrz 102012
 

Für einen Groschen

Es dunkelte bereits, als am Montag (8. August) die 80 Landarbeiter des Klosterguts Reinshof bei Göttingen zur ersten Streikberatung zusammenkamen. Gutspächter Kurt Krause erkundigte sich: „Was ist denn los?“ – „Das werden Sie morgen früh um 6.30 Uhr erfahren“, antworteten die Landarbeiter.

Kurt Krause wusste am Dienstagmorgen schon um 5.45 Uhr Bescheid. Da kam der Trecker nicht mehr auf den Hof gefahren. Draußen auf dem Felde stand der Weizen reif zum Mähdreschen. 80 Arbeiter auf Reinshof waren in den Streik getreten.

Kurt Krause wusste noch mehr. Niedersachsen hat 300.000 landwirtschaftliche Betriebe. Dass ausgerechnet Klostergut Reinshof herausgegriffen wurde, hatte für ihn seinen Grund: „Weil ich der Vorsitzende des landwirtschaftlichen Arbeitgeberverbandes von Südhannover bin. Das sind sieben Landkreise. Es ist ein Machtkampf, der hier ausgefochten wird.“

In der zweiten Augustwoche sprangen die Teilstreiks auf die niedersächsischen Landkreise Springe, Hameln-Pyrmont, Hildesheim, Einbeck, Northeim und Göttingen über. Etwa 700 Landarbeiter beteiligten sich.

Reinshof-Betriebsrat Heinrich Winkel sagt dagegen, der Streik sei ein reiner Lohnkampf um 10 Pfennige Stundenlohnerhöhung. Die Erntezeit sei dazu am günstigsten, um Weihnachten könnten Landarbeiter keine Forderungen durchsetzen.

Antwortet Gutspächter Krause: „Wir waren ja in Lohnverhandlungen. Eine Sechser-Kommission, drei Arbeitgeber und drei Arbeitnehmer, erörterten die Forderungen. Wir hatten vorgeschlagen, in 250 Betrieben Ertragsrechnungen vorzunehmen und nach deren Ergebnis im September den neuen Tarif auszuhandeln.“ Die Landarbeiter sagten, das sei Verschleppung. Im September sei ihre schärfste Waffe, der Erntestreik, bereits schartig.

Die Reinshofer Streikwaffe war schon nach vier Tagen schartig. „Sehen Sie sich die Felder an“, meint Kurt Krause, „meine nichtbestreikten Nachbarn sind noch beim Weizenschneiden. Ich als Bestreikter mähe schon den Hafer.“ Die Ernte auf Reinshof ist weiter als auf den Nachbargütern.

Denn der Fernsprechanschluss Göttingen 2066 steht seit dem ersten Streiktage nicht mehr still. „Brauchen Sie noch Arbeiter?“ fragen die Bauern. „Wir schicken unsere Söhne!“ Trecker wurden Kurt Krause mehr angeboten, als er ungehauene Kornschläge hat.

Um die Streikkraft zu steigern, wurden am zweiten Kampftag die Notstandsarbeiten eingestellt. Nicht nur Zechen kennen Notstandsarbeiten, auch Güter. Das ist die Fütterung des Viehs. Gemolken werden Reinshofs 60 Kühe auch während des Streiks, denn das Melkerpersonal streikt nicht. Melker haben einen eigenen Tarif, der besser ist als der Landarbeitertarif.

Aber das Grünfutter für die Kühe müssen die Streiker hereinholen. Trotz Streik. Das taten sie nicht mehr. Bekam Krauses Rindvieh Schläge auf den Kuhmagen, schlug Pächter Krause zurück: er gab keine Deputatmilch mehr an die Streiker aus.

Darauf wurden die Streikerfrauen vor den Küchenherden, denen der Streik ohnehin gegen den Strich ging, rebellisch. „Unser Heinrich kommt bald wieder!“ sagte Heinrich Dieckmanns Schwiegermutter zu Kurt Krause. Heinrich Dieckmann ist Treckerführer von Reinshof. Einen Erntestreik hat die alte Frau in 78 Jahren ohnehin noch nicht erlebt. Kurz und gut, die Männer gingen wieder das Kuhfutter holen, und die Streikerfrauen bekamen ihre Deputatmilch.

„Zehn Pfennige Lohnerhöhung“ sind überdies eine bedenkliche Vereinfachung im Reinshofer Erntestreik. Es geht auch um die Bewertung der Deputate. „Wie bewerten Sie den Mietspreis folgender Wohnung, die meine Landarbeiter haben: Stube, zwei Kammern, Küche, Speisekammer, Keller und Stall?“

Niedersachsens Landarbeitertarif vom 19. Januar 1949 gibt die Antwort: eine vollwertige Landarbeiterwohnung wird mit 180 DM im Jahr berechnet. Fehlt ein Raum, wird der fehlende Teil mit monatlich 3 DM bewertet. Das ist noch klar.

Das Deputatgetreide jedoch wird den Deputanten mit 10 DM je Zentner berechnet. „Da haben wir es schon“, sagt Gutspächter Krause. „Der Marktpreis für einen Zentner Roggen beträgt nämlich 11,60 DM. Bei Weizen ist er noch höher.“

Bei der Deputatmilch ist es ähnlich: der Marktpreis je Liter beträgt 36 Pf., den Deputanten wird sie mit 24 Pf. berechnet. Aus diesem Unterschied zwischen Tarifwert und Marktpreis der Deputatprodukte (auch bei Kartoffeln) resultiert die Hartnäckigkeit der Lohnverhandlungen.

„Stellen Sie sich vor“, argumentiert Kurt Krause, „wenn wir auf Berechnung der Marktpreise bestehen. Dann wären die zehn Pfennige Lohnforderung längst abgegolten und die Barlöhne müssten noch herabgesetzt werden. Ganz abgesehen davon, dass sich die Voll-Deputatempfänger viel besser stehen als Ledige, die keine Produkte zu den Tarifwerten erhalten. Die müssen sich ihr Essen zum üblichen Kleinhandelspreis kaufen.“

Hier liegt auch der Grund für die Äußerung der Schwiegermutter Dieckmann. Und Hofmeister Karl Lott hat sich überhaupt nicht am Streik beteiligt. „Wir werden ja sehen, was dabei herauskommt“, meint er.

Es besteht nämlich ein erheblicher Unterschied zwischen der Soziallage eines sesshaften verheirateten Landarbeiters und einem Unverheirateten, der zu viert in einer Stube wohnt und sich von einer Mietsköchin den täglichen Eintopf bereiten lässt.

Heinrich Dieckmann mästet dagegen zwei Schweine und melkt zwei Ziegen. Federvieh hat er auch. Er isst kein trockenes Brot. Der anhanglose Flüchtling oder ein im Westen hängengebliebener Landser aus dem Osten hat das nicht. Und von seinen 63 Pfennigen Durchschnittsstundenlohn werden dem Sesshaften für Wohnung und Deputat 9.15 DM je Woche abgezogen, so dass er bei 53½ Stunden Arbeitszeit in der Woche mit etwa einem Zwanzigmarkschein nach Hause geht. Wenig genug.

Besonders, wenn Industrielöhne zum Vergleich herangezogen werden, die man als Ursache der Landflucht ansieht. In einem Jahre haben in Niedersachsen nicht weniger als 90.000 Menschen ihre Arbeitsplätze aufgegeben, um in der Industrie tätig zu sein. Auf Reinshof ist diese Landflucht weniger akut, weil Göttingen wenig Industrie besitzt. Grundsätzlich besteht die Frage jedoch.

Bewilligt nun aber Kurt Krause die Forderung von 10 Pfg. Lohnerhöhung je Stunde, dann macht das für sein Klostergut Reinshof runde 20.000 DM im Jahr aus.

Sagt Kurt Krause: „Unsere Getreidefabriken, wie sie die Güter und Domänen Westdeutschlands darstellen, haben aber zwei große Bruchstellen in ihrer Betriebskostenrechnung: einmal der Getreidepreis, der seit 1936 ein Stoppreis ist und nicht erhöht wurde, weil der Brotpreis des Verbrauchers heute ein vorwiegend politischer Preis ist, und zum anderen eine sozialpolitische.“

„Vor 20 Jahren hielten wir über den Winter auf Reinshof 15 bis 18 Landarbeiterfamilien. In der Arbeitsspitze arbeiteten wir mit polnischen Schnitterkolonnen, die im November nach Ablauf der Saison wieder abzogen. Heute kommen keine polnischen Schnitter mehr, so dass wir jetzt an die 40 Stammfamilien im Winter halten müssen. Diese Tatsache belastet unser Sozialkonto schwer.“

Die Gewerkschaften argumentieren anders herum: die Preiserhöhungen für die übrigen Produkte, außer Getreide, setzen die Landwirtschaft sehr wohl in die Lage, die zehn Pfennig Lohnerhöhung zu bewilligen. An den Preiserhöhungen müssten auch die Landarbeiter teilhaben. „Dann beginnt die Schraube ohne Ende“, entgegnet Pächter Krause.

Hinter diesen Fragen, die auch Frankfurts verflossener Wirtschaftsrat nicht lösen konnte, steht der Machtkampf. „Man will unseren Arbeitgeberverband zerschlagen und die Führer kirre machen, um dann mit den Einzelbetrieben verhandeln zu können“, mutmaßt Kurt Krause.

Am Montagabend (15. August) war der Machtkampf auf Reinshof beendet. Dienstagmorgen wurde die Arbeit zu den alten Bedingungen wieder aufgenommen.

Heinrich Dieckmanns 78jährige Schwiegermutter und Hofmeister Karl Lott waren klüger: „Die Ernte, worauf sich unsereins das Jahr freut und plagt, darf man nicht verkommen lassen“. Sie ist ohnedies schon in der Scheuer. Ohne Streiker, mit Nachbarschaftshilfe. Die hatten die Streiker-Gewerkschaftler mit ihrer alten Schema-F-Rechnung nicht einkalkuliert.

Der Spiegel vom 18.08.1949


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