Mrz 012012
 

Von Peter Gottwald
Lit Verlag, 2003, Auszug, Seite 182 – 187

4.3.2.3 Leben im Übergang vom Mythos zum Mentalen.

Bei einzelnen Menschen regte sich offenbar, durchaus zeitlich einzuordnen etwa um 1000 vor unserer Zeitrechnung im Abendland eine neue Möglichkeit, in der Welt zu sein; eine neue Bewusstseinsstruktur trat in Erscheinung, ohne dass es eine Erklärung für dieses Auftreten gibt (Gebser). Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, soll hier mit Gebser von einem „Ich-Bewusstsein“ gesprochen werden als Ausdruck dafür, dass dieses neue Menschen-Wesen sich als eine unabhängige Einheit nun erstmals gegenüber einer „Welt“ wahrnimmt, die ergriffen und begriffen werden muss, wenn man in ihr leben will, da das selbstverständliche gemeinsame Leben nicht mehr gegeben erscheint – es ist verloren (die Paradiesgeschichte kann als Ausdruck der Trauer und zugleich als abwehrende Erklärung gelesen werden). Mythen bieten nicht mehr den Lebensgrund, sie werden als unangemessen verworfen. Aber es wird auch etwas Neues gewonnen, das ja nicht nur mit dem Erkennen zu tun hat, was gut und böse „ist, sondern mit dem Erkennen überhaupt, das nun erstmal möglich und notwendig wird: Lebewesen und Dinge müssen nun benannt, ihre Beziehungen erklärt und geordnet werden, da ohne diese Ordnung ein Leben nicht möglich erscheint. Diese Menschen erlebten wohl ein erstes „Ins Freie Treten“, eine ganz neue Sicht der Welt und ihrer selbst, die sich in die sprachliche Form kleiden mochte „Ich bin… “ Dieses „Erleben“, besser diese „Widerfahrnis“ ging sicherlich mit den stärksten Gefühlen des Schauderns, der „Erhobenheit“, des Glücksgefühls, aber auch starker Angstgefühle einher. All dies teilte sich den anderen Menschen mit, die mit Staunen und Entsetzen diesem entsetzlichen Geschehen, das einen der Ihren betraf, beiwohnten. Denn dieser eine begann nun das zu entfalten, was sehr viel später sein „Wille“ genannt wurde, und die Handlungen, welche diesem Willen dienten, waren oft unangenehm und schmerzlich für seine Zeitgenossen. Ja es schien, als ob hier auch der Verlust eines ursprünglichen Mitgefühls auftrat, der solche Menschen unempfindlich gegen fremdes Leid macht (vgl. dazu Mühlenweg, 1993).

Sie erregten also vermutlich den Argwohn und die Furcht der Vielen, denen dies als eine Anmaßung, als ein „Sich-Vergöttlichen“ erschienen sein mag; von der Angst vor (und damit der Abwehr) dieser neuen Möglichkeit handeln deshalb viele Geschichten des Übergangs wie die von Tantalos und Sisyphos, die ausdrücklich als ungewöhnliche Menschen, als „begabte“, bezeichnet werden, mit denen sogar die Götter Umgang suchten. Und selbst den Göttern versuchten solche Menschen das aufzuzwingen, was später ihr „Wille“ genannt worden ist (Thomas von Aquin), nachdem „Verstand“ als Ordnungs- und Proportionierungsfähigkeit und „Gedächtnis“ als Ausdruck einer neuen Zeitauffassung (Vergangenheit und Zukunft entstehen hier) benannt wurden: Auch diese Begriffe sind (späte) Ergebnisse dieser neuen Denk-Tätigkeit (Logik), welche in der scholastischen Tradition prägnant gefasst werden.

Nun gibt es aber zahllose Versuche, dieses Geschehen sich fassbar zu machen, zu deuten, zu erklären. Die griechische Philosophie, Parmenides und Plato zumal, entfaltet eine neue Lehre von einer Welt der Ideen und darin einer „höchsten Idee“, mit denen die Menschen je und je in Kontakt treten können (das Höhlengleichnis ist auch, als Deutung, ein „nach außen“-Verlagern des nach meiner Auffassung „tiefinneren“ Geschehens). Die jüdische Deutung und damit Bewältigung dieser „Widerfahrnis“ ist in diesem Zusammenhang besonders faszinierend. Dieses neue „Ich bin“, von Einzelnen erfahren als unabweisbare Wirklichkeit, wurde nach meiner Auffassung als so gewaltig und übermächtig erlebt, dass es nicht als dem Menschen, sich selbst, zugehörig „angesehen“ werden konnte, dass es in einer Art unbewussten Abwehr „Einem Gott“ überbunden, übertragen werden musste – da es sich ja offensichtlich als stärker denn alle Götter und Göttinnen erwiesen hatte und keinesfalls dem Geist des Menschen entsprungen sein konnte/durfte. Für diese Deutung oder neue Weltsicht steht Abraham, der Mondwanderer, wie ihn Th. Mann nannte, und Gottsucher (besser aber: Gotterfinder, wäre dieses Wort nicht zu sehr durch technische Assoziationen belastet) als Gestalt, wenn auch nicht als historische Person. Personen treten in diesem Zusammenhang erst viel später in Erscheinung: Hier die Propheten, wie dort die Gesetzgeber, die frühen griechischen Philosophen im Abendland, andere Gestalten in Indien und China, wo sich offenbar dasselbe Geschehen zu einem früheren Zeitpunkt vollzieht (faszinierende Einzelheiten bei Jaynes, 1988). Offensichtlich sind die Menschen dieser (damaligen) Übergangszeit nicht bereit oder in der Lage, dieses neue Bewusstsein wirklich und ganz und gar „auf sich“ zu nehmen im Sinne einer schöpferischen Möglichkeit, aber auch Bürde oder Last, jedenfalls in einem Sinne, den wir heute mit „Verantwortung“ nur noch unzureichend bezeichnen, den aber Kafka (s. o.) auf das genaueste bezeichnete.

Zen im Westen

So „zeigte“ sich den Juden also nun – Ein Gott, dessen „Name“ bezeichnender – ja geradezu verräterischer Weise lautet: „Ich Bin Der Ich Bin“ – und nur die Gewissheit des „Auserwähltseins“, die allerdings immer wieder bekräftigt werden musste, bleibt als ein Abglanz des ursprünglichen Erlebens lebendig; allerdings, es muss die Vorhaut geopfert werden, um sich selbst und den „da draußen“ immer wieder an den Pakt zu erinnern! (vgl. dazu Genesis, 17. Kapitel und die Wiederholung des Aktes in Exodus, 4. Kapitel). Nach einem langen Zeitraum, in dem aus überlieferten Texten durch einen Prozess der Kanonisierung „Heilige Schriften“ wurden, deren Infragestellen als Akt der Ketzerei betrachtet und entsprechend geahndet wurden, entstand im Zuge der Aufklärung eine neue kritische Betrachtungsweise, die heute Titel erlaubt wie „A History of God“ (Karen Armstrong, 1985).

Nicht nur in der jüdisch-christlichen Tradition ist in diesem Zusammenhang von einem „Bösen“ die Rede (Zarathustra nennt „Ariman“ als Verkörperung eines dem „Guten“ gleichberechtigten, gleich starken, aber eben entgegengesetzten Prinzips, vgl. dazu die Lehren der Manichäer), das dem nun wie beschrieben verabsolutierten „Guten“ gegenüberstehend – gedacht wird, aber erst nachdem auf die oben skizzierte Weise die „Idee“ (ein Wort aus einem anderen Sprachspiel) eines Höchsten Guts, eines „Absoluten Guten“, eines „Allmächtigen Gottes“ entstanden ist. Zu diesem hat der Mensch sich auf eine völlig neue Art und Weise in Beziehung zu setzen ? bestimmte Arten des Opfers werden nun als „überständig“ empfunden (siehe wiederum Th. Manns Deutung des Laban-Opfers und der Verfehlung der Eltern des Potiphar), wofür die Geschichte von Kain und Abel stehen mag, die das alte und das neue Bewusstsein verkörpern. Das Selbstopfer, ganz oder „in Teilen“, wie oben angedeutet, tritt an die Stelle der üblichen Opfergabe, so sehr, dass es Gott zugemutet wird, seinen „eingeborenen Sohn“ für das Heil der Menschen zu opfern. Nachdem also das „Gute“ erdacht, ersonnen worden ist (besser wäre: hervorgebracht worden ist in unendlichen Wehen einer geistigen Geburt. die sich über eine lange Zeit hinzog), entsteht auch die Notwendigkeit, von einem „Bösen“ zu sprechen, von dem es sich abzusetzen gilt, dem man nicht anheimfallen darf. Diese Notwendigkeit entstand ja andererseits auch aus der Tatsache, dass zerstörerische Taten wie der „Bruder-Mord“ („MORD“ ist erneut eine der neuen Sinngebungen) als Schreckenstaten wie auch als in der eigenen Phantasie- und Traumwelt mögliche Handlungen immer noch und immer wieder präsent waren und tiefen Schrecken hervorgerufen haben müssen, neben der ebenso grauenerregenden Faszination, die ebenfalls erlebbar war und immer noch ist.

Im Verlaufe dieses nur sehr grob skizzierten Prozesses finden wir also zunächst ein Auseinandertreten des „ICH BIN“, welches in den Himmel projiziert wird, und des „Ich will“. das geradezu verteufelt wird ? bis es schließlich in unendlichen Wehen zum Gemeingut aller Menschen wurde. Die Dialektik dieses Willens ist immer noch in Bewegung. Kant nannte den „guten Willen“ das einzig Gute, von dem wir mit Zuversicht sprechen können, wenn er sich denn auf den Kategorischen Imperativ stützt. Jaspers sprach noch vom „Bösen“ als dem „Abbruch der Kommunikation zugunsten des gewaltsamen Eigenwillens“.

Es gilt eine neue Wahrnehmung unserer Möglichkeiten zu entwickeln – gerade auch in dem Bewusstsein, dass „das Böse“ keinen ontologischen Ort hat oder, wie ich 1993 sagte, keinen Platz auf dem Spielfeld „Qualität“.

Der Wille, so könnte man zunächst sagen, ist uns heute Erlebnis einer neuen Möglichkeit und Vorsatz zum Handeln zugleich. Mit ihm entsteht nicht nur die Möglichkeit zu sagen „Ich will“ und dann entsprechend zu handeln, sondern auch die Möglichkeit, gegenüber einem anderen Willen „nein“ zu sagen, und zwar als Ausdruck der eigenen Freiheit, wie Gandhi dies vorlebte, dem wir diese Realisierung von „Freiheit – Ich Will Nicht“ verdanken (vgl. dazu Russell, 195 1). Dieses „Nein“ wird vom Anderen nur allzu leicht als „böse“ bezeichnet und mit Gewalt gebrochen; das schrecklichste „Nein“ ist dann jenes zum „Willen Gottes“, welches von einem „Geschöpf“ nicht ohne schreckliche Folgen gesagt werden kann – so heißt es ja in dieser Tradition, die heute als Fundamentalismus erschreckend in Erscheinung tritt – an vielen Stellen auf der Welt.

Wie nun im Laufe der Zeit eine „Logik des Bösen“ entfaltet wird, ist kulturspezifisch, wie schon angedeutet. In der jüdischen Tradition spricht man von den Erstgeschaffenen, von den Engeln, vom Abfall des obersten Engels, des „Lichtträgers“, dem nun in einem weiteren Schritt der Abwehr aus Angst vor diesem „unerhört Neuen“ das „Ich-Bewusstsein“ angeheftet wird, welches ihn alsbald in die Versuchung führt, so sein zu wollen „wie Gott“ – wofür „er“ aus dem „Himmel“ gestürzt wird samt denen, die ihm auf diesen neuen gefährlichen Weg folgten. Auch dies ist eine Geschichte erzählt zum Nutz und Frommen derjenigen Menschen, die ebenfalls die Versuchung spüren mochten, ihrerseits nun „Ich“ zu sagen statt immer nur „Dein Diener“. Und hier mischen sich die Motive der Geschichtenerzähler, die einerseits „ängstlich-fromm“ in diesem neuen Sinne der „gewitzigten Abwehr“ einer unerhörten Möglichkeit, teils schon „machtbewußt“ sein mochten im Sinne eines neu gewonnen Kasten-Bewusstseins einer Priesterschaft, die es nutzbringend fanden, diesem neuen „Gott“ zu dienen – sicher eine sehr viel später in Erscheinung tretende Figur der abwehrenden unbewußten Sinngebung. Die Warnung lautet nun: Wer „ich“ sagt, ist schon böse, denn er nimmt etwas für sich in Anspruch, das nur dem „Einen“ zusteht. Noch in unserer Kultur ist dieser Zwiespalt spürbar, denn einerseits erwarten wir nun als eine Selbstverständlichkeit, ja als ein Menschenrecht, dass unsere Kinder „ich“ sagen lernen, andererseits heißt es nicht von ungefähr: Kinder mit ’nem Willen …

(Von der weiteren Geschichte des „Ich Bin“ – Sagens über Jesus am Ölberg bis zu den Fürsten der Renaissance, den Bürgern nach der Revolution bis hin zur „Peter Stuyvesant“ soll hier nicht die Rede sein; vgl. dazu dann auch Bücher wie „Der Ich-Wahn“ (Keller, 1989 und andere Hinweise auf das Defizient-Werden dieses neuen Bewusstseins: Vgl. Gebser)

Daß diese ganze „Geschichte“ eine der „Männer“ ist, die erst als solche in diesem „Prozeß“ entstanden, sich selbst formend, beginnt immer deutlicher zu werden und wird von Historikerinnen wie Göttner-Abendroth (1980) und Anthropologinnen wie Riane Eisler (1989) und Carola Meyer-Seethaler (1985) bekräftigt, teilweise in kämpferischer, teilweise in wahrender Absicht. Die neue „Männerbewegung“, vgl. dazu Wieck (1990), ringt mit eben dieser Geschichte und versucht einen Ausbruch aus dem selbsterrichteten Kerker.

Im Werk von G. Steiner „In Blaubarts Burg“ (1972) finde ich eine luzide Analyse dieses Geschehens, allerdings nicht unter dem Aspekt der Ich-Werdung des Menschen. Und bei J. Jaynes (1983) wie bei vielen anderen steht die Wahrnehmung eines Verlustes (an Geborgenheit im Mythos) im Vordergrund, so auch bei Christa Wolf in ihrem Buch „Kassandra“ (1983). Die Geschichte will gehört – und gedeutet werden, immer neu, vergleichend, nie beruhigt, und das heißt auch: Diese Geschichte zu wahren und eine neue Form des Miteinander zu gewinnen (ein Integrat soll das Patriarchat ablösen) ist nach Gebser ein wesentlicher Teil unserer neuen Aufgabe. In „Ursprung und Gegenwart“ schrieb er:

„Wann wohl wird man bemerken, wie befristet solche Entsprechungen, wie begrenzt solche Gegensätzlichungen wie beispielsweise Gott: Satan, sind, und es unterlassen, den Ausdruck des Ganzen in psychisch-mythische Gefüge oder mentale Systeme als „Pol“ oder als „Größe“ einzusetzen?“ (111/684)

4.3.2.4 Integrales Bewusstsein in der Gegenwart.

Diese Art und Weise der Wahrnehmung früher Geschichten, Mythen und Deutungen ist m.E. nun schon Ausdruck einer weiteren Bewusstseins-Mutation zu einem Integralen Bewusstsein im Sinne Gebsers, welche es ihren „Trägern“ ermöglicht, diese Geschichten als jeweilige Lebensformen und Sinngebungen wahrzunehmen und zugleich die Verantwortung auf sich zu nehmen, welche mit neuen Geschichten und Sinngebungen unweigerlich auf sie zukommt. Sie verstehen sich selbst als verantwortlich, da sie so und nicht anders auf das Leben antworten werden; sie sind nicht mehr in der Lage oder bereit, diese Verantwortung irgend einem anderen Wesen oder Prinzip zu überbinden oder zu übertragen, auch nicht zu überlassen. Aus dieser neuen Haltung heraus ist es nicht mehr möglich, Mythen von kämpfenden Göttern zu erzählen, aber auch nicht mehr sinnvoll, von „Gott“ und dem „Teufel“ zu handeln. In dem Bewusstsein, dass sie nun „den Bösen los sind“, wissen sie doch um die Notwendigkeit, mit denjenigen wahrend umzugehen, die noch Goethe „die Bösen, die geblieben sind“ nannte. Nur dass sie jetzt nicht mehr „die Bösen“ zu nennen sind, auch nicht mehr im Sinne psychologischer Theorien als von „der Norm“ abweichende „Persönlichkeitstypen“ oder als irgendwelche „Systeme“ aufzufassen sind, in denen Variablen sich so und so verbinden so dass Verhalten resultiert – sondern es Menschen sind wie Du und ich, die gewahrt sein wollen in ihrer Entwicklung, mit ihren Verletzungen und Sinngebungen, mit denen sie sich „hienieden“ eingerichtet haben – nur dass nun auch jede Rede von einem „Hüben“ und einem „Drüben“ befragt werden muss als eine konkrete menschliche Handlung, als eine Sinngebung eben – und nicht als etwas „absolut Wirkliches“ verstanden werden kann. Was vielmehr nun als „wirklich“ angesehen wird, versteht sich als im Wandel der wissenschaftlichen Anschauungen und Zugangsweisen neu und frisch Entstehendes: Evolution vom Urknall bis zum Menschen, Mathematik und Physik in Zusammenarbeit mit der Technik, Gesellschaft als Vertrag und Verabredung, als Experiment der einen oder anderen Art, das Individuum als Ergebnis und Projekt seiner selbst – und immer auch als „unbekanntes Abenteuer“. In diesem Zusammenhang ist auch „die Persönlichkeit“ als kontingent aufzufassen, nicht nu der „Kosmos“ und die „Gesellschaft“ – vgl. dazu Agnes Heller 2001 in Oldenburg. Ein freier Umgang mit diesen Kontingenzen macht den Reiz und die Schwierigkeit des Lebens in der heutigen Zeit aus. Die Kraft zu diesem Leben kann z. B. aus einer besonderen Selbstwahrnehmung kommen, wie sie in der Zentradition vorgezeichnet wurde, die sich nun in der wissenschaftlich-technischen Welt einfindet und einrichtet.

Sowohl bei Kant und seiner Kennzeichnung des „Guten“ als allein des „guten Willens“ wie auch bei Jaspers und seiner Kennzeichnung „des Bösen“ als „Abbruch der Kommunikation zugunsten des gewaltsamen Eigenwillens“ finden sich Anfänge einer konsequenten „Zurücknahme“ der Verantwortung, die nun uns Menschen auferlegt wird, im „Guten“ wie im „Bösen“. Schließlich kann Kästner dichten: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es … Oder mit Wilhelm Busch: Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt! Umgekehrt wird eben noch nicht ein Schuh daraus, weil es schon immer einfacher war, das Böse zu „definieren“.

So kann die Geschichte des mentalen Bewusstseins auch beschrieben werden als die langsame und mühevolle Einübung in das Erkennen dessen, „was gut und böse“ ist – denn das war keine Lüge der Schlange (Abwehrgeschichte vom Paradies), sondern ein Hinweis auf eine ganz neue Möglichkeit des Menschen: Und nun wissen wir zwar ganz genau, was gut und böse ist, müssen aber wider Erwarten eine neue Lektion lernen: Das Wahrnehmen und Wahrgeben. Es übersteigt und integriert zugleich die Suche nach „der Wahrheit“ und mündet in die neue Übung des „Wahrens“ ein (Gebser).

Wenn wir heute vom „Handeln“ sprechen, dann tun wir dies in dem durch Gebsers neue Weltsicht geschärften und geklärten Bewusstsein, dass dieses niemals allein mental, d. h. durch Planen und Abwägen vorbereitet und durchgeführt wird, sondern dass in jedem dieser „Akte“ lebendiger Mythos sich einschwingt und Magisches „durch unsere Eingeweide fährt“. Diese Gesamtheit der Lebensäußerung wahrzunehmen und wahrzugeben, ist Teil unserer neuen Übung.

Dabei ist es wichtig, Gebsers Botschaft (in seinem Sinne: Wahrgebung) nicht zu verabsolutieren. Er war ja selbst ein „Übergangsmensch“, der Phänomene des „Übergehens“ (Hinüberzugehen und Wiederzukehren – Hölderlin in „Patmos“) sammelte in einer Situation der eigenen Unsicherheit und Angst. Es werden immer neue Schritte möglich sein, an keiner Stelle darf man stehen bleiben. Auch die „Ochsenbilder“ des Zen sind Bilder eines solchen „Übergangs“, der nicht stillgestellt werden kann. Den „neuen Menschen“ zu erfinden und dann als einen endgültigen zu betrachten, wäre der schlimmste aller Fehler. „There is only one original sin, to limit the Is“, sagte Richard Bach in „The Adventures of a Reluctant Messiah“ (1977), „don’t“. Ich fügte später für mich hinzu: „You can’t, anyway.“

 

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