Jul 192012
 

Das traurige Erbe

Von Gerhard Rein, 06.07.2012

Man muss diese Geschichte wieder erzählen. Sie hochholen aus der Vergangenheit. Wer davon spricht, dass das Traurige an der Präsidentschaft Gaucks sei, dass sie die DDR-Opposition weiter gespalten und entzweit hat, dem fällt diese Geschichte sofort wieder ein. Sie geht ungefähr so: In der Volkskammer wird im September 1990 ein Gesetzentwurf verabschiedet, nach dem die Stasi-Akten ins Bundesarchiv nach Koblenz verbracht werden sollen, und Einzelne keine Akteneinsicht erhalten. Als Leiter des Sonderausschusses zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit unterstützt der Volkskammer-Abgeordnete Joachim Gauck (vom Neuen Forum) dieses Gesetz. Der Abtransport der Akten steht unmittelbar bevor. Da organisiert Bärbel Bohley mit einer Reihe von Freunden die erneute Besetzung der MfS-Zentrale in der Berliner Normannenstrasse und beginnt einen Hungerstreik. In zahlreichen Städten der DDR kommt es zu Solidaritätsaktionen. Über die Besetzung und den Hungerstreik ist Gauck so empört, dass er den Antrag stellt, Bärbel Bohley aus dem Neuen Forum auszuschliessen. Sie hätte ihre Aktion ohne Genehmigung durch den Sprecherrat des Neuen Forum nicht beginnen dürfen.

Gauck contra Bohley. Ein Lehrstück. Gauck hatte mit der Gründung des Neuen Forum, dem er sich später anschloss, nichts zu tun, Bohley alles. Allein die Vorstellung, eine Frau wie Bärbel Bohley würde einen Hungerstreik nur per Antrag vollziehen, würde ihn also von einer Genehmigung abhängig machen, ist, um es mit den Worten eines bedeutenden Zeitgenossen zu sagen, “unsäglich albern.“

Freilich, da stiessen zwei Welten aufeinander. Hier die mutige, immer wieder enttäuschte, aber nie aufgebende Rebellin, die ihre eigene Freiheit sich erkämpfte, dort der weithin angepasste Pastor, der aus seinen Kirchen-Strukturen mit Kommissionen und Anträgen bestens vertraut war und selbst Hungerstreiks für genehmigungspflichtig hielt.

Gaucks Antrag, Bohley auszuschliessen, wurde abgelehnt. Die Pointe besteht natürlich darin, dass Gauck ohne Mahnwachen, Stasibesetzungen, Hungerstreiks nicht das geworden wäre, was er geworden ist. Sie haben seinen Aufstieg an die Spitze der Stasi-Unterlagenbehörde entscheidend befördert.

Der Streit darüber, ob Joachim Gauck zu DDR-Zeiten der Opposition angehörte (eher nicht), ob er ein Bürgerrechtler war (ein Begriff, den es damals als Selbstbeschreibung kaum gab), ist kaum von Bedeutung. Er ist auch entschieden. Im Lexikon „Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur“, eine Art Standardwerk, erschienen im Propyläen-Verlag, im Jahr 2000, herausgegeben von einigen eher konservativen Historikern und Politologen, kommt der Name Gauck nicht vor. In Ehrhart Neuberts oft gerühmter „Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989“, Ch. Links-Verlag 1997, die mit großem Fleiß jede Milchkanne notiert, an der ein Oppositioneller mal Station machte, wird Joachim Gauck als handelnde Person nicht erwähnt.

Jeder Streit darüber, ob er nun ein Oppositioneller war oder nicht, erübrigt sich. Was also machte die Faszination aus, die Gauck ausstrahlte, als er 1990 zum ersten Mal auf der nationalen Ebene in der frei gewählten Volkskammer der DDR auftrat und dort schnell zu einer Identifikationsfigur aufstieg?

Die Opposition in der DDR war bunt und vielfältig. Dem Einheitsbrei der SED wollte sie Pluralität entgegensetzen. Die Protagonisten der Opposition, die Vordenker der kritischen Gruppen, stammten überwiegend aus dem bürgerlichen Rest der DDR-Gesellschaft, der sich jahrelang öffentlich an dem repressiven System und an der Staatssicherheit gerieben hatte. In der Berliner Oppositions-Szene gab es immer  wieder einmal Animositäten zwischen den Gruppen. Wer konnte am besten mit den West-Korrespondenten? Wer wollte welchen Weg einschlagen? Wie viel Distanz und wie viel Anpassung konnte man sich leisten? Aber  bei allen Unterschieden: es gab Gemeinsamkeiten in den Forderungen: freie Wahlen, Ende des Monopolanspruchs der SED, Änderung der Verfassung, Medienfreiheit, neues Rechtssystem. Mit einem Wort: die Demokratisierung der DDR. Die deutsche Frage wurde als wichtig, aber nicht als aktuell und vordringlich erachtet. Durch die SED war der Begriff „Sozialismus“ so diskreditiert, dass jeder Oppositionelle, der ihn doch irgendwie bewahren wollte, sich zunächst von den real existierenden Verhältnissen empört abwandte, um dann doch vorzutragen, was erhaltenswert an einem demokratisch gewandelten Sozialismus sein könnte. Oppositionelle wie Vera Lengsfeld oder Ehrhart Neubert haben sich im Herbst 1989 dezidiert für einen demokratischen Sozialismus ausgesprochen und für eine Alternative zum politischen Weg der Bundesrepublik Deutschland. Ein besonderes Kennzeichen der Opposition bestand ja darin, dass sie auf der einen Seite eine Nähe zu den Evangelischen Kirchen in der DDR hatte, die ihnen ein Dach bot, auf der anderen Seite mussten sich Oppositionelle verständlicherweise gerade von der Institution emanzipieren, die ihnen in gewisser Weise auch Schutz gewährte. Viele empfanden die Kirche als zu angepasst, zu staatsnah, zu bevormundend, zu etabliert. Auch die Christen, die die kritischen Gruppen wesentlich mitgeprägt haben. Der Abnabelungsprozess war manchmal heftig und führte zu mancherlei Verwerfungen. Und eine gar nicht so untypische DDR-Oppositions-Biografie konnte so aussehen, dass man sich selbst als überzeugten Atheisten beschrieb, Bischöfe oder Superintendenten  bei Gelegenheit zur Sau machte und bis zum politischen Umbruch selbstverständlich in einem kirchlichen Baubüro „überwinterte“.

So war das eben und ehrenrührig daran war nichts.

Und dann erschien Joachim Gauck auf der Szene. Die Oppositionellen in der DDR standen überwiegend eher links. Gauck nicht. Sie waren für eine Demokratisierung der DDR. Gauck nicht. Sie stellten sich eine Alternative zur Bundesrepublik vor. Gauck nicht. Ihre Sehnsüchte gingen weiter als nach Westen. Gaucks Sehnsucht ging dort auf. Gauck muss denen, die sich bis dahin nur verdruckst, verhuscht, vage für eine eigenständige DDR, für etwas Anderes als die Bundesrepublik ausgesprochen hatten (die es aber gar nicht so meinten), wie eine Erlösung vorgekommen sein. Für einen Teil der Oppositionellen in der DDR muss es so oder so ähnlich gewesen sein. Er befreite sie von ihren Ungewissheiten. Sie trauten es sich nicht, aber er bezeichnete sich als Anti-Kommunisten. Sie trauten es sich nicht, aber er war schon auf dem Weg in sein „ Reich der Freiheit“. Er war angekommen. Das wollten sie auch. Gauck hat die Opposition in der DDR entzweit.

Es gibt ein Interview, das Christoph Dieckmann, im Juni 2010 mit Joachim Gauck für „Die Zeit“ geführt hat. Da fragt, erzählt Dieckmann, nach einem langen Rotwein-Abend Gauck den Journalisten: „ Warum, fragt er, sind Sie nicht auf unserer Seite? Bin ich doch- nur nicht so deklamatorisch.“ Welche Seite meint Gauck, und wer sind seine Unsrigen? Ossimäßig: Sag mir, wo du stehst. Wessi-gauckmäßig: Which side are you on? Jetzt ist auch ein Teil der früheren DDR-Opposition nicht mehr still, sondern deklamatorisch auf Gaucks Seite. In der Post ist ein Brief aus Sachsen-Anhalt. „Ich habe Angst vor den Horden Gaucks, wenn ich den Mund aufmache. Ich schweige laut.“

Dass diese Angst berechtigt sein kann, zeigt die Reaktion auf eine Gauck-kritische Erklärung, die elf namhafte frühere DDR-Oppositionelle aus dem Umfeld der Evangelischen Kirchen im März 2012 veröffentlicht haben. Sie behaupten einen anderen Freiheitsbegriff als Gauck zu haben. Sie wollen mit ihren Erfahrungen aus der DDR kritische Bürger im demokratischen Deutschland bleiben. Ihre Erklärung hat keinerlei Schärfe gegen die Person Gauck. Aber wie jetzt auf sie eingedroschen wird aus der anderen Seite der DDR-Opposition ist beispiellos.

Dabei tut sich vor allem Gerd Poppe hervor.  Ausgerechnet der frühere Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung diffamiert, beleidigt und beschimpft die elf Autoren als pseudosozialistische Lyriker dämlicher Texte, die sich in die kuschelige DDR zurücksehnten. Dies Menschen wie Heino Falcke aus Erfurt oder Christof Ziemer aus Dresden oder  Sebastian Pflugbeil aus Berlin zu unterstellen, ist nur widerlich. Joachim Gauck hat Unterstützer wie Gerd Poppe als Schwergewichte der Opposition geadelt, und seine Kritiker nennt Gauck „ein, zwei Figuren, deren Motive man mal untersuchen sollte“. Damit verschärft Gauck den Konflikt, anstatt ihn zu beruhigen.

Zu DDR-Zeiten gab es zwischen den oppositionellen Gruppen auch Streit. Er ist aber in der Regel freundschaftlich ausgetragen worden. Das Gegenüber war klar. Der totalitäre SED-Staat sollte gemeinsam infrage gestellt werden. Schon im Mai 1990 war aber deutlich geworden, dass die Oppositions-Gruppen sich voneinander entfernten. Heino Falcke lud damals ins Bonhoeffer-Haus in Berlin zu einem Gespräch ein. Was wollen wir möglicherweise gemeinsam einbringen in die bevorstehende deutsche Einheit? Schon im Mai 1990 gab es aber keine Gemeinsamkeit der DDR-Opposition mehr. Was unter dem Druck der Diktatur zusammengehalten hat, fällt danach sogleich auseinander. Das ist kein neues Phänomen.

Die jetzt einsetzende Denunziation des Anderen, der früheren Weggefährten, hat aber eine neue Qualität. Eine negative Qualität.


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