Jun 082013
 

Kirchenkampf und Antisemitismus

Von Gerhard Rein, 26.04.2013

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Man hat ja sonst nichts zu tun. Warum also abends nicht in einen Vortrag, eine Ausstellungseröffnung, zu einem Theaterstück? In der dreckigen, windigen, lebendigen Stadt ist der Alltag seit Jahrzehnten von der Vergangenheit geprägt. Man kommt nicht an ihr vorbei. Nicht von ihr los. Und in diesen Tagen, Wochen, Monaten geht es entweder um Berlin 1933 oder 1938 oder 1945. Zerstörte Vielfalt lautet der gefundene Oberbegriff.Heute Abend wird der Tag von Potsdam behandelt. Also der März 1933 und Hitlers Machtergreifung. In der Topografie des Terrors werden Stühle um Stühle in den längst vollbesetzten Saal geschleppt. Die üblichen jungen Doktoranden, die üblichen älteren Menschen, verstörte Vielfalt, die übliche Historikerzunft. Einer aus ihr ist heute mit dem Vortrag an der Reihe. Manfred Gailus hat als Professor für Neuere Geschichte an der TU Berlin vorzügliche Arbeiten zum Protestantismus und Nationalsozialismus veröffentlicht, die zu lesen aufregend und aufschlussreich sind. Ein gesegneter Rhetor ist Gailus nicht. Seine Sätze geraten gleichförmig auf einer mittleren Tonlage. Das Hinterhältige an seiner Redeweise besteht darin, dass Gailus niemandem eine Chance gibt einzuschlafen. Gailus schildert den 21. März 1933:

Vor dem Staatsakt in der Garnisonskirche mit dem greisen Reichspräsidenten von Hindenburg und dem in Zivil gekleideten Reichskanzler Hitler finden zwei Gottesdienste statt. In der Nicolaikirche der für die evangelischen Abgeordneten des Reichstags, unter ihnen der als Innenminister vorgesehene Hermann Göring. Der war so angetan von der Predigt, dass er dem Prediger nach dem Gottesdienst erklärt, dies sei die beste Predigt gewesen, die er je gehört habe. Das jedenfalls berichtet stolz der Prediger, Generalsuperintendent Otto Dibelius. „Ja, mit Gott zu neuer Zukunft. … Deutschland wieder und für immer: ein Reich, ein Volk, ein Gott! Amen“. So endet seine Predigt in der Nicolaikirche. Dibelius gehörte der Deutschnationalen Volkspartei an. Parteislogan 1924: „Wer nicht wählt, wird Judes Sklave.“ Dibelius schrieb 1933 seinen kirchlichen Mitarbeitern, „daß unter uns nur wenige seien, die sich nicht von Herzen freuten“. Über den politischen Umbruch in Deutschland. Er selbst habe seit seiner Studentenzeit „gegen Judentum und Sozialdemokratie gestanden.“ Schon 1922 notierte Dibelius: „Das jüdische Element ist unausgesetzt im Wachstum begriffen. … es ist die unerwünschte Blutmischung, die dem deutschen Volke das einheitliche Fühlen und Wollen so ungeheuer erschwert.“

Dass Dibelius ein Deutschnationaler, ein strammer Konservativer war, hatte ich ja irgendwie im Gedächtnis, aber dass er als ausgemachter Antisemit sich geradezu brüstete, hatte ich entweder nie gehört, oder vergessen oder verdrängt. Und plötzlich, im April 2013, verstand ich, zum ersten Mal, warum in der  berühmten Stuttgarter Schulderklärung der Evangelischen Kirchen gegenüber Vertretern der Oekumenischen Bewegung im Oktober 1945 kein einziges Wort von den deutschen Verbrechen, von der Schuld an den Juden stand. Das war mir immer unbegreiflich gewesen. Aber nun ist es mir klar. Der erste Entwurf für die Stuttgarter Schulderklärung stammte von Dibelius. Martin Niemöller hat sie dann ergänzt. Ich habe in den 1960/70 iger Jahren Willem Visser`t Hooft, den ersten Generalsekretär des Weltrates der Kirchen, der 1945 in Stuttgart die Schulderklärung entgegennahm, immer mal wieder gefragt, wie er sich dieses Versagen erkläre. Der Holländer, mein heimlicher Held, mein fernes Vorbild, konnte es nicht erklären.

Und wie es dann so ist: ob der eigenen Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung beunruhigt, fängt man an, in Büchern und Pamphleten zu blättern.

In den zwanziger Jahren spricht sich der bayerische Pfarrer Friedrich Wilhelm Auer für einen Boykott jüdischer Geschäfte aus.1921 fordert das Hannoversche Sonntagsblatt ein Berufsverbot für Juden in der Presse.1924 ruft Hitler Protestanten und Katholiken auf, gemeinsam gegen Juden zu kämpfen. 1933 singt die Kaiserswerther Diakonisse Emma Obermeier ein Loblied auf die braunen Kolonnen: „Das Hakenkreuzbanner weht stolz voran… Das undeutsche Wesen zur Türe hinaus. Wir fegen mit eisernen Besen das Haus. Sieg Heil.“ September 1933. Die Theologen Werner Ehlert und Paul Althaus erklären in einem Erlanger Gutachten: „Das deutsche Volk empfindet heute die Juden in seiner Mitte mehr denn je als fremdes Volkstum.“ Im Mai 1934 tagt in Wuppertal-Barmen die Erste Bekenntnis-Synode. Zur Judenfrage schweigt sie. Oberkirchenrat Otto Bezzel predigt in der Bayreuther Erlöserkirche: „Die Juden sind die Zerstörer und gehören hinausgepeitscht.“ Auch die Pfarrer der Bekennenden Kirche legen von 1938 an gegenüber Hitler den Treueschwur ab. Die „Junge Kirche“, die Zeitschrift der Bekennenden Kirche, sendet im April 1939 eine Ergebenheitsadresse an Adolf Hitler zu dessen 50. Geburtstag. Die Bekennende Kirche, und Dibelius mitten drin, erklärt im Mai 1939: „Im Bereich des völkischen Lebens ist eine ernste und verantwortungsbewusste Rassenpolitik zur Reinerhaltung unseres Volkes erforderlich.“  

Und bevor nun Dibelius-Freundeskreise und Dibelius-Rehabilitations-Initiativen die Redaktion oder gar mich mit empörten e-mails und Briefen überhäufen, erkläre ich feierlich:

  • Dibelius war ein ehrenwerter Mann seiner Zeit. Er wurde im September 1933 in den Ruhestand versetzt. Nicht weil er sich den Nazis widersetzte, deren Machtergreifung hatte er ja ausdrücklich begrüsst, sondern weil er die Bewegung Deutsche Christen ablehnte. Dibelius schloss sich der Bekennenden Kirche an. Bis heute dauert der Streit um die Deutungshoheit über die Bekennende Kirche an. Bruderräte contra Bischofskirchen, Barmenianer contra Landeskirchen.

Der Kirchenkampf war ein Kampf um die Kirche, nicht ein Kampf gegen die Nazis. Kein Kampf für die Juden, kein Kampf für die Anderen.

Jetzt habe ich es endlich begriffen.

  • Der Kirchenkampf ein Mythos und Otto Dibelius ein bekennender Antisemit.

Aber wen störte das nach dem Krieg? Niemanden. So konnte Dibelius 1949 Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland werden und damit nach der Katastrophe ihr erster Repräsentant. Und 1954 als erster Deutscher einer der sechs Präsidenten des Weltrates der Kirchen. Unglaublich. Unfassbar. Aber wahr. Und ich bin der Dumme. Warum bedurfte es des Besuchs eines Vortrags über den Tag von Potsdam, achtundsechzig Jahre später, dass ich endlich begriff? Historiker haben das doch schon lange aufgeschrieben.Oder?

Manfred Gailus spricht von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Wolfgang Gerlach1 hat 1993 akribisch das Schweigen der Zeugen notiert.

Ich habe seine Arbeiten nicht zu Kenntnis genommen. Der Tübinger Kirchenhistoriker Klaus Scholder hat überwiegend über die Kirchen und das Dritte Reich publiziert. Das war sein Arbeitsschwerpunkt. Im Bücherregal suche und finde ich eine Portraitsammlung, die Scholder Anfang der 80iger Jahre herausgegeben hat. Dreizehn enge Druckseiten: Scholder über Dibelius. Das Wort Antisemitismus kommt darin nicht vor.

Es ist eine einzige Schande. Unsere.


Anmerkung

(1) Wolfgang Gerlach: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden. 2. Auflage 1993


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