Jul 162013
 

Land und Leute

Von Carl Paul

Missionsstunden von R. W. Dietel, 5. Heft, Leipzig 1901, Seite 1-17  

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Erste Missionsstunde

Inhalt

  • Die Schönheit der Landschaft
  • Verschiedene Schichten der Bevölkerung
  • Die tote und die lebende Sprache
  • Geschichte
  • Sklavenwesen
  • Raubzüge

  Joh. 1, 5. Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht begriffen.

Unter den vielen Rätseln, die uns im dunkeln Erdteil entgegentreten, ist Abessinien und seine Geschichte eins der geheimnisvollsten. Ein Land, das nur 10 nördlich vom Äquator liegt, auf allen Seiten von ausgebrannten Wüsten umgeben, und doch voll von Schneebergen und grünen Matten. Ein Christenland, und doch auch keins, denn Krieg und Blutvergießen wüten in ihm fast unaufhörlich. Ein Judenvolk im Lande, und doch kein Israel. Ein Missionsgebiet der christlichen Kirche seit anderthalb Jahrtausenden, und doch immer noch des seligmachenden Evangeliums dringend bedürftig. Soll man das nicht ein Rätsel, ein Wunder nennen?Wie eine trutzige Felsenburg liegt das geheimnisvolle Gebirgsland im Quellgebiet des Blauen Nil. Die von Ägypten ausgehenden Zugangsstraßen steigen allmählich an. Wenn die Schifffahrt ans dem Nil und seinen Zuflüssen nicht durch Stromschnellen unterbrochen würde, könnte man von Alexandria aus mit dem Dampfboot bis ins Herz von Abessinien fahren. Die Wasserfälle bilden aber nicht das einzige Hindernis für den Missionar, der von dieser Seite kommt. Er muss eine weite Reise durch mohammedanisches Gebiet machen, und das ist ein noch stärkerer Riegel für die ankommenden christlichen Glaubensboten. Zeitweilig haben die fanatischen Horden des Islam den Weg gänzlich gesperrt. Man denke nur an General Gordons tragischen Tod in Khartum!

Death of General Gordon at_Khartoum, by J L G FerrisDer Tod von Gordon in Khartum
von Jean Leon Gerome Ferris um 1895

Öfter als von Westen her sind daher die Besucher Abessiniens von Osten gekommen. Dort treten die Gebirge ziemlich nahe an die heißen Gestade des Roten Meeres heran und fallen mit unzähligen Felsterrassen und steilen Schluchten zur Küstenebne ab. Das vielgenannte Massaua, eine kleine Felseninsel im roten Meere, bildete früher in der Regel den Ausgangspunkt für abessinische Reisen, Neuerdings wählt man fast noch lieber Tadschurra oder Obok an der Bucht, die gegenüber von Aden in die ostafrikanische Küste einschneidet. Ja, unternehmungslustige Europäer haben sogar mit dem Bau einer Eisenbahn von hier nach Addis Abbeba in Südabessinien begonnen. Wenn der bis jetzt in Abessinien gänzlich unbekannte Schienenweg wirklich einmal in Gebrauch genommen werden sollte, wird sich kein Europäer mehr des schwierigen und langsamen Aufstiegs bedienen, den die Kameel-Karawanen bisher von Massaua ins Gebirge hinauf unternahmen.Der Weg, den die Missionare bis vor die Tore Abessiniens zurückzulegen hatten, war nur halb so weit als nach vielen andern Gebieten Afrikas, aber trotzdem waren die Missionsreisen nach Abessinien bis in die jüngste Zeit herein schwieriger, als viele andere, die in Afrika zu bewerkstelligen sind. Am roten Meer galt es jedes Mal erst misstrauische und, goldgierige Sultane willig zu machen. Dazu musste der Eintritt ins Land oft auch durch vorherige Verhandlungen mit dem Machthaber Abessiniens vorbereitet werden. Die Mühsale des 40 – 50 tägigen Karawanenwegs kamen noch obendrein dazu.Nach der Landung hat der Reisende zuerst den heißen Küstenstreifen zu überschreiten, wo die anspruchslose Dattelpalme und einige schwach belaubte Akazien das einzige Grün in der Landschaft bilden. Die Umgebung von Massaua gehört zu den heißesten Teilen der Erde, Die Durchschnittstemperatur des Jahres ist 30 – 35o C., es gibt aber Strecken an der Karawanenstrasse, wo die Hitze bis auf 50 C. steigt, und was das schlimmste ist, bei bewölktem Himmel bringt auch die Nacht kaum eine Abkühlung. Wie dankbar begrüßt der Reisende da bei dem nun folgenden Aufstieg in die Berge die von oben her wehenden kühleren Lüfte.

Umso mehr zu bemitleiden sind die Sklavenkarawanen, die von der Höhe zu den Handelsplätzen an der Küste hinabgeführt werden. Die Abessinier und ganz besonders die Abessinierinnen bilden einen begehrten Handelsartikel für die arabischen Händler, und leider liefern die fortwährenden Kriege im Lande auch immer neue Zufuhr. Hat der Sklavenhändler eine gehörige Anzahl beisammen, so bildet er eine Karawane, die er nach Arabien hinüberschafft.

Sklaventransport in Afrika

Der Marsch bis an die Küste des roten Meeres dauert in der Regel einen Monat oder noch darüber. Die verschiedene Länge der Tagereisen hängt von dem Abstande der Orte ab, an denen Oasen zu finden sind. Es gibt Strecken, wo der Zug oft mehrere Tage hindurch an kein Wasser kommt. Da müssen die alten und jungen Sklaven den nötigen Wasserbedarf für diese Zeit selbst tragen. Welch eine Last, wenn auf den ungebahnten Wegen und in der zum Ersticken glühenden Luft eine gefangene Mutter auch noch ihr kleines Kind zu tragen hat! Dabei werden die Unglücklichen, so lange sie sich nur noch von der Stelle bewegen können, durch die Peitsche des Händlers vorwärts getrieben und oft dem jungen Kinde, das seinen kostbaren Schatz von Trinkwasser aufgespart hat, die Kürbisflasche von grausamer Hand weg gerissen. Nur im äußersten Falle, wenn eins dieser armen Menschenkinder erkrankt oder vor Erschöpfung zusammenbricht, wird es auf ein Kamel oder Maultier gesetzt; nicht aus Erbarmen, denn diese weichherzige Regung kennt der Sklavenhändler nicht, sondern nur um des drohenden Geldverlustes willen.

Doch wenden wir jetzt den Blick von dem traurigen Bilde ab! Unsere Karawane schleicht durch wilde Felsentäler in das abessinische Hochland hinauf. Diese Bergklüfte sind zunächst noch kahl und öde. Die nackten Felswände strahlen bei Tag und Nacht eine unerträgliche Hitze wieder. Aber nach einiger Zeit öffnet sich die Schlucht. Wir treten in ein weites Thal hinaus, aus dessen Mitte ein Wasserspiegel freundlich herüberleuchtet. Doch was ist das? Die Ufer sind blendend weiß, wie mit frisch gefallenem Schnee bedeckt. Das ist ein Salzsee, der in der regenlosen Zeit fast ganz austrocknet. Hier lagern große Karawanen. Die Kamele werden mit Salzsäcken bepackt. Droben auf den abessinischen Märkten sind die länglich runden Salzstücke sehr begehrt. Sie werden geradezu als Scheidemünze benutzt. Wenn in der trockenen Zeit das Wasser in diesen Salzlachen verdunstet, werden die Reisenden hier oft durch die bekannte Fata Morgana getäuscht. Sie sehen liebliche Landschaftsbilder, entgegenkommende Karawanen, erfrischendes Wasser u. dergl. Beim Näherkommen aber löst sich alles in Dunst auf, es war nur eine Luftspiegelung.

Je höher man hinaufkommt, umso schöner werden die Landschaftsbilder, umso grüner die Täler. Da kann das Äuge sich wieder am reichlicheren Baumwuchs laben, da gibt es nie versiegende Quellen und anmutige Weiher, wo das Wild in Scharen zur Tränke kommt, die zierlichen Gazellen und die starken, plumpen Büffel, Bei Nacht ist man an einsamen Lagerplätzen freilich vor Löwen und Hyänen nicht sicher, die Flüsse aber wimmeln von Krokodilen und Nilpferden.

Kommt man endlich ganz hinauf, so liegt das Wunderland Abessinien mit seinen springenden Wassern, mit den himmelhoch ragenden Schneebergen und den grünen Matten vor den erstaunten Blicken. Der Europäer findet hier die schönsten Schweizerlandschaften wieder, nur dass die Felsen noch ärger zerrissen und zerklüftet sind. Wer wunderliche Bergformen sehen will, muss in dieses Alpenland gehen. Die Eingeborenen fügen selbst, Gott habe vergessen, ihre Heimat bei der Schöpfung aus dem Chaos zu ziehen. Die Ursache dieser seltsamen Formen ist in vulkanischen Kräften zu suchen, die in früheren Zeiten hier gewaltig rumorten. Noch vor 100 Jahren sollen sie sich an einzelnen Stellen geregt haben. Heute gibt es keine vulkanischen Ausbrüche mehr und Erdbeben nicht häufiger, als anderswo.

Wenn die in regelmäßigen Zwischenräumen wiederkehrenden Regenfälle eintreten, füllen sich die sonst fast trockenen Flussbetten, die zumeist dem Stromgebiet des Nil angehören, mit gewaltigen Wassermassen an. Die Bäche weiden zu reißenden Strömen und führen das Ackerland hinweg. Das ist die Zeit, wo drunten in Ägypten die Überschwemmungen eintreten, die durch ihre Schlammablagerungen die sprichwörtlich gewordene Fruchtbarkeit des Nilufers herbeiführen. Abessinien ist reich an Wasser. Von den Flüssen sei nur der Atbara, einer der bedeutendsten rechten Nebenflüsse des Nil erwähnt, der aus Nord-abessinien hervorströmt, während der blaue Nil oder Bahr-el-Asrak seine Quelle im Süden des Landes hat. Die dem roten Meere zuströmenden Flüsse sind kurz und wenig wasserreich. Von den vielen großen und kleinen Seen sei nur der Tana genannt. Er ist eins der lieblichsten afrikanischen Gewässer mit stets grünen Usern. Nilpferde, wilde Gänse, Pelikane und Reiher beleben die große blaue Wasserfläche; aus den schönen Wäldern, die sich in ihm spiegeln, ertönt herrlicher Vogelgesang, Unter den Inseln, die im See liegen, nimmt Matraha einen bevorzugten Platz ein. Sie ist groß genug, um eine ganze Menge abessinischer Priester zu beherbergen, die an einer weit und breit berühmten Kirche ihren Dienst errichten und die am Seeufer wohnenden Leute unter ihrer Botmäßigkeit halten.

Die Lage des Landes und seine gebirgige Gestalt bringt es mit sich, dass fast jedes Klima der Erde in Abessinien ver-treten ist. In den Niederungen und den Flusstälern findet man alle Gewächse der heißen Zone vertreten. Da gedeiht der Kaffeebaum, der ja ganz in der Nahe feine Heimat hat, ferner der gewaltige Affenbrotbaum, der Riefe unter den afrikanischen Bäumen, aber auch Bananen, Tamarinden, Euphorbien und Sykomoren. Letztere liefern ein vorzügliches Holz, das man früher in Ägypten viel zu den Mumiensärgen benutzte. Auf den Hochebenen lassen sich fast alle Getreidearten anbauen: Mais, Hirse, Gerste, Weizen und Knollenfrüchte; unter ihnen findet man in neuester Zeit auch die Kartoffel,

Wie schon ist dieses Land und wie glücklich könnte hier ein fleißiges Volk leben, wenn es im Frieden den Acker baute! Aber seit Menschengedenken ist der holde Friede in Abessinien nicht für längere Zeit eingekehrt. Die Bevölkerung ist schwer zu beschreiben. Von einem abessinischen Volke kann man kaum reden. Es ist ein Gemisch vieler Völkerschaften, dessen einzelne Bestandteile kaum noch nachweisbar find. Die ursprüngliche Bevölkerung bildeten die Agau. Ihre Heimat war nach den einen das südliche Arabien, während andere von einer aus Ägypten erfolgten Einwanderung reden. Von dieser Unterschicht des Volkes heben sich die Falascha ab. Sie sind, wie jene, semitischen Ursprungs, ja, sie sollen sogar reine Abkömmlinge des Volkes Israel sein. Wir werden uns später noch ausführlicher mit diesem Bestandteil der abessinischen Bevölkerung zu beschäftigen haben. Neben diesen von alters her vorhandenen Stämmen sind im Laufe der Zeit andere Volksteile in Abessinien hervorgetreten und haben es verstanden, sich Einfluss und Ansehen zu verschaffen. Da sind erstens die mächtigen und zahlreichen Amhara, die in der gleichnamigen Provinz und in dem südlichsten Zipfel des Landes, der den Namen Schoa führt, wohnen; sodann die Tigre im nördlichen Abessinien, ganz zu schweigen von den vielen Mischrassen, die durch Vereinigung mit den benachbarten Völkern zustande gekommen sind Der schöne starke Stamm der Galla ist hier besonders zu nennen.

Im Allgemeinen ist es ein prächtiger Menschenschlag, der Abessinien bewohnt. Die Schoaner z. B. sind schlank, kräftig und wohlgestaltet. Die schwarze Hautfarbe ist zwar vorherrschend, sie geht aber in allen Schattierungen bis ins Olivenbraune. Die Gesichtszüge sind oft von einem nicht unedlen und lebendigen Ausdruck. Wenn man einen der Großen des Landes auf seinem prächtig gezäumten Zelter reiten sieht, mit dem fliegenden Leoparden- oder Löwenfell um die Schulter, auf dem Kopf eine Art Diadem und die den hohen Rang anzeigende wehende Reiher-feder, eine trefflich gearbeitete Lanze in der Hand, so hat man ganz den Eindruck einer edlen, ritterlichen Gestalt. Auch die Frauen haben ein gewinnendes Äussere. Sie tragen meist ein weites faltenreiches Gewand, welches mit einer Schnur um die Hüfte gebunden wird. Die Frauen und Mädchen des Königs gehen in Kleidern von weißer Baumwolle, die mit breiten roten oder blauen Streifen verziert sind. Die Tracht der gewöhnlichen Frauen ist von derselben Form, jedoch nur einfach weiß. Um den Hals hängen sie Ketten von Bernstein oder Glasperlen. Schwere gegossene Ringe von Zinn werden gleichsam um den Arm geschmiedet und können nur mit vieler Mühe und Gewalt wieder abgezogen werden. Bei besonderen Festlichkeiten legt man gerne Ohrgehänge von Silber an. Besonders auffallend ist dem Fremden der erste Anblick einer Abessinierin nicht allein wegen des ganz kahl geschorenen Hauptes, sondern noch mehr, weil sie sich die Augenbrauen abrasiert oder ganz ausreißt. An Stelle derselben wird mit blauer Farbe eine geschweifte Linie gezogen, die bis auf die Backen herabgeht. Nach ägyptischer Sitte werden auch die Nägel der Finger und der Zehen rot gefärbt. Nackte Gestalten bekommt man im ganzen Lande nicht zu sehen; es müssten denn ganz kleine Kinder sein,

Was die Sprache betrifft, so ist zwischen der alten äthiopischen Sprache, Geez genannt, und den jetzt in Gebrauch befindlichen Mundarten zu unterscheiden. Ein Sprachforscher urteilt über das Geez, die Schöpfer desselben müssten zu einem der edelsten Zweige der semitischen Völkerfamilie gehört haben. Gerade das Geistige in der Sprache der alten Äthiopier sei höher entwickelt, als bei anderen semitischen Stämmen. Es ist eine ziemlich reichhaltige Literatur vorhanden, die aber keine selbständigen Schriften, sondern nur Übertragungen aus andern Sprachen enthält. Die äthiopische Bibelübersetzung ist besonders interessant und soll bereits im 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung entstanden sein. Merkwürdigerweise fehlt in der abessinischen Literatur die weltliche Poesie gänzlich. Mit Ausnahme von kirchlichen Hymnen, die namentlich zur Verherrlichung der Heiligen dienen und in sehr einfachen Reimen abgefasst sind, gibt es keine poetischen Zeugnisse aus alter Zeit, Die neuere Zeit aber hat erst recht keine aufzuweisen.

Schon seit mehreren Jahrhunderten ist das Äthiopische zu einer toten Sprache geworden. Es dient nur noch als Kirchen-sprache. Als ums Jahr 1300 die Residenz der Könige von Axum im Norden nach Amhara im Süden verlegt wurde, kam die Mundart jener Gegenden zunächst als Hofsprache in amtlichen Gebrauch, während das Äthiopische oder Geez die Büchersprache blieb. Die furchtbaren politischen Stürme, die seit 1500 über das unglückliche Land dahin brausten und die alte Kultur zerstörten, brachten die ursprüngliche Landessprache ganz außer Gebrauch,

Bei der Geschichte von Abessinien müssen wir uns mit einem ganz flüchtigen Überblick begnügen; sie ist wechselreich und hochinteressant, aber auch überaus verworren und überreich an schrecklichen Ereignissen. Europäische Gelehrte haben sich im letzten Jahrhundert bemüht, die alten Urkunden des Landes aufzusuchen und zu erforschen. Dabei sind eine große Menge Regententafeln und Tabellen, die als Chronik des Landes bezeichnet werden können, in ihre Hände gefallen, Deutsche und andere europäische Bibliotheken bergen jetzt einen guten Teil dieser Geschichtsurkunden.

Wie oben schon erwähnt, wird die Heimat der ursprünglichen Bewohner Abessiniens drüben jenseits des roten Meeres in Arabien zu suchen sein. Die dort wohnhaft gewordenen Sabäer, deren in den Prophetenbüchern des alten Testaments wiederholt Erwähnung getan wird, waren ein Handelsvolk, vermutlich die Nachkommen des 1. Mos. 10, 7 genannten Saba. Sabäische Kaufleute sollen den Handel Ostafrikas in ihre Hände zu bekommen gesucht haben und dazu eine Vereinigung oder Gesellschaft, habat genannt, gegründet haben, aus welchem Worte unsere heutige Bezeichnung Abessinien entstanden sein soll. Diese Handelsgesellschaft sagte sich später vom sabäischen Mutterlande los und gründete auf der afrikanischen Seite des roten Meeres ein eigenes, unabhängiges Reich, Es ist sehr wahrscheinlich, dass unter diesen Handelsleuten ein gut Teil jüdischer Kaufleute gewesen sind, die im Interesse eines gewinnbringenden Handels schon in der Zeit der ersten Könige nach Südarabien ausgewandert waren. So würde es sich am einfachsten erklären, dass sich bis zum heutigen Tage über eine Million Juden in Abessinien befinden. Im Abessinischen Volke lebt freilich eine andere Überlieferung.

Danach soll Menelek, den die Fürsten des Landes als ihren Stammvater bezeichnen, ein Sohn des Königs Salomo und der Königin von Saba gewesen sein.

Die Königin von Saba, äthiopisches Fresko

Die Königin von Saba, äthiopisches Fresko

Die Sage berichtet, er sei als junger Mann von Jerusalem, wo er erzogen wurde, ausgewandert und habe dabei die Bundeslade mitgenommen, worauf ihm diese Juden, wie ein Bienenschwarm dem Weissel, folgten. Auf diese Weise wäre die Einwanderung der Juden in Abessinien zustande gekommen. Ob an dieser Geschichte irgendetwas Wahres ist, lässt sich nicht entscheiden. Wahrscheinlich ist es nur ein Spiel der Phantasie, das von den abessinischen Herrschern umso lieber weiter gesponnen wurde, als sie sich dadurch mit dem Glänze einer berühmten Herkunft umgeben konnten. Erst beim Beginn unserer Zeitrechnung fällt ein etwas helleres Licht auf die Geschichte des geheimnisvollen Berglandes. Damals entstand das Reich von Axum, das bald eine feindselige Haltung zu den Sabäern in Arabien einnahm. Einer der Könige von Axum brachte sogar zeitweilig das Mutterland seines Volkes unter seine Botmäßigkeit. Sodann wissen wir von einer Verbindung des Kaisers Constantius mit Aizanas von Axum. Es wird ein Brief des christlichen Kaisers an den letzteren aus dem Jahre 356 aufbewahrt. In dieser Zeit machten sich griechische Einflüsse hier geltend, zugleich aber fand das Christentum Eingang, wovon wir in der nächsten Missionsstunde ausführlich handeln werden.

Seit dem Auftreten Muhammeds erhob sich ein mächtiger Sturm gegen das nun christlich gewordene Abessinien. Die Herrscher des Landes fühlten sich je länger je weniger imstande, für sich allein dem Ansturm des Islam zu widerstehen. Sie riefen daher den König Alphons von Portugal zu Hilfe, dessen Flotte damals die Handelsbeziehungen zwischen Europa und Ostafrika beschützte. Die Portugiesen forderten als getreue Söhne des Papstes als Preis für ihre Unterstützung die Unterordnung der abessinischen Kirche unter den Oberpriester in Rom. Während noch die Unterhandlungen schwebten, besetzten die Türken Massaua und schlossen ein Bündnis mit dem an der afrikanischen Küste allmächtigen Danakil-Sultan Mohammed Granje, der im Verein mit den Galla und Somali plündernd und mordend Abessinien durchzog, wobei die alte Residenz Axum zerstört ward. Die Portugiesen kamen nun wirklich zu Hilfe, später auch ein Schwarm von Jesuiten, welche die Interessen Roms wahrnehmen sollten. Der dritte Teil des Landes wurde den Befreiern eingeräumt und den römischen Priestern ein weitreichender Einfluss gestattet. Die Fremdlinge missbrauchten aber die erlangte Gastfreundschaft, daher wurden sie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wieder vertrieben und die alte abessinische Kirche wiederhergestellt.

Seitdem ist das unglückliche Land nicht wieder zur Ruhe gekommen. An die Stelle des ursprünglichen einheitlichen Regiments traten die drei Reiche Tigre, Amhara und Schoa. Fortwährende Kämpfe ergaben sich aus dieser Teilung, Die neueste Geschichte Abessiniens beginnt mit Theodorus II, der die drei Sonderfürsten besiegte.

Er hieß ursprünglich Kasa und war der Sohn eines abessinischen Statthalters und einer Mutter, die sich ihrer salomonischen Abstammung rühmte. Um sein Ansehen zu stützen, suchte er wieder in Europa Bundesgenossen. Weil er aber gleichzeitig mit dem Kaiser der Franzosen und mit der englischen Regierung unterhandelte, zerschlugen sich beide Bündnisse. Theodoros, der wie alle neueren Fürsten Abessiniens den Titel Negus Negest d. i. König der Könige führte, geriet in Wut und ließ seinen Zorn an den politischen Unterhändlern und den inzwischen ins Land gekommenen Missionaren aus. Die in seiner Hand befindlichen 18 Europäer, darunter 10 Deutsche wurden in Magdala gefangen gehalten, wo im April 1868 ein englisches Heer sie befreite. Der Negus Negest nahm sich selbst das Leben, um nicht in die Hände der Europäer zu fallen.

Der Leichnam Theodors nach der Einnahme von Magdala.
Der Leichnam Theodors nach der Einnahme von Magdala

Seltsamer Weise verzichteten die Engländer auf eine weitere Besetzung des Landes, die ihnen wahrscheinlich zu große Opfer gekostet hätte. Daher blieb Abessinien wieder sich selbst überlassen. An die Stelle des Negus Theodoros traten jetzt wieder drei Despoten. Einer von ihnen, Kassai mit Namen, der erst nur Tigre besaß, gewann die Oberhand und warf sich als Kaiser Johannes zum Alleinherrscher auf. Er regierte bis gegen Ende des letzten Jahrhunderts und wusste den Bestrebungen der fremden Mächte, die in Abessinien Eingang zu gewinnen suchten, geschickt die Spitze zu bieten, so dass das Land bis zum heutigen Tage seine Selbständigkeit behalten hat. Wie eine Felsenburg, von allen Seiten angegriffen und doch von ihren Bewohnern gehalten, inmitten des immer wieder andringenden Islam gelegen und doch den christlichen Namen behauptend, liegt Abessinien da. Der gegenwärtige König heißt Menelik. Er unterhält freundschaftliche Beziehungen zu den europäischen Völkern, unter denen die Italiener mit ihrer Kolonie Eritrea bei Massaua und die Franzosen mit ihrer Niederlassung in Obok besonders zu nennen sind. Er scheint sein Land den Einflüssen der abendländischen Kultur etwas mehr erschließen zu wollen, als frühere Fürsten. Doch kann sich bis jetzt keine der fremden Mächte, die um seine Gunst buhlen, besonderer Erfolge rühmen, Abessinien macht also Anspruch auf den Namen eines christlichen Landes. Was davon zu halten ist, werden wir in den folgenden Missionsstunde im Einzelnen sehen. Das Leben und Treiben der Bewohner lässt jedenfalls so gut wie nichts von den guten Wirkungen des christlichen Geistes erkennen. Hier wird das Wort wahr- „Das Licht scheinet in der Finsternis, aber die Finsternis hat‘s nicht begriffen“. Man muss bei uns schon in die dunkelsten Zeiten des Mittelalters zurückgehen, um ähnliche Befleckungen des christlichen Namens zu finden, wie sie uns in Abessinien auf Schritt und Tritt begegnen. In der Geschichte der letzten Jahrhunderte, die mit ziemlicher Sicherheit festgestellt werden kann, reiht sich eine Kriegsgeschichte an die andere, in deren Folge immer ein Machthaber dem andern die Hände abhacken oder die Augen ausstechen ließ. Nur von einem einzigen Kaiser, namens Hesekias, meldet die Chronik, dass er fortwährend ruhig in seiner Hauptstadt Gondar verweilte, das sehr verfallene kaiserliche Schloss ausbessern ließ und über Verbrecher strenges Gericht hielt. In der übrigen Zeit herrschten fortwährend Kriegs- und Beutezüge oder Bürgerkriege, welche in der Regel darauf hinausliefen, einen durch Versprechungen und Eidschwüre eingeschläferten Gegner zu verdrängen und die Bewohner gewisser Gegenden, die in einem kurzen Frieden etwas Eigentum erlangt hatten, auszuplündern. Die notwendige Folge davon war eine allgemeine Verarmung des Landes,

Unter den vielen Übeln, an denen das Volksleben krankt, findet sich auch die Sklaverei, wie oben schon angedeutet. Ein Augenzeuge schildert uns einen der Sklavenmärkte in Schoa, der in der Nähe einer wichtigen Handelsstraße gehalten ward. Da lagerten unter der Aufsicht einiger wohlbewaffneten Abessinier ganze Haufen gefangener Weiber und Kinder. Man konnte schon nach der Gesichtsbildung und Tracht die verschiedensten Völkerstämme aus der näheren und ferneren Nachbarschaft unterscheiden. Die meisten gehörten zum Stamme der Gurage, andere waren Galla usw. Es befanden sich aber auch viele Abessinier aus den entlegeneren Gegenden des Landes darunter. Je nach der Entfernung des Geburtslandes eines Sklaven steigert sich auch dessen Wert; solche, die in ihrer Heimat für 30 Stücke Salz im Werte von ca, 1 ½ Maria Theresiathaler zu haben sind, kosten hier schon 10 – 12 Thaler oder 2 – 3 Kamelladungen Salz, während sie auf einem der Märkte in Arabien wenigstens den dreifachen Wert haben. Diese in Europa schon lange nicht mehr in Gebrauch befindliche Silbermünze ist das einzige Geldstück, das in Abessinien gilt. Es werden lediglich für dieses Absatzgebiet fort und fort in Österreich neue Stücke ausgeprägt.

So schmachvoll der Menschenhandel an und für sich schon ist, so wird er noch furchtbarer und verheerender durch abergläubische Grausamkeiten, die von den Händlern an ihren wehrlosen Opfern verübt werden. So erzählt man, dass die wandernden Sklavenhändler nach einem aus alter Zeit herrührenden Gebrauche, um den Geist der Ge Wässer eines am Wege liegenden Sees günstig zu stimmen, beim Borüberziehen eine der Gefangenen wie eine Art Tribut in die Tiefe versenken.

Je nach dem Vermögen der Abessinier hat fast jedes Haus seine Sklaven und Sklavinnen, Soweit sich das Herrschergebiet des Negus erstreckt, darf wohl jeder Untertan zum eigenen Gebrauche Sklaven kaufen, niemand hat aber das Recht, sie wieder zu verkaufen und Handel damit zu treiben. Der unbeschränkte Sklavenhandel ist ein Vorrecht des Herrschers, Die Sklaven, die auf den Märkten zum Verkauf angeboten werden, sind teils solche, die bei Kriegszügen erbeutet worden sind, teils werden sie durch Sklavenhändler aus fernen Landen, die nicht zum Gebiet des Negus gehören, ins Land gebracht, wovon dann der zehnte Teil als Abgabe oder Durchgangszoll an den Despoten geliefert werden muss. Als Ausgangszoll müssen für jeden Sklaven vier Salzstücke bezahlt werden.

Abessinien Seite 14-15

Abessinien Seite 14-15

Woher die Zufuhr der Sklavenmärkte kommt, erfahren wir durch eine weitere Schilderung desselben Augenzeugen.

In der Regel unternimmt der Negus zwei- bis dreimal im Jahre Strafkriegszüge unter die von ihm unterworfenen Gallastämme, um solche, die nicht zuvorkommend ihren jährlichen Tribut an Honig, Getreide, Pferden oder Rindern entrichten oder ihn gar verweigern, mit Feuer und Schwert heimzusuchen. Damit werden häufig auch weitere Überfälle in die Nachbarländer verbunden und schonungslos ganze Landstriche verheert. Die für den Streifzug bestimmte Mannschaft versammelt sich in der Nähe der Residenz, wo zuerst eine große Parade gehalten wird. Dann bricht man auf, wie bei den altisraelitischen Feldzügen in Begleitung des Hohenpriesters und der Bundeslade, die bei den religiösen Bräuchen der Abessinier eine große Rolle spielt. Der Negus reitet unter zwei karmesinroten Schirmen, die von Sklaven über seinem Haupte gehalten werden. Das Gefolge besteht aus den königlichen Schildträgern, Statthaltern, Priestern und Sängern; ihnen folgt ein Zug Weiber, ebenfalls zu Pferde, um die Küche des Königs während des Marsches zu besorgen und weiterhin wimmelt Berg und Thal von Reitern und Fußgängern.

Zur Stellung der erforderlichen Mannschaft werden die Statthalter der verschiedenen Bezirke beauftragt, eine gewisse Anzahl ihrer Untergebenen aufzubieten. Diese haben dann zu Pferd oder zu Fuß, je nach ihrem Vermögen mit Schild und Spieß bewaffnet, auf einen bestimmten Tag am Wahlplatze einzutreffen. Mit dem nötigen Mundvorrat müssen sie sich für die Zeit des Marsches selbst versorgen. Wer nicht erscheint, wenn ihn die Reihe trifft, verliert auf sieben Jahre die Nutznießung seines Eigentums. Sold wird nicht gezahlt. Stattdessen gehört den Kämpfern die Beute mit Ausnahme des Rindviehs, das den Königen zufällt.

Wohin der Raubzug geht, ist außer dem Negus nur seinen vertrautesten Ratgebern bekannt. In der dem Verderben geweihten Landschaft ahnt noch niemand das kommende Unwetter, denn in der Regel verfolgt man zunächst einen ganz anderen Weg, als den, welcher geradeaus in die betreffende Gegend führt. Plötzlich wird die Marschrichtung geändert und vom Heerführer der Befehl erteilt, das zur Verwüstung bestimmte Gebiet zu überfallen. Nun jagt das wilde Heer gleich hetzenden Hunden in unregelmäßigen Massen, aber planmäßig und in verschiedenen Richtungen und Abteilungen auf das Ziel zu. Der überfallene Stamm wird oft so schnell umzingelt, dass die unglücklichen Opfer keine  Zeit finden, zu entfliehen oder sich zur Wehr zu setzen.

Sobald der Befehl zum Angriff gegeben ist, begibt sich der Negus mit seinem Gefolge auf eine Anhöhe, von wo er die nun folgenden Gräuel bequem übersehen kann. Das Blutbad und das Verlangen eines jeden Kriegers nach dem Ruhme, einen Galla erlegt zu haben, ist so groß, dass sie mit einem wahren Heißhunger darauf los morden, Ihre Waffen sind Speer und Säbelmesser. Nur wenn Lanze und Schild nicht mehr hinreichen, werden Schießgewehre, mit denen sie jedoch nicht gut umzugehen wissen, angewendet, z. B, wenn die Angegriffenen ihre Zuflucht auf hohen Bäumen suchen. Man schießt sie von dort erbarmungslos herunter.

Nun werden die Hütten angezündet, um die versteckten Weiber und Kinder aus ihren Schlupfwinkeln hervorzutreiben. Von allen Seiten lohen die Feuerbrände und dunkle Rauchwolken verdecken die Sonnenstrahlen über der schönen Landschaft, deren Bewohner teils auf der Flucht erschlagen, teils als Sklaven weggeführt werden. Kurz, es kann kein mohammedanischer oder heidnischer Despot in Innerafrika grausamer gegen seine Feinde wüten, als der auf sein Christentum stolze Negus der Abessinier. Und um den Hohn vollzumachen, findet bei der Rückkehr des siegreichen Heeres ein festlicher Empfang in der Hauptstadt mit christlichem Gepränge statt. Ein Priesterzug kommt ihm entgegen und begrüßt den Herrscher mit dem Segen der Kirche für die Heldentaten, die er „im Namen des Herrn an den Heiden“ vollbracht habe. Am Fuße des Berges, auf dem die Hauptstadt erbaut ist, steigt der Negus von seinem Rosse und geht, umgeben von den Priestern und seinem Gefolge, zu Fuße den steilen Weg hinauf. Bevor er aber in seine Residenz einzieht, betritt er eine der am Wege liegenden Kirchen, wo ein Dankgottesdienst für feine glorreiche Heimkehr gehalten wird.

Ist das alles nicht eine furchtbare Illustration zu dem Schriftworte: „Das Licht scheinet in der Finsternis, aber die Finsternis hat’s nicht begriffen?“ Von weitem gesehen nimmt sich das schöne Abessinien wie eine Hochburg des Christentums inmitten des wilden mohammedanischen Völkermeeres aus. Wenn man aber naher zusieht, findet man die alte Finsternis der vorchristlichen Zeit fast unverändert. Es ist ein christliches Land und doch keins. Darum wollen wir auch das arme Abessinien mit in das Missionsgebet einschließen:

Licht, das in die Welt gekommen,
Sonne voller Glanz und Pracht,
Morgenstern aus Gott entglommen,
Treib‘ hinweg die alte Nacht,
Zieh in deinen Wunderschein
Bald die ganze Welt hinein!


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