Jul 162013
 

Die abessinische Kirche

Von Carl Paul

Missionsstunden von R. W. Dietel, 5. Heft, Leipzig 1901, Seite 18 – 33

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Zweite Missionsstunde

Inhalt

  • Kämmerer aus Mohrenland
  • Frumentius und Aedesius
  • Äthiopische Bibelübersetzung
  • Eine christliche Felseninsel inmitten des Islam
  • Ihre geistliche Erstarrung
  • Kirchen
  • Abuna
  • Geistliche

Offenb. 3, 1. Du hast den Namen, dass du lebest, und bist tot.

Es ist eine der schmerzlichsten Erfahrungen, welche die Missionare aller Zeiten zu machen haben, dass sich in die Gemeinde des Herrn auch Namenchristen einschleichen. So war es schon in der apostolischen Zeit, wo selbst die Urgemeinde zu Jerusalem nicht ganz frei von Scheinchristen und Heuchlern blieb. Im Mittelalter leistete die verweltlichte Art der römischen Missionspraxis dem Scheinchristentum besonderen Vorschub. Aber auch die peinliche Sorgfalt, mit der die evangelischen Missionare über die Erteilung des Taufsakraments wachen, kann ihre Gemeinden nicht ganz vor dieser Gefahr schützen. Wie oft müssen sie zu ihrem Leidwesen bemerken, dass unter den jungen Christen, bei deren Taufe sie ein Jubellied anstimmten, manche nur einen guten Anlauf nehmen. In der Zeit der Anfechtung fallen sie ab. Während ihr Lehrer hoffte, an ihnen Gehilfen seines heiligen Werkes zu bekommen oder dass sie wenigstens andern zum Vorbild dienen würden, sinken sie bald wieder ins Heidentum zurück oder müssen doch unter strenge Kirchenzucht gestellt werden und die Stufenleiter aufs Neue erklimmen, auf der sie schon ein gut Stück vorwärts gekommen waren. Wer in seiner Bibel Bescheid weiß, kann sich über diese schmerzlichen Erfahrungen in der Mission nicht wundern.

Abessinien Seite 18

Abessinien Seite 18

Unser Heiland hat das Himmelreich mit einem Netz verglichen, das ins Meer geworfen wird, und damit man allerlei Gattung fängt (Matth. 13, 47). Wenn es voll ist, wird es von den Fischern herausgezogen ans Ufer. Sie sitzen und lesen die guten in ein Gefäß zusammen, aber die faulen werfen sie weg. Es kommt den Menschenfischern oft hart an, die faulen Fische aus dem Missionsnetz wegzuwerfen. Bevor sie es tun, versuchen sie alles Mögliche, ob sich der fleischliche Sinn nicht überwinden lässt. Und mancher Heidenchrist, der erst von seinem geistlichen Vater wie ein verlorener Sohn betrauert wurde, wird doch noch gewonnen, so dass Menschen und Engel über ihm das Loblied anstimmen können: „Er war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden“.

Es gibt aber nicht nur einzelne Menschen, mit denen man in der Mission diese Erfahrung macht, die Geschichte berichtet uns von ganzen Gemeinden, ja von ganzen Völkern, bei denen die Morgenröte des Heils sogleich in die Abendröte geistlicher Erstarrung überging. Die Bibel berichtet uns solches von der Gemeinde zu Sardes in Kleinasien, deren Scheinchristentum geradezu sprichwörtlich geworden ist. „Du hast den Namen, dass du lebest und bist tot“, so sagt man seitdem von allen Stadt- und Dorfgemeinden, aus denen das lebendige Glaubensleben verschwunden ist. Leider gibt es solche, ebenso wohl in der alten Christenheit, wie auf den Missionsfeldern in Asien und Afrika, Das aber steht einzigartig in der Kirchengeschichte da, dass ein ganzes Volk mit seiner Volkskirche unter das Urteil fällt: „Du hast den Namen, dass du lebest und bist tot“. Ein Blick auf die abessinische Kirche wird uns zeigen, dass dort tatsächlich die gute Saat des Evangeliums, die bereits aufgegangen war, wieder erstorben ist und nur den Schein des Lebens zurückgelassen hat.

Unter den zum Christentum bekehrten Völkern der Erde befinden sich nur wenige, deren Missionsgeschichte weiter zurückreicht, als die von Abessinien. Die meisten Bibelerklärer vermuten schon in jenem Kämmerer aus Mohrenland, dessen Taufe uns Apgesch. 8 erzählt wird, einen Abessinier. So viel ist gewiss, dass seine Heimat am Oberlauf des Nil lag. Nimmt man dazu, dass dieser Kämmerer, der das Prophetenbuch des Jesaias las, ein Jude oder wenigstens ein Judengenosse gewesen sein muss und dass es schon vor unsrer Zeitrechnung Juden in Abessinien gegeben hat, so liegt es nahe, dass seine Heimat, die im Urtext mit dem Namen Äthiopien bezeichnet wird, in unserm Gebiet zu suchen. Dann wäre also dieser hohe Hofbeamte der erste Träger des Christennamens in jenem Teile Afrikas gewesen, und um dieselbe Zeit, wo die Predigt des Apostels Paulus das Ansehen der Diana von Ephesus erschütterte oder auf dem Marktplatz zu Athen gehört ward, wäre von dem heimgekehrten Kämmerer das Gespräch unter den Juden von Abessinien auf das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, gelenkt worden.

Die Taufe des Äthiopiers an der Straße von Jerusalem nach Gaza hat jedoch, soweit unsre Kenntnis reicht, keine weiteren Bekehrungen nach sich gezogen. Erst nach einigen Jahrhunderten taucht der Name unseres Landes in der Kirchengeschichte wieder auf. Es war um die Zeit, als alle Teile des alten römischen Reiches von der christlichen Predigt widerhallten und Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion erhob. Da unternahm ein Gelehrter aus Tyrus eine Forschungsreise ans Rote Meer. Sein Fahrzeug litt Schiffbruch, wobei die Besatzung sich ans afrikanische Ufer rettete. Aber kaum den Gefahren des Meeres entronnen, wurde sie von den Bewohnern jener Küste erschlagen. Nur zwei Jünglinge, Frumentius und Aedesius mit Namen, wurden aus Mitleid mit ihrem zarten Alter verschont und als Sklaven an den abessinischen Königshof nach Axum gebracht. Hier gewannen sie mit der Zeit das Vertrauen des Königs; man wird dabei unwillkürlich an Josephs Jugendgeschichte erinnert. Der eine von ihnen ward des Königs Schatzmeister, der andre sein Mundschenk. Kurz vor seinem Tode gab er ihnen die Freiheit. Schon in der vorhergehenden Zeit waren sie darauf bedacht, eine Verbindung zwischen Abessinien und ihrer christlichen Heimat herzustellen. Sie zogen christliche Kaufleute aus Ägypten herbei und erwirkten den Christen das Recht, im Lande zu wohnen. Ihr Einfluss ward nach dem Tode des Fürsten noch stärker. Frumentius ward mit dem Amte eines Reichsverwesers und Prinzenerziehers betraut. Während sein Freund Aedesius in seine Heimat zurückkehrte, widmete er alle seine Kräfte dem schönen Alpenlande, das ihm zur zweiten Heimat geworden war. Und nicht nur in äußerlichen Dingen ward er ein Vater des Landes, wie 2000 Jahre früher Joseph in Ägypten. Er suchte den Abessiniern auch die Segnungen des Christentums zu vermitteln. Ums Jahr 326 wandte er sich an den Bischof Athanasius von Alexandria und erbat sich Missionare für sein Land. Er selbst ward ihnen in geistlicher Hinsicht gleichgestellt, nach einigen Jahren sogar zum Bischof geweiht. Bis an seinen Tod hat er die so entstandene abessinische oder äthiopische Kirche geleitet. Er führte dabei den Titel Abba Salama, d. h. Vater des Friedens, der noch heute neben dem späteren Abuna d. i. „unser Vater“ im Gebrauch ist. Die Verbindung zwischen der äthiopischen Kirche und der ägyptischen oder koptischen hat sich mit einigen kürzeren Unterbrechungen bis zum heutigen Tage erhalten. Sie ist eins der wenigen Bänder, die zwischen dem weit vorgeschobenen Vorposten und der Hauptmacht der christlichen Kirche geblieben sind. Freilich hat es nicht genügt, auch wirklich Lebensströme in das absterbende Glied hinüber zu leiten.

Die Zeit, in der das Christentum festen Fuß im Lande fasste, gilt als die beste und segensreichste in der Geschichte von Abessinien. Es trat in die Reihe der christlichen Kulturvölker ein. Der Kaiser Konstantius knüpfte Verbindungen mit dem abessinischen Herrscher Aizanas an. Zu dieser Zeit zog eine höhere Kultur in das weltabgeschiedene Gebirgsland ein. Die Blüte desselben fällt in das 4. bis 7. Jahrhundert n. Chr. In dieser Periode sind wahrscheinlich die Gebäude entstanden, deren Überreste man heute noch hier und da sehen kann. Als das schönste Denkmal aus dieser glücklichen Zeit aber ist die äthiopische Bibelübersetzung anzusehen, womit dem Volke der Brunnen des Heils geöffnet ward. Die Christianisierung des Landes machte nun schnelle Fortschritte. Bald nach dem Jahre 500 galt ganz Abessinien als ein christliches Land, ja ein Schriftsteller bezeichnete es in dieser Periode sogar als die christliche Vormacht Afrikas. Die Abessinier behielten den neu erworbenen Schatz auch nicht für sich allein. Es kam Missionsgeist in die junge Kirche. Nach allen Seiten hin drang das Evangelium siegreich vor. Schoa, Godscham, Enarea, Harar, Gurague und Kafa wurden in den Schallbereich der christlichen Predigt gezogen. Alle diese Landschaften empfingen vom christlich gewordenen Abessinien aus christliches Wesen und christliche Kultur. Damals wurden die Keime des christlichen Glaubens schon tief ins Innere des östlichen Afrika getragen, um dessen Wiedergewinnung sich die christlichen Sendboten heute noch vergebens bemühen.

Was hat denn diese Gottessaat erstickt? Was hat die Bäche lebendigen Wassers, die sich in diese schönsten Gegenden des dunkeln Erdteils ergossen, zum Vertrocknen gebracht?

Drüben in Arabien, das wir als die alte Heimat der Abessinier kennen gelernt haben, trat seit 622 der falsche Prophet auf, der aus seinen angeblichen Offenbarungen in Verbindung mit alttestamentlichen und christlichen Gedanken eine Religion schuf, die dem natürlichen Menschen die denkbar größten Zugeständnisse macht und dabei den Bedürfnissen jenes Himmelsstrichs in geschickter Weise sich anpasst, Muhammed ward der Stifter des Islam und Mekka der Ausgangspunkt seiner Eroberungspläne. Mit Feuer und Schwert gingen seine Missionare vor. Wer die Lehre des Lügenpropheten nicht annahm, wurde getötet oder im besten Falle in die Sklaverei verkauft. Als Arabien dem neuen Religionsstifter untertan geworden war, breitete sich der Islam wie ein fressendes Feuer über die Nachbarländer aus. Die Heerführer der Kalifen überfielen das Heilige Land und alle andern Teile Vorderasiens, andre wendeten sich nach Westen und trugen die mit dem Halbmond geschmückte grüne Fahne des Propheten quer durch Nordafrika, Es ist hier nicht der Ort, das ganze Verderben zu schildern, das mit der Ausbreitung des Islam über die in Mitleidenschaft gezogenen Länder kam. Wir haben es hier nur mit dem Schicksal Abessiniens zu tun. Und das war traurig genug.

Theologische Streitigkeiten über die beiden Naturen in Christo hatten schon vorher das Band zwischen der abessinischen und ägyptischen Kirche auf der einen und der um den Papst in Rom sich sammelnden Christenheit auf der andern Seite ziemlich gelockert. Nun kam der Ansturm des Islam hinzu, der binnen kurzer Zeit das hochgelegene Abessinien auf allen Seiten umbrauste. Wie eine Felseninsel lag es da im brandenden Meere. Wiederholt versuchten mohammedanische Eroberer das vom großen Haufen abgelöste Christenvolk zu bezwingen. Diese Kämpfe waren reich an blutigen Schandtaten und aufregenden Momenten. Zuweilen schien es, als wankten die mit dem Kreuz gekrönten Felsenburgen, als sollte der siegreiche Halbmond auch hier allenthalben aufgepflanzt werden. Aber mit wunderbarer Zähigkeit behaupteten die Abessinier ihre Selbständigkeit, ihr Land und ihren christlichen Glauben. Der letzte mohammedanische Ansturm erfolgte erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Im Jahre 1876 versuchte ein starkes ägyptisches Heer ohne vorherige Kriegserklärung von Massaua aus in Abessinien einzudringen. Der Überfall wirkte wie ein Blitz aus heiterem Himmel und hätte wahrscheinlich bei einem andern, an friedliche Verhältnisse gewöhnten Volke mit seiner Unterwerfung geendet. Aber die an Kriegszüge gewöhnten Abessinier ließen sich nicht überraschen. An demselben Tage, wo die Landung ägyptischer Truppen an der Küste des roten Meeres begann, wurde die Nachricht durch Eilboten ins Land getragen. Von Berg zu Berg erglühten die weitstrahlenden Feuersignale über alle Provinzen des Reiches. Die wichtigsten Orte des Landes glichen schon in den folgenden Tagen wimmelnden Kriegslagern, Priester und Mönche predigten überall den heiligen Krieg. Da bedurfte es keines militärischen Aufgebots oder des Anwerbens von Freiwilligen; alle waffenfähigen Männer setzten sich aus eigenem Antriebe in Bereitschaft; Frauen und Knechte sorgten für die Beschaffung von Proviant, und binnen einer Woche rückte ein wohlgerüstetes Heer von 20.000 Mann aus, die Bergpässe an der Ostseite des Landes zu besetzen. Der Feind kam gar nicht so weit, das eigentliche Abessinien zu betreten. Er ward auf dem heißen, öden Küstenstreifen längs des roten Meeres geschlagen und aufgerieben.

So ist Abessinien im Laufe der Jahrhunderte ein selbständiges Land geblieben und hat sich als eine christliche Insel im ringsum flutenden Islam behauptet. Wir sahen freilich schon, dass man es trotzdem nicht als eine Leuchte des Christentums in Nordafrika bezeichnen kann. Die Mohammedaner konnten die christliche Burg zwar nicht erobern, aber sie haben sie in geistlicher Hinsicht ausgehungert. Der abessinischen Kirche ward alle Verbindung mit der Außenwelt abgeschnitten und, was vielleicht noch verhängnisvoller war, die Hauptader des christlichen Denkens und Lebens ward ihr unterbunden. Die Heilige Schrift ging ihr wieder verloren. Nicht als ob das Bibelbuch selbst aus dem Lande verschwunden wäre. Nach wie vor wurden die kostbaren Bibel-Handschriften in den Kirchen und Klöstern aufbewahrt, aber das Volk hatte verlernt, sie zu lesen. Die alte äthiopische Sprache, in der sie geschrieben sind, wird seit Jahrhunderten nicht mehr gesprochen, selbst die jetzigen Priester verstehen sie nicht. Der Bibelschatz gleicht einem Brunnen in der Wüste, dessen Wasserspiegel man in der Tiefe blinken sieht, den man aber aus Mangel an einer Schöpfvorrichtung nicht erreichen kann. Da auf diese Weise die geistliche Nahrung für das Volk ausblieb, ging auch das religiöse Leben mehr und mehr zurück. Ein Hoffnungsschimmer erhielt sich in der andauernden Verbindung mit der koptischen Kirche, woher jedes Mal nach dem Tode des Abuna ein neues Haupt für die abessinische Geistlichkeit geholt wird. Aber was ist von diesen kümmerlichen Überresten des Christentums in Ägypten zu erwarten? Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg zeigen? Es hat bei einzelnen dieser Oberpriester nicht am guten Willen gefehlt, aber der geistliche Schlaf, in den das Land verfallen, war zu tief und schwer, als dass ein einzelner Mann hätte Wandel schaffen können.

So sind die traurigen Zustände in der abessinischen Kirche entstanden, die wir jetzt noch etwas genauer ins Auge fassen wollen.

Das Land hat eine ungeheuer große Zahl von Kirchen aufzuweisen. Die meisten von ihnen sind aber nur unscheinbare Gebäude, die sich von den leichtgebauten Wohnhütten der Abessinier eigentlich nur durch das byzantinische Kreuz auf der Spitze des kreisrunden Strohdachs unterscheiden.

St. Marienkirche in AksumSt. Marienkirche in Aksum
Bild von gabagoo /Nancy

Das Innere des Gotteshauses besteht, wie einst der Tempel in Jerusalem, aus drei Abteilungen. Der äußerste Raum wird Kene Mahelat d. i. „Versammlungsort“ genannt. Er geht wie ein Gang um das Ganze nicht allzu große Gebäude herum. Die zweite Abteilung, „das Heiligtum“, darf nur von den Priestern betreten werden; die während des Gottesdienstes im ersten Raum versammelten Laien sehen durch Öffnungen in der Wand den Zeremonien zu. In manchen Kirchen sind die Wände dieses gottesdienstlichen Raumes mit rohen, teils schwarzen, teils bunten Bildern geziert. Es kommen biblische Abbildungen vor, meist aber sind es Heiligenbilder, zumal des Schutzpatrons, dem die Kirche geweiht ist, Die Dämonen und die Feinde der Kirche, darunter auch die Juden, sind immer daran zu erkennen, dass man ihr Gesicht von der Seite sieht, während die Heiligen und Frommen dem Beschauer das ganze Antlitz zuwenden. Das in der Mitte befindliche Allerheiligste darf niemand anders als der Vorstand der Kirche betreten.

Tabot aus Holz aus dem Linden-Museum StuttgartTabot aus Holz (Linden-Museum Stuttgart)
Bild von Karl Heinrich

Hier werden die zu den Sakramenten nötigen Dinge geweiht und die Abendmahlsgefäße verwahrt, auch befindet sich in diesem Raume das geheimnisvolle Tabot oder die heilige Lade. Die Gegenwart dieses seltsamen Kastens oder Brettes macht die Kirche zum Heiligtum.

Jedes Gotteshaus hat eine solche; aber die echte Bundeslade, der die andern nachgebildet sind, befindet sich in der Hauptkirche zu Axum, von der später noch die Rede sein wird. Bei besonderen Festlichkeiten ziehen die Priester einher, wobei sie die Bundeslade unter einem großen Sonnenschirm tragen. Und wie die Römischen vor der Hostie auf die Knie fallen, so fällt in Abessinien Jung und Alt, Reich und Arm anbetend nieder und beugt sich vor dem „Tempel des ewigen Gottes“, wie sie sagen, wenn die heilige Lade vorübergetragen wird.

Die Frauen dürfen nur in dem die Kirche umgebenden Vorhof, der in der Regel mit einer rohen Pfahlwand umgeben ist, dem Gottesdienst beiwohnen. Dieser Platz, der meist von hohen Wachholderbäumen beschattet ist, dient zugleich als Begräbnisstätte.

So sieht es bei den gewöhnlichen Kirchen im Lande ans. Es gibt aber auch einige bevorzugte Heiligtümer, unter denen die Kathedrale von Axum die hervorragendste Stelle einnimmt, Sie wurde im Jahre 1657 an Stelle der bei einem mohammedanischen Überfall zerstörten Kirche, die ein sehr hohes Alter gehabt haben soll, ganz aus Stein gebaut und ähnelt den christlichen Kirchenbauten anderer orientalischer Länder, Auf einer von allen Seiten zugänglichen, ausgemauerten Terrasse stehend trägt sie die Form eines länglichen Rechtecks, dessen schmälere Seite mit dem Haupteingang gegen Norden gerichtet ist. Vier dicke Pfeiler, die von plumpem Mauerwerk mit Zinnen Krönung überragt werden und ohne alle Zierrate sind, beschirmen die drei Tore, die ins Innere führen. Zwei Reihen Steinpfeiler teilen dasselbe in drei Schiffe von gleicher Höhe, die durch einige kleine, schmale Fenster nur spärliches Licht erhalten. Die Decke ist ohne Wölbung, die Wände sind mit geschmacklosen und stark beschädigten Malereien bedeckt, auf dem Fußboden liegen große Haufen von Schmutz, An der Nordwestecke der Kirche befindet sich ein Turm, der aber nur dazu bestimmt scheint, dass man auf der in ihm emporführenden Treppe das glatte Dach besteigen kann. Neben der Kirche steht ein kleines niedriges Haus, in welchem zwei schlecht gearbeitete Metallglocken hängen. In einem andern Hause, das in der Nähe liegt, werden die Kleinodien der Kirche, Metallkronen, große Kreuze, Manuskripte u. dergl., aufbewahrt.

Die Kirchen befinden sich meist in bevorzugt schöner Lage, dasselbe gilt von den zahlreichen Klöstern. Jede Kirche hat auch eine Büchersammlung aufzuweisen, in der außer den Psalmen und Evangelien allerlei Legenden enthalten sind. Besonders der Marienkultus spielt dabei eine große Rolle, Das Abschreiben der Bücher erfolgt noch heute. Die damit beschäftigten Geistlichen oder Mönche wenden viel Zeit und Fleiß daran; ihre Kunstfertigkeit steht aber nicht mehr auf der Höhe der alten Zeit. Es ist selbstverständlich, dass alle diese Schriften in der alten Kirchensprache verfasst sind, die weder die Abschreiber verstehen, noch die sie später in Gebrauch nehmen.

Eine Eigentümlichkeit mancher abessinischer Kirchen ist das auf ihnen ruhende Asylrecht. Im Schutzbereich dieser Kirchen sind die erbittertsten Feinde vollkommen vor einander sicher. Furchtlos gehen sie einer an dem andern vorüber; sie wissen, dass ihr Gegner hier seine Rachgier zügeln muss. Dieses Asylrecht hat in einem von beständigen Bürgerkriegen beunruhigten Volke, wo der Mächtige mit dem Schwächeren ganz nach Willkür verfahren kann, gewiss sein Gutes, Es bot den unschuldig Verfolgten Gelegenheit, sich selbst und ihre Habe vor Mord und Plünderung zu sichern. Aber das gute Recht soll gelegentlich auch von Raubgesindel in schändlicher Weise missbraucht worden sein. Der Negus Theodoros pflegte sich denn auch nicht daran zu kehren, er drang in die Asyle ein und zog die darin versteckten Missetäter ans Licht.

Die abessinische Kirche hat mit der übrigen Christenheit viele Feste gemein, z. B. das Weihnachts- und Osterfest, daneben aber gibt es mehrere große Festtage, die anderwärts weniger feierlich begangen werden, so das Fest der Taufe Christi und der 26. September, der zum Andenken an die Auffindung des Kreuzes Christi durch die Kaiserin Helena gefeiert wird. Besondere Festlichkeiten zeichnen aber den abessinischen Neujahrstag aus. Er fällt auf den 10. September und gilt als ein großer Freudentag. Um der vielen Juden willen, die im Lande wohnen, wird neben dem Sonntag auch der Sabbath gefeiert. Im ganzen Jahre gibt es nicht weniger als 180 Feiertage. Nur nebenbei sei erwähnt, dass die Abessinier sich nicht an die christliche Zeitrechnung kehren. Unser Jahr 1900 entspricht in ihrem Kalender dem 7392. Jahre. Sie rechnen also wohl seit Erschaffung der Welt.

Die Geistlichen nehmen im Volke eine sehr angesehene Stellung ein. Man unterscheidet wie in der römischen Kirche Priester und Klosterleute. Über ihnen allen steht der schon wiederholt genannte Abuna, den man als den abessinischen Papst ober Landesbischof bezeichnen kann. Er hat den Negus zu salben, Priester zu ordinieren und die Kandidaten zu examinieren. Jeder neue Abuna kostet dem Lande viel Geld, das für die Einsetzung des hohen Würdenträgers nach Ägypten gezahlt werden muss. Seine Ankunft und der Einzug in seiner neuen Wirkungsstätte ist mit rauschenden Festlichkeiten verbunden. Ein Augenzeuge beschreibt sie uns folgendermaßen: Der Schatzmeister und Günstling des Negus hatte dem neuen Oberpriester, den drei koptische Mönche begleiteten, während der Reise das Geleit gegeben und führte ihn am folgenden Tage im feierlichen Aufzuge dem Herrscher des Landes zu. Der Negus, von allen Kriegsobersten und Vornehmen gefolgt, zog in der Frühe dem Abuna entgegen. Das königliche Zelt wurde dem Lager des geistlichen Würdenträgers gegenüber aufgerichtet und dort erwartete der Landesherr seinen Besuch. Als der Abuna in die Zeltöffnung trat, erhob er sich von seinem Sitze, schritt ihm entgegen und küsste seine Hand. Dann schwang sich der Kaiser auf das bereitstehende, in Seide und Gold gehüllte Maultier und gab Befehl, dass die geistliche Karawane ihm nachfolgen sollte. Der Zug bewegte sich nun in folgender Ordnung: An der Spitze zogen einige Reiter und Fußgänger, um den Weg freizuhalten, während rechts und links in geschlossener Reihe Bewaffnete dem Zuge das Geleit gaben. Hundert Schritte hinter dem Vortrabe folgten die vornehmsten Anführer, die Befehlshaber der Provinzen und andere Würdenträger in ihren seidenen und goldverbrämten Gewändern zu Pferde, Nun kam der prunkvoll gekleidete Negus selbst mit einigen Fußgängern zu beiden Seiten, hinter ihm der Abuna und seine Begleiter. Sie trugen reiche Festgewänder nach koptischer Art und ihre Gestalten verschwanden förmlich unter den ganz aus Goldstickerei zusammengesetzten Mänteln, an denen auch die herkömmliche Kapuze nicht fehlte, die nach der Vorschrift des Pachomius den ersten Mönchen Ägyptens zur Pflicht gemacht wurde. Der Abuna und seine drei Genossen ritten einer hinter dem andern auf Maultieren; hinter ihnen kam der landeseingeborene Bischof oder Etschege, der insbesondere die Oberaufsicht über die Klöster zu führen hat.

Den Schluss des bunten Zuges bildeten Fußsoldaten und Berittene. Seitwärts in gleicher Linie mit den Priestern bewegten sich die als Löwentöter gekennzeichneten Krieger, mit einem der Mähne der erlegten Tiere entlehnten Kopfputz geschmückt. Sie gaben tanzend und singend ihre Lust kund. Die von den Kriegs- und Heldentaten des abessinischen Heeres handelnden Hymnen übertönte der dumpfe Klang riesiger Pauken. Zu beiden Seiten des Zuges wimmelte es obendrein von Menschen zu Fuß und zu Pferd; es war, als ob das ganze Land an der Prozession teilnähme. Als endlich das Hauptquartier des Negus erreicht war, empfing dieser die Priester, auf einer Art Thron sitzend, und wies ihnen zur Rechten vier Sitze an, die während der Prozession eigens für sie getragen worden waren. Nun begann ein Schießen im wilden Durcheinander, auch die vorhandenen Feldgeschütze, die der Negus nicht lange vorher aus Europa bezogen hatte, donnerten dazwischen, dazu wurden Psalmen von allen anwesenden Priestern gesungen, in welche die Gesamtmasse des anwesenden Volkes mit einstimmte.

Hl PachomiosHl Pachomios der Große
Bild von Mladifilozof

Diese ausführliche Beschreibung des Empfangs, der dem neuen Abuna zuteilwird, zeigt uns, welches Ansehen der Oberpriester in Abessinien genießt, zugleich liefert sie freilich den traurigen Beweis, wie sehr Geistliches und Weltliches dort durcheinander geht. Die Ehrfurcht, die der Negus bei dieser Gelegenheit dem Abuna gegenüber zur Schau getragen hat, schlägt übrigens gelegentlich in ihr Gegenteil um. Als der Oberpriester einst den Kaiser Theodoros, der den gerade im Lande anwesenden koptischen Patriarchen verspottet hatte, mit dem Bann belegte, setzte der zornige Alleinherrscher dem Abuna eine geladene Pistole auf die Stirn und rief ihm drohend die Worte zu: „Abuna, segne mich!“ wodurch der Bann in den Augen des Volkes gehoben werden sollte. Zitternd gehorchte der Oberpriester, der auf einen solchen Widerstand nicht gefasst war.

Nächst dem Abuna nimmt der schon erwähnte Etschege den höchsten Rang ein. Er ist der Beichtvater des Negus und Oberaufseher aller Klöster. Mönche und Nonnen, die ein faules Leben führen, gibt es in großer Menge; es werden ihnen die schlimmsten Dinge, wie Trunkenheit, Völlerei und dazu die gröbste Unwissenheit nachgesagt. Über die Priester hört man nichts besseres. Sie sind meist ganz ungebildet. Von der Bibel und dem Heilsweg wissen sie nichts Ordentliches und können daher auch das Volk nicht lehren. Ihre Vorbildung ist die denkbar einfachste. Will ein junger Mann aus dem Volke Diakon werden, so braucht er nur lesen zu können. Sobald er das nachweist, wird er zu den niederen Kirchendiensten verwandt.

Bevor ihm die Priesterweihe erteilt wird, muss er das Nicänische Glaubensbekenntnis aufsagen, lange liturgische Formeln auswendig wissen und zwei Stücke Salz erlegen. Der ordinierende Abuna hält dem Kandidaten das Christusbild vor und segnet ihn ein, indem er ihn anhaucht. Dass Priester mit so geringer Vorbildung ihren Gemeinden nichts sein können, liegt auf der Hand. Zu predigen brauchen sie nach der Ordnung ihrer Kirche nicht; es möchte ihnen auch sauer werden.

Erstes Konzil von Nicäa

Ikone: Erstes Konzil von Nicäa.
Kaiser Konstantin entrollt den Text der ersten Hälfte des Nicänischen Glaubensbekenntnisses.

Die Leute werden gelehrt, dass, wenn sie die Fasten beobachten, die Kirchtüren küssen, Almosen geben, besonders aber ihren Beichtvätern von Zeit zu Zeit ansehnliche Geschenke machen, sie alles getan hätten, was zur Erlangung der Seligkeit erforderlich sei. Von ihrer Schriftauslegung mag eine Probe hier Erwähnung finden. Der Missionar Flad hörte die Bibelstelle: „Ärgert dich dein rechtes Auge, so reiß‘ es aus; ärgert dich deine rechte Hand, so haue sie ab“ von einem Priester folgendermaßen erklären: das rechte Auge ist die Frau, die rechte Hand sind die Kinder. Verlass‘ Frau und Kinder, geh‘ in ein Kloster und werde Mönch!

Traurig steht es auch um die Verwaltung der heiligen Sakramente. Der Taufe hat erst die Beschneidung voranzugehen. Bei Kindern wird die Taufe durch Untertauchen, bei Erwachsenen durch Übergießen von Wasser vollzogen. Darnach empfängt der Täufling eine blaue baumwollene oder seidene Schnur, die um den Hals gebunden und zeitlebens getragen wird; Frauen und Mädchen hängen wohl auch ein Kreuzchen daran. Das gilt als die Hauptsache beim Taufen, denn die allezeit sichtbar getragene blaue Schnur ist das Merkmal der abessinischen Christen im Gegensatz zu den im Lande wohnenden Juden und Heiden. Beim Abendmahl wird das in Wein oder Rosinensaft aufgeweichte Weizenbrot, Matab genannt, den Kommunikanten mit einem Löffel gereicht. Beide Sakramente werden mehr als Zaubermittel. denn als Gnadenmittel angesehen und im Unverstand gefeiert. Das schlimmste aber ist, dass die abessinischen Männer zwischen dem 12. und 40. Lebensjahre selten zum Abendmahl gehen können, weil sie während dieser Zeit wegen Übertretung des 6. Gebotes für exkommuniziert gelten, was für den Tiefstand des sittlichen Lebens bezeichnend ist. Im ehelichen Leben herrscht allgemein eine große Verwilderung, die kirchliche Trauung ist sehr selten. Von Rechtswegen soll jeder Mann nur eine Frau haben, in Wirklichkeit wird aber diese Schranke häufig überschritten.

Nach alledem kann man sich nicht wundern, wenn man von denen, die das Volk genauer kennen gelernt haben, nur ungünstige Urteile über dasselbe hört. Wie der eine sagt, zeigen die Abessinier alle Eigenschaften der afrikanischen Rohheit: Trägheit, Verlogenheit, Trunksucht, Mordlust. Ein anderer geht noch weiter und behauptet, die Bekenner des mohammedanischen Glaubens in Abessinien ständen in moralischer Hinsicht hoch über den dortigen Anhängern des Christentums. Was liegt darin für eine furchtbare Anklage gegen die abessinische Kirche! Fast alles, was wir von ihr gehört haben, stimmt mit dem vernichtenden Urteil zusammen: „Du hast den Namen, dass du lebst und bist tot“. Muss uns das nicht mit herzlichem Erbarmen gegen die etwa 8 Millionen abessinischer Christen erfüllen? Sie waren bereits dem Heidentum entrissen und sind in ihrer Abgeschiedenheit und Vereinsamung wieder so tief gesunken! Darum klingt aus dem schönen afrikanischen Alpenlande derselbe Hilferuf an unser Ohr, wie aus den heidnischen Ländern: Kommt herüber und helft uns!

Weil von den geistlich Toten
Sich keiner selbst erweckt,
Weil ohne Friedensboten
Kein Herz den Frieden schmeckt.

Weil auf den eignen Pfaden
Kein Sünder kommt zu Gott,
Drum gilt es einzuladen,
Dort tut die Hilfe not!


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