Jul 162013
 

Judenmission in Abessinien

Von Carl Paul

Missionsstunden von R. W. Dietel, 5. Heft, Leipzig 1901, Seite 87 – 106

PDF   (Adobe Reader herunterladen)

Sechste Missionsstunde

Inhalt

  • Bischof Gobat schickt Chrischonabrüder
  • Die Londoner Judenmissionsgesellschaft
  • Stern
  • Flad
  • Rosenthal
  • Schottische Judenmission
  • Beru Paulus

Hesekiel 33, 11. So wahr als ich lebe, spricht der Herr, Herr, ich habe keinen Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass sich der Gottlose bekehre von seinem Wesen, und lebe. So bekehret euch doch nun von eurem bösen Wesen! Warum wollt ihr sterben, ihr vom Hause Israel?

Abbesinien Seite 87

Abbesinien Seite 87

Das traurige Geschick des verblendeten Volkes Israel, das seinen Messias verworfen hat und nun ruhelos umherirrt unter den Völkern der Erde, überall gehasst oder verachtet, hat in der Missionsgemeinde zu allen Zeiten eine lebhafte Teilnahme gefunden. Wie hätte die Christenheit auch vergessen können, dass ihr Heiland und Erlöser dem Fleische nach selbst aus diesem Volke stammte? Musste nicht sein Wort, dass er in den Tagen seines Erdenwandels nur zu den verlorenen Schafen vom Hause Israel gesandt sei, immer wieder die Blicke seiner Gläubigen auf dieses Volk lenken, das jetzt unter dem Fluche dahingeht? So erklärt es sich, dass die evangelische Kirche, als einmal die Missionsgedanken in ihr erwacht waren, je und je auch Bestrebungen zur Bekehrung Israels aus ihrem Schoße hervorgehen sah. Man konnte sich zwar nicht verhehlen, dass die Stunde des ganzen Volkes Israel noch nicht gekommen sei. Denn erst muss nach dem klaren Ausspruch der Heiligen Schrift die Fülle der Heiden ins Gnadenreich eingehen, ehe Israel als Volk dem Lockruf der Gnade Folge leistet. Aber damit ist nicht ausgeschlossen, dass in der Zwischenzeit schon viele einzelne Juden sich der christlichen Wahrheit zuwenden. Auch ihnen gilt ja die frohe, gnadenreiche Botschaft: „Ich habe keinen Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass er sich bekehre von seinem Wesen und lebe,“ Wem die Rettung unsterblicher Menschenseelen wirklich am Herzen liegt, der kann darum gar nicht gleichgültig an der Judenmission vorübergehen. Er wird über der Heidenmission das verblendete Israel nicht vergessen und dazu helfen, dass ihnen immer und immer wieder die Frage vorgehalten werde: „Warum wollt ihr sterben, ihr vom Hause Israel?“

Im Schoß der christlichen Kirche sind während des letzten Jahrhunderts neben den Veranstaltungen zur Bekehrung der Heiden eine ganze Reihe von Judenmissionsgesellschaften entstanden, Ihre Tätigkeit erstreckte sich zunächst auf die Juden, welche zerstreut inmitten der Christenheit wohnen. Aber je länger je mehr gab man der Erwägung Raum, dass diese Israeliten doch eigentlich auch ohne besondere Judenmissionare in die christliche Kirche herübergezogen werden können, wenn die Diener der Kirche und alle andern gläubigen Glieder der Gemeinde ihre Pflicht tun. Die Sendboten der Gesellschaften zur Bekehrung Israels würden dadurch für jene Gebiete frei, in denen die Juden noch in größerer Menge und in einem engeren Volksverband bei einander leben. Die deutsche Judenmission hat sich seit längerer Zeit in Polen, Galizien und den anderen östlichen Ländern Europas mit größerer jüdischer Bevölkerung ein Arbeitsfeld gesucht, eine der englischen Juden-missionsgesellschaften dagegen nahm Abessinien in Angriff.

Wir haben in der vorigen Missionsstunde gehört, dass Samuel Gobat nach seiner unfreiwilligen Rückkehr aus Abessinien evangelischer Bischof von Jerusalem wurde. Sein Ruf drang durch den ganzen Orient, auch König Theodoros von Abessinien hörte ihn rühmen. In Erinnerung an die früheren Beziehungen zu dem trefflichen Manne schrieb er einen Brief an ihn und stellte darin die Mönche des in Jerusalem befindlichen abessinischen Klosters unter seine Aufsicht. Gobat begrüßte diese neue Berührung mit seinem alten Arbeitsfelde aufs freudigste und gedachte sie zu einer Wiederaufnahme der Evangelisation unter den Abessiniern zu benutzen. Gerade damals wurde ein von Dr. Johann Ludwig Krapf entworfener Plan viel besprochen. Man wollte von Jerusalem aus nach Ägypten und von dort durch ganz Afrika eine „Apostelstraße“ anlegen. Es sollten in langer Reihe zwölf Hauptstationen gegründet und von ihnen aus zu beiden Seiten Nebenlinien eröffnet werden, auf denen mit der Zeit ganz Afrika unter die Herrschaft des Kreuzes gebracht werden könnte. Abessinien war als ein Glied in dieser Kette gedacht. Um die Wiederaufnahme evangelischer Männer beim Negus leichter durchzusetzen, dachte Gobat zunächst weniger an lehrende Missionare, als an Handwerker und Kolonisten, die sich durch ihrer Hände Arbeit nützlich und unentbehrlich machen sollten. Die Brüderanstalt St. Chrischona bei Basel lieferte die nötigen jungen Männer und Theodoros nahm das Anerbieten an. Er antwortete: „Ich werde mich freuen, wenn mir Herr Bischof Gobat Handwerker sendet. Was die Religion betrifft, so ist dies Sache meines Vaters, des Bischofs Salama, und was er mir sagt, werde ich tun.“ Der Abuna aber meinte, er werde sich freuen, wenn Leute, die nicht ordiniert wären, ins Land kämen. Sie könnten auch das Volk im Worte Gottes unterrichten und die Bibel verbreiten. Gegen Ende des Jahres 1855 gingen die vier jungen Brüder Johann Martin Flad, Christian Bender, Johannes Maier und Johannes Kienzle ab, hatten eine beschwerliche Reise nilaufwärts und kamen um die Mitte des nächsten Jahres über Khartum nach Godscham, einer Provinz im Südwesten von Abessinien, wo ihnen der Negus freundlich begegnete, ebenso der Abuna, der von ihnen für seine Kirche nichts zu fürchten hatte. Wie sich die anfängliche Liebenswürdigkeit der Machthaber später in ihr Gegenteil verkehrte, werden wir in der nächsten Missionsstunde hören. Hier geht uns ihre Reise und Tätigkeit nur insofern an, als sie zur Brücke für den Eingang von Judenmissionaren wurde. Flad, der ausführliche Berichte an Bischof Gobat und in die Heimat sandte, tat in ihnen oft der vielen Juden im abessinischen Reiche Erwähnung, Sie drangen auch in die Kreise der Londoner Gesellschaft zur Ausbreitung des Evangeliums unter den Juden, wodurch hier der Plan einer Mission unter den Falascha reifte. Die Gesellschaft beschloss zunächst genaue Nachrichten über die Verhältnisse der abessinischen Juden zu sammeln und bestimmte einen bisher in Konstantinopel beschäftigten Mann, Heinrich Stern, dazu, der mit einem jüngeren Genossen, namens Bronkhorst, nach Abessinien abging.

König Theodoros, Audienz ertheilend.

König Theodoros, Audienz erteilend.
Originalzeichnung von H. Leutemann, nach Lejean.

Wir übergehen ihre Erlebnisse auf der Reise und sehen sie im Geist bei Theodoros einziehen. Sie trafen ihn in seinem Feldlager am schönen Tsanasee und wurden freundlich aufgenommen. Stern musste dem Negus über die verschiedenen Länder, die er schon besucht, berichten, über den Charakter der dortigen Völker und ihre Religionen. Dafür durften die Ankömmlinge im königlichen Lager schlafen und erhielten Lebensmittel in Hülle und Fülle.

Es erfolgte auch bald eine Begegnung mit dem Abuna. Dieser legte ihnen ebenfalls keine Hindernisse in den Weg, nachdem sie ihm die Überzeugung beigebracht hatten, dass die Arbeit unter den Falascha nicht nur ein Vorwand, sondern der wirkliche Zweck ihrer Sendung war. Er lud Stern freundlich ein, ihm nach Debra Tabor zu folgen, wohin er sich gerade begab, um einer neugeschlossenen Ehe des Königs die kirchliche Weihe zu erteilen. Unter den Festgästen befanden sich auch die vorhin erwähnten Chrischonabrüder, die zwar in glänzendem Aufzug erschienen, aber lediglich als Kanoniere bei den Feierlichkeiten beteiligt waren. Sie mussten die Freudenschüsse aus des Königs Kanonen abfeuern, was freilich den Absichten Bischof Gobats bei ihrer Aussendung kaum entsprochen haben dürfte. Als Stern mit seinem Genossen die bestimmte Erlaubnis erhalten hatte, unter den Falascha als Missionar zu wirken, freilich mit der später bitter empfundenen Beschränkung, dass die bekehrten Juden der abessinischen Kirche als Glieder eingefügt werden müssten, unternahm er zunächst eine Forschungsreise durch das Land. Der mit den Verhältnissen schon vertraut gewordene Flad war sein Begleiter. Sie zogen selbander bald durch hohe, bergige Gegenden voll kühler Wälder, rauschender Bäche und herrlicher Triften, auf denen sie aber kaum eine Menschenseele fanden, weil sie infolge der unaufhörlichen Kriege ausgestorben waren, bald stiegen sie in die tiefen, feuchten Waldregionen hinab, wo die üppige Pflanzenwelt zwar das Auge des Wanderers entzückte, aber giftige Dünste das Leben der Menschen bedrohten.

In der Nähe von Gondar trafen sie das erste Judendörflein. Das Gerücht von der Ankunft der Fremden war schon vor ihnen dahin gelangt, zugleich aber war bekannt geworden, die Falascha sollten zum Götzendienst der abessinischen Kirche hinübergelockt werden. Darum hatten die Bewohner unter sich verabredet, es sollte niemand in Verkehr mit diesen Verführern treten. Indessen bald wurden andere Stimmen laut, die davon redeten, der Glaube der Fremden sei verschieden von der Religion der Abessinier und der Abuna sei ihnen zuerst

mit Misstrauen begegnet. Daher brannten die Dorfbewohner jetzt vor Begierde, die seltsamen Männer kennen zu lernen, die nur aus Liebe zu ihren Seelen die weite Reise unternommen hatten. So gab es schon am ersten Tage eine freundliche Begegnung. Aber am andern Morgen kam der Lehrer der Falascha mit zwei Männern seiner Gemeinde, um im Auftrage des ganzen Dörfleins zu fragen, ob es wahr sei, dass sie mit Gewalt zu Christen gemacht werden sollten. Als sie eine beruhigende Antwort erhielten, gingen sie fröhlich wieder heim, nachdem sie erklärt, Gottes Wort würden sie gerne von den Fremden hören. Im zweiten Dörfchen waren die Männer abwesend; dafür liefen schnell die Frauen zusammen und lauschten auf das, was die Missionare ihnen von der Menschwerdung des Sohnes Gottes und vom Leiden und Sterben des Heilands erzählten. Ein altes Mütterchen ward ganz überwältigt und rief aus: „O wie groß ist unsere Schuld, dass wir diese göttliche Liebe verwerfen, ein so kostbares Blut verachten!“ Sogar ein jüdischer Mönch, der regungslos und selbstgefällig von ferne zugehört hatte, schien bewegt und erklärte im Ernst, der Ausspruch des Moses: „Einen Propheten, wie mich, wird der Herr, dein Gott dir erwecken usw.“ werde sich doch wohl auf Jesus beziehen: er und seine Brüder befänden sich in einem sehr großen Irrtum, wenn sie sich mehr auf ihr eigenes Verdienst, als auf Gottes Liebe und Erbarmung verließen.

Von großer Bedeutung für das Werk der Glaubensboten war ihre Begegnung mit dem alten Hohenpriester der Falascha, Abu Mahari. Der würdige Greis, der im Rufe großer Heiligkeit stand, wohnte abseits im Gebirge und hatte viele Mönche um sich. Die Leute waren nun sehr gespannt, was Stern ihrem großen Priester zu sagen wüsste, der bei ihnen als Inbegriff aller Weisheit galt. Mit einem zahlreichen Gefolge von Mönchen schritt Abu Mahari den Missionaren entgegen.

Die feierliche Zusammenkunft fand auf einem freien Platz statt. Die Ankömmlinge überreichten dem Alten, der abessinischen Sitte gemäß, als Geschenk ein weißes Gewand und eine schön gebundene Bibel. Der Hohepriester durfte diese Dinge allerdings nicht aus ihren unreinen Händen in Empfang nehmen, aber einer der anwesenden Priester gab den Vermittler ab. Die Verhandlung begann mit einem Gebet, wobei sich alle erhoben, die Häupter entblößten und die Hände falteten. Nach einer kurzen Pause erklärte nun Stern den Zweck seines Kommens und entkräftete damit die falschen Gerüchte, die böswillige Zungen über ihn ausgestreut hatten. Die versammelten Priester sprachen hierauf den Wunsch aus, die Missionare möchten ihr Glaubensbekenntnis ablegen. Als das geschehen war, gestanden viele, das klänge doch wie ein Echo von Moses und David; sie würden sich freuen, wenn sie sich öfter mit den Fremden über diese wichtigen Dinge unterhalten könnten. Abu Mahari aber sagte zu Stern gewendet mit leiser Stimme: „Entweder werdet ihr einer der unseren, oder ich einer der euren.“

Nach diesen ermutigenden Erfahrungen bei Bereisung des Landes war Stern darauf bedacht, ein Standquartier zu gewinnen. Als solches schien sich Dschenda, die Begräbnisstadt der Abunas, zu empfehlen. Gleich bei ihrer Ankunft hatte der Abuna ihnen dort eine Herberge bereiten lassen. Auch die umwohnenden Falascha erwiesen sich als zugänglich. Die Missionare empfingen im Schatten eines großen Baumes die Besuche, die trotz der lästigen Hitze fast unaufhörlich einander ablösten. Es war ein herzbeweglicher Anblick, wenn sie den ganzen Vormittag über Gruppen neugieriger oder heilsbegieriger Falascha den steilen Gebirgspfad herabkommen sahen und die Besucher sich um sie drängten.

Unter den Leuten, mit denen sie jetzt in tägliche Berührung kamen, zeichnete sich Deptera Beru ebenso durch seinen empfänglichen Sinn wie durch seinen Verstand aus. Er war der erste, der sich dauernd an die Missionare anschloß und die heilige Taufe begehrte. Wir werden ihn später noch als ihren Gehilfen kennen lernen. Auch bei andern Falascha brach zuweilen eine wahrhaft rührende Freude über das, was die Fremdlinge ihnen zu bieten hatten, hervor. Als letztere ihre Bücherkisten erhielten und auspackten, streckten sich unzählige Hände nach der ungewohnten Gabe aus. Ein Mann, der davon gehört hatte, war lediglich zu dem Zwecke, eine Bibel zu holen, von weit her nach Dschenda gekommen. Die Missionare waren aber gerade mit ihrem Büchervorrat weitergezogen. Da machte er sich wieder auf und ging ihnen nach, bis er seine Bitte anbringen konnte. Auch Priester kamen herbei und ließen nicht ab, bis sie eine Bibel erhielten.

So war der Eingang der beiden Judenmissionare über Erwarten leicht gewesen. Die Gewalthaber im Lande kamen ihnen freundlich entgegen, die Falascha selbst erwiesen sich als so zugänglich, wie man kaum zu hoffen gewagt; in Dschenda war bereits der Anfang zu einer dauernden Niederlassung gemacht. Stern konnte mit dieser frohen Nachricht vor die Missionsgesellschaft in London treten, als er im Jahre 1861 dorthin reiste, um Bericht zu erstatten. Wenn irgendetwas Anlass zur Sorge gab, so war es die Unduldsamkeit der abessinischen Geistlichkeit, die entschlossen war, fest auf dem Versprechen zu bestehen, das Stern gleich anfangs dem Abuna hatte geben müssen, nämlich dass die etwa bekehrten Falascha sich der abessinischen Kirche anschließen sollten. Allerdings hatte der Abuna seinerseits das Zugeständnis gemacht, dass die von den Missionaren gesammelten Gemeinden nicht an die Zeremonien der Landeskirche gebunden sein sollten. Aber gerade diese unklare Doppelstellung schien nüchternen Beurteilern der Sachlage nicht unbedenklich.

Stern hatte die begonnene Arbeit bei seiner Abreise nach London umso ruhiger verlassen können, als er in Flad einen besonders tüchtigen Amtsgenossen gefunden hatte. Dieser sehnte sich nach einer wirklich geistlichen Tätigkeit, wie sie den Chrischonabrüdern nach Gobats Abmachungen zunächst nicht verstattet war, und bot daher durch Stern der Londoner Judenmissionsgesellschaft in aller Form seine Dienste an. Er ward mit Freuden angenommen und führte nun mit Bronkhorst das angefangene Werk weiter. Auf seinen Schultern hat von nun an viele Jahre lang die Verantwortung und die meiste Arbeit gelegen. Er bemühte sich, die Bibelverteilung fortzusetzen und das allgemeine Forschen und Fragen, das unter den Falascha sich regte, in die rechten Bahnen zu lenken.

Die Bewegung, die den Brüdern anfangs fast ungetrübte Freude bereitet hatte, gab jetzt doch auch zu manchen Sorgen Anlaß. Der Widerspruch fing an sich zu regen. Hatten die Falascha, auch die Priester, anfangs nur Fragen an die Missionare gerichtet, so traten sie jetzt häufiger mit Entgegnungen hervor. Die christliche Lehre enthielt manchen Anstoß für sie, zumal in der Entartung, wie sie die abessinische Kirche vertrat. Und es hielt schwer, ihnen immer die reinere evangelische Auffassung begreiflich zu machen. Auch der feste Entschluss mehrerer Falascha, zumal des feurigen Deptera Bern, rief starke Aufregung hervor. Erklärte doch jetzt sein ganzes Dorf, mit ihm übertreten zu wollen. Es kamen auch mehrere Unglücksfälle im Missionshause vor, welche von den abergläubischen Abessinien im üblen Sinne gedeutet wurden. Sie sagten, da es den Missionaren so schlecht gehe, sehe man ja, dass sie gottlose Leute wären und ihre Lehre falsch. Andere Verleumdungen, als wären sie Falschmünzer und Zauberer, welche Teuerung im Lande verursachten, wurden bis zum Negus gebracht; von den Krankheiten aber, die im Missionshause und unter den mit ihnen befreundeten Leuten ausbrachen, ward im Ernst behauptet, dass ein Falaschazauberer sie verursacht habe.

Bei solchen Anfechtungen klagte wohl Flad einmal: „Wer es nicht selbst erfahren hat, begreift nicht, welche Herrschaft der Teufel in diesem Lande über die Menschen hat, und wie er besonders denjenigen, die gegen sein Reich zu kämpfen die Gnade haben, bald als brüllender Löwe, bald als listige Schlange, bald als ein Versucher zu allem Bösen begegnet.“ Aber beirren ließ er sich dadurch nicht. Er bereitete in dieser Zeit dreißig Falascha auf die Taufe vor. Darunter befanden sich einige alte Männer, denen der Friede Gottes aus den schwarzen Gesichtern leuchtete, ferner der entschlossene Beru, der eine seltene Bekennerfreudigkeit an den Tag legte. Besonders gegen ihn richtete sich der Fanatismus der jüdischen Mönche, die sich zusammenrotteten, ihn totzubeten, natürlich ohne allen Erfolg, Im Juli 1862 kam der denkwürdige Tag. Nachdem der Negus seine Genehmigung zur Taufe gegeben hatte, versammelte Flad noch einmal die gefördersten seiner Taufbewerber und erklärte ihnen die Bedeutung der heiligen Handlung, Sie aßen nun zum ersten male mit ihm, was sie bisher wegen ihrer Reinigungsgebote noch nie hatten tun dürfen. Am andern Morgen fand die Feier statt, freilich der getroffenen Verabredung gemäß in der Kirche von Dschenda, was den feierlichen Ernst des Schrittes doch recht beeinträchtigte. Während nun die 22 Falascha das Taufsakrament und den neuen christlichen Namen empfingen, standen ihre Angehörigen draußen auf dem Kirchhof und hielten die Totenklage über sie. Welch ein schneidender Gegensatz! Einige Wochen später folgte noch ein zweiter Taufakt für 19 Personen; darunter war auch Berus Mutter, die bisher als eine besonders eifrige Jüdin gegolten hatte.

Inzwischen war Stern in London nicht müßig gewesen. Er schilderte allen Freunden des Reiches Gottes die guten Aussichten, die sich der Judenmission in Abessinien eröffneten. Die Folge davon war, dass von zwei Seiten neue Arbeiter geschickt wurden. Die schottische Kirche stellte zwei aus Deutschland gebürtige Missionare, Steiger und Brandeis, in den Dienst der abessinischen Mission, wo sie denn auch schon 1862 zu arbeiten begannen und zwar ganz in der Nähe von Dschenda. Die Londoner Judenmission aber gab ihrem Landboten Stern, der unmittelbar darauf nach Abessinien zurückkehrte, einen weiteren Mitarbeiter in der Person eines gewissen Rosenthal, der, selbst ein bekehrter Israelit, mit seiner Frau die Reise antrat.

So war also nun – Frühjahr 1863 – eine stattliche Schar von Missionsleuten in und bei Dschenda versammelt und entschlossen, das hoffnungsvolle Werk mit vereinten Kräften anzugreifen. Flad konnte ihnen berichten, dass trotz reichlicher Verfolgung und Lockung keiner der Proselyten zurückgegangen sei, im Gegenteil, ihr gutes Bekenntnis vor König und Volk machte ihnen alle Ehre. Zwar hatten die Priester den Bann über alle verhängt, die das Missionshaus besuchten, aber sie erreichten damit nicht viel. Das neue Testament wurde doch fleißig gelesen und viele kamen herbei, um es sich erklären zu lassen. Auch in der Schule ging es lebhaft zu, Flad wusste manchen schönen Zug vom Gebetsleben der Proselytenkinder, die er erzog, zu erzählen.

So lag also vor den versammelten Missionsgeschwistern das Feld reif zur Ernte. Aber gerade jetzt zog ein Unwetter auf, wie es in der wechselvollen Geschichte der abessinischen Mission noch nicht erlebt worden war. Der Negus Theodoros stand auf dem Gipfel seiner Macht, und sein launenhaftes Wesen reizte das Volk und noch mehr seine bezwungenen Feinde, die er einst um Macht und Besitz gebracht hatte. Politische Schwierigkeiten mit auswärtigen Mächten, besonders Frankreich und England, kamen dazu. Kurz, es gährte und wogte wieder einmal in dem unglücklichen Lande, das schon so viele Rebellionen und blutige Zwischenfälle gesehen hatte. Der heftigste Zorn des Negus aber kehrte sich gegen die Ausländer, unter denen die Missionare mit Einschluss der Chrischonabrüder der Zahl nach obenan standen. Wir werden in der nächsten Missionsstunde das ergreifendste Stück dieser traurigen Geschichte näher kennen lernen: die Schreckenstage von Magdala, wo die Qualen der gefangenen Europäer ihren Höhepunkt erreichten. Hier sei nur erwähnt, dass der Ausgang der Wirren zwar nicht ungünstig für die Missionsleute war, indem sie durch ein englisches Heer den Händen des Wüterichs glücklich entrissen wurden, ihr Missionswerk aber litt doch empfindlichen Schaden, Sie mussten fast ein Jahrzehnt – von 1867 bis 1874 – das aufgeregte Land verlassen und die Früchte ihrer Arbeit ganz in die Hände des neubekehrten Beru, der jetzt Paulus hieß, legen. Dass dieser Neuling einen Mann von der Begabung und Erfahrung Flads nicht ersetzen konnte, liegt auf der Hand, Doch hat dieser bekehrte Falascha sich der verwaisten Gemeinde treulich angenommen und sie gepflegt, soweit das in jenen unruhigen Zeiten möglich war.

Im Oktober 1873 machte sich Flad, der die Zwischenzeit in seiner württembergischen Heimat zugebracht hatte, wieder auf. Er nahm vier junge Falascha mit sich, die er in der St. Chrischona hatte als Evangelisten für ihr Volk ausbilden lassen. Die Reise ging jetzt wieder wie in den ersten Zeiten über Massana, da der inzwischen öfter benutzte Weg nilaufwärts nicht offen war. Der Reisezug des Missionars bildete eine stattliche Karawane. Für das Gepäck, das hauptsächlich aus Bücherkisten bestand, waren allein 19 Kamele nötig. Die Reisenden mussten an der eigentlichen Grenze des Landes  lange auf die Antwort des neuen Königs Johannes warten, der die Erlaubnis zum Einzug in sein Land geben musste. Endlich kam die königliche Botschaft und auch ein Brief des Abuna. Beide lauteten günstig. Flad hätte freilich die Erlaubnis zum Betreten des Landes sicher schwerlich erhalten, wenn er nicht einen Brief der englischen Regierung an den Negus zu überbringen gehabt hätte.

Seine Ankunft erregte unter den bekehrten Falascha große Freude. In Dschenda veranstalteten sie einen feierlichen Empfang für ihn. In Erweisung rührender Gastfreundschaft konnten sie sich kaum genug tun. Er musste es sich gefallen lassen, dass sie ihm immer wieder die Knie küssten; ihre Fragen nach seiner Gesundheit und seiner Familie wollten kein Ende nehmen. In Dschenda befand sich auch die von Beru geleitete Schule. Dahin kamen jetzt die bekehrten Falascha, etliche viele Meilen weit, um die Predigten Flads und der mitgebrachten Evangelisten zu hören.

Bevor der Missionar aber zu einer geregelten Tätigkeit übergehen konnte, musste er den Negus aufsuchen. Hören wir seinen eigenen Bericht, wie es ihm dabei erging.

„Wir erreichten Gooleet, einen Ort in der Nähe des königlichen Lagers. Ein Transport von mehreren hundert Sklaven zog an uns vorüber, dieselben gingen in tiefer Niedergeschlagenheit einher. In Gooleet mussten wir bis zur Rückkehr des Boten warten, der unsere Ankunft beim Negus gemeldet hatte und uns nun sagte, dass ein Offizier mit 150 Soldaten abgesandt sei, um uns ins Lager zu bringen, in dem der König auf der Spitze eines Hügels residierte. Als wir uns der Stelle näherten, kam uns des Königs Dolmetscher entgegen und geleitete uns durch die Reihen der Soldaten, die in bunte Seide gekleidet waren, bis zum königlichen Hause. Wir wurden dann hineingebracht und fanden Seine Majestät auf einem Meergraslager ruhend, reich in Seide gehüllt, umgeben von sechs seiner Würdenträger, sein bestes Pferd und ein schönes Maultier hinter ihm, jedoch durch einen Vorhang von ihm getrennt. Der Negus schüttelte mir die Hand, drückte seine Freude über unsere sichere Ankunft aus, frug nach meiner Gesundheit und forderte mich auf, mich auf dem Teppich vor ihm niederzulassen. Ich bat ihn jetzt um Erlaubnis, ihm die Briefe zu übergeben, die ich für ihn mitgebracht hätte. Zuerst überreichte ich ihm den Brief der englischen Regierung und den von unserer Missionsgesellschaft, dann auch ein Schreiben von dem Vorsteher des abessinischen Klosters in Jerusalem, Als er diese Briefe gelesen hatte, sagte er, ich sollte in einem Hause ausruhen, das nicht fern von seinem Platze und für uns neu eingerichtet worden war,“

Flad verhandelte nun auch mit dem Abuna, dem er seinen Gehilfen Beru und einen der neu angekommenen Evangelisten, Aragawi mit Namen, vorstellte. Der Abuna sprach seine Freude über das Bekehrungswerk unter den Falascha aus, namentlich auch über den Schulunterricht der Kinder, erneuerte aber auch die frühere Klausel, dass die Falascha-Mission nur unter der Bedingung geduldet werde, dass die Bekehrten stets der abessinischen Kirche zugeführt würden. Auf der andern Seite gestattete er die Anlegung neuer Stationen unter den zerstreut wohnenden Juden und erklärte die Lehrer für abgabenfrei.

War die erste Audienz beim König sehr ermutigend verlaufen, so machte er bei einer zweiten verschiedene Bemerkungen, welche Flads Hoffnungen wieder etwas herabstimmten. Über die Falascha äußerte er sich diesmal merkwürdig freundlich. Er sagte, er liebe sie, weil sie Nachkommen Abrahams wären, und wenn sie Christen würden, werde er sie als Brüder in Christo lieben. „Wenn diejenigen“, fuhr er darauf bedeutsam fort, „welche meine Untertanen sind, sie lehren und zur Taufe in unsere Kirche bringen, werde ich glücklich sein, und verspreche, ihnen meinen Schutz zu bieten. Aber ich wünsche keine Europäer in meinem Lande zu haben.“ Gleichsam beschwichtigend setzte er noch hinzu: „Ich liebe die Engländer, aber laß es dich nicht kümmern, wenn ich sage, ich wünsche keine Europäer in meinem Lande zu haben. Lass die Falaschamissionare unterrichten und das Werk ausführen, das du begonnen hast.“

Damit war der dauernden Niederlassung und Wirksamkeit Flads deutlich genug ein Riegel vorgeschoben; umso fleißiger wollte er die ihm vergönnte Zeit ausnützen.

Sie traten den Rückweg nach Dschenda an, wegen der Unsicherheit des Landes wieder von einer starken Eskorte Soldaten begleitet. Nach ihrer Ankunft erschienen viele Falascha und Christen, teils um über wichtige Bibelstellen Auskunft zu erbitten, teils um Schriften und Bücher zu kaufen. Flad fand auch viel Freude an der dortigen Schule. Sie wurde von 36 Schülern besucht, die fast alle amharisch und äthiopisch lesen konnten, auch viele Sprüche und Psalmen auswendig hersagten. Ein blinder Falaschajunge wusste bei seiner Taufe alle 150 Psalmen auswendig, und wie rührend und tief beschämend für unsere Schuljugend ist folgendes Beispiel: Die ärmeren Knaben der Schule waren fast nur in Lumpen gehüllt; als Flad ihnen ordentliche Kleider gab, waren sie herzlich froh. Ein Knabe brachte ihm jedoch sein Kleidungsstück zurück und sagte, er wolle mit seinem zerrissenen Kleide zufrieden sein, wenn er ihm statt des neuen Rockes einen Psalter schenken wollte. Der Missionar sagte: „Aber mein kleiner Bursche, du musst doch Tag und Nacht in deinen zerrissenen Lumpen frieren,“ Da antwortete der Kleine: „Schadet nichts, ich will lieber frieren und einen eigenen Psalter besitzen; dann kann ich die Psalmen für mich lesen und sie auswendig lernen,“ Sein Wunsch ward nun erfüllt, Flad nahm das neue Kleid zurück: als ihm aber bald daraus der Lehrer sagte, dass der Junge fleißig und einer der hoffnungsvollsten in der Schule sei, erhielt er das neue Gewand wieder. Nun ging er seelenvergnügt mit Psalter und Kleid von des Missionars Angesicht.

Ein Falascha, früher ein bitterer Feind der Mission und in seinem blinden Eifer gegen die Bekehrten dem Saulus von Tarsus vergleichbar, bekehrte sich mit seiner ganzen Familie. Sein Weib hatte ein erbauliches Ende. Als sie auf dem Sterbebette lag, rief sie ihre acht Kinder und die Verwandten, unter denen sich noch Unbekehrte befanden, und ermahnte sie dringend, sich dem Herrn zuzuwenden. Ihr letztes Wort war: „Ihr könnt allein durch ihn selig werden,“ An ihrer Bahre erscholl nicht das gewöhnliche Jammer- und Klagegeschrei. Der Geist von oben her durchwehte bereits die Herzen und die Hoffnung des ewigen Lebens machte sich geltend. Eine gute Frucht dieses gottseligen Sterbens war die Anmeldung neuer Taufbewerber. Auch ein älterer Verwandter des Beru kam und erklärte: „Seit 10 Jahren glaube ich an das Evangelium. Inwendig war ich ein Christ, auswendig ein Falascha, Ich wünschte schon eher getauft zu werden, aber meine Frau und meine Verwandten waren dagegen, und so blieb ich ungetauft, um die Trennung von ihnen zu vermeiden Aber ich werde alt und wünsche ein offenes Bekenntnis meiner inneren Überzeugung durch den Empfang der Taufe abzulegen und als ein Christ zu sterben. Ich will nicht länger zaudern, obgleich ich sehr fürchte, dass mein Weib mir durch ihre Brüder, die Mönche sind, entrissen werden wird. Jedenfalls kann ich, auch wenn dies geschehen sollte, meine Überzeugung nicht ändern, denn Christus sagt: „Wer sein Weib und seine Kinder mehr liebt als mich, ist mein nicht wert.“ Vor zehn Jahren habe ich sie zu gewinnen gehofft, aber es tut mir weh, sagen zu müssen, dass sie gegen das Christentum jetzt bitterer ist als je,“

Sogar ein Kahen kam zu Flad mit dem Anliegen: „Ich möchte, ihr solltet mir den Weg zur Seligkeit für meine Seele zeigen,“ Drei Tage und Nächte blieb er in Flads Zelt und hatte damit sozusagen seine Kaste gebrochen, weil ein Kahen durchaus nicht mit einem Christen in Berührung kommen darf.

Solche erfreuliche Erfahrungen mussten es dem Missionar nur umso schwerer machen, von den Neubekehrten bald wieder Abschied zu nehmen. Der Entschluss des Negus, keine Europäer als Missionare in seinem Lande zu dulden, war aber unbeugsam. Als Flad sich zur Rückreise in die Heimat rüstete, kamen Hunderte von Falascha nach Dschenda, um ihm Lebewohl zu sagen. Unter vielen Tränen und herzlichen Segenswünschen gingen sie voneinander. Was der Scheidende hinter sich zurückließ, war immerhin dankenswert genug. Er hatte eine große Menge heiliger Schriften und christlicher Bücher verbreitet. Neben Dschenda waren zwei weitere Stationen gegründet; die evangelische Falaschagemeinde zählte 212 Seelen, Zu ihrer Versorgung war vor allem Beru Paulus da, sodann die von Flad aus St. Chrischona mitgebrachten Evangelisten, Die wichtigste Arbeit wurde so verteilt, dass der Erstgenannte die Oberaufsicht in kirchlichen Dingen übernahm, während der schon erwähnte Aragawi das Schulwesen leitete. Flad konnte aber doch die Besorgnis nicht unterdrücken, dass diese Eingeborenen bei aller guten Absicht ihrer Aufgabe nicht recht gewachsen sein würden. Er hoffte freilich nicht für immer Abschied zu nehmen. Wie oft waren schon Wechselfälle in Abessinien eingetreten! Da war auch ein Umschwung in der Meinung des Negus oder seines Nachfolgers möglich.

Von solchen Gedanken ließ Flad in der Folgezeit sich leiten, wenn er wieder und immer wieder die Heimat verließ, um nach dem ihm ans Herz gewachsenen Werke zu sehen. Er ist im Ganzen siebenmal nach Abessinien gereist, leider musste er aber seine Hoffnungen jedes Mal weiter zurückstimmen. Im Jahre 1880 kam er zum letzten Male. Es waren ihm gerade recht ungünstige Nachrichten vom Missionsfelde zugegangen. Die politische Lage war so verwirrt, wie nur je. Auch Negus Johannes erwies sich als ein echt afrikanischer Despot. Angestachelt durch seine Priester, deren Fanatismus wieder einmal erregt war, hatte er im Lande verkündigen lassen, dass keine andere Konfession geduldet werden solle, als die abessinische Kirche. Er ließ das Verbot ausgehen, dass kein Europäer bei Todesstrafe seine Grenzen überschreiten dürfe. Auch die römischen Missionare, welche in Tigre Aufnahme zu finden gewusst hatten, wurden mit Gewalt aus dem Lande geschafft. Ja es begann sogar eine regelrechte Verfolgung der Christen, die von der abessinischen Weise abgewichen waren. Es wurden Haussuchungen nach Bibeln und andern christlichen Schriften vorgenommen, wobei die gefundenen Bücher zerrissen oder ins Wasser geworfen wurden.

Unter solchen Umständen durfte es Flad selbstverständlich nicht wagen, das Land zu betreten. Daher sandte er einen abessinischen Boten an Beru und seine Genossen, sie möchten zu ihm an die Grenze kommen. Aber auch das vereitelten des Königs Späher. Johannes hatte schon etliche Leute, die sich nach der Nordgrenze des Landes wenden wollten, Hände und Füße abhauen lassen. Der Bote, den Flad abgeschickt hatte, kam ganz abgezehrt und ausgehungert zurück. Nur mit größter Vorsicht, unter den härtesten Entbehrungen hatte er sich nach der Grenze durchschleichen können. Als er kurz darauf im Anschluss an eine königliche Karawane nach Abessinien zurückkehrte, sagte er, sehr bezeichnend für den traurigen Zustand des unglücklichen Landes: „Bis jetzt lebte ich mit und unter Menschen; nun aber gehe ich in ein Land zurück, wo nur wilde Tiere leben; unseres Landes Volk ist zum wilden Tier herabgesunken.“

Mit schwerem Herzen kehrte der Missionar in die Heimat zurück. Ebenso sauer wurde es der Missionsgesellschaft in London, das bisher schon sehr lockere Band mit der abessinischen Judenmission so gut wie ganz lösen zu müssen. Ein wehmütiger Bericht Berus nötigte aber schließlich doch dazu. Derselbe schrieb: „Im letzten Jahre konnten wir für die Missionsarbeit nichts tun, weil Westabessinien von den Soldaten des Königs schrecklich heimgesucht wurde, und Armut und Unsicherheit überhandnahmen. Wir haben daher Ochsen gekauft und pflügen lassen und verzichten künftig auf ein Gehalt. Wir wollen uns selbst ernähren und für die Ausbreitung des Evangeliums tun, was wir können. Sollte Abessinien wieder ein Jahr der Gnaden von Gott erhalten, so sind wir bereit, als Lehrer unseres Volkes zu arbeiten.“

Was die ehemals missionseifrigen Männer so mürbe gemacht hatte, erfährt man aus einem ihrer Berichte, aus dem hervorgeht, dass die Missionsgehilfen von den Machthabern im Lande und ihren rohen Soldaten schrecklich gequält wurden. Letztere verzehrten den armen Leuten nicht nur alle ihre Vorräte, sie zwangen ihnen durch allerlei Gewaltmittel auch ihr letztes Geld ab. Sie bekamen wiederholt je 12 Mann Einquartierung, welche nicht nur mehrere Tage bei ihnen aßen und tranken, sondern auch durch Foltern ihre Ersparnisse auspressten. Bei ihrem Wegzug waren die Evangelisten mit ihren Familien aller Nahrung beraubt. Die Ärmsten hatten nichts weiter als Tränen. Sie setzten sich mit den Ihrigen auf die Erde und weinten zusammen.

So müssen wir also auch von diesem Kapitel der abessinischen Missionsgeschichte mit tiefer Wehmut Abschied nehmen. Es waren wieder reiche Geldmittel und viel gute Menschenkraft in Bewegung gesetzt worden. Wie viel war für die Bekehrung der Falascha gebetet worden! Im Anfang hatte es auch den Anschein, als ginge den Zerstreuten des Volkes Israel, die unter den Abessiniern in Finsternis und Schatten des Todes wohnen, die Morgenröte des Heils auf. Aus manchem angefassten und erweckten Judenherzen kam die hoffnungsvolle Frage: „Hüter, ist die Nacht schier hin?“ Aber wieder siegte die Bosheit und der Herzen Härtigkeit. Wieder sank Abessinien mit all den unsterblichen Menschenseelen, die es birgt, in die Vereinsamung und in die geistliche Verwilderung zurück. Wir aber wollen auch für die dort wohnenden Juden nicht ablassen von der Fürbitte:

Der du die Quellen läsest wiederkehren,
Dass zur Oase wird der Wüstensand,
Wann bringst von neuem du dein Volk  zu Ehren,
Das einst vor deinem Thron so herrlich stand?

Der Sämann streut sein letztes Korn mit Weinen,
Doch jubelnd sammelt er die Garben ein;
So lasse, Jehovah, auch dem Volk der Deinen
Aus Tränensaat die Frucht des Heils  gedeihen!

Amen.


Heinrich A. Stern

Auszug aus »Du wirst geleitet vom Schweigen Gottes«

Von Peter Mosler

Quelle

König Theodorus von Abessinien, das wusste der Missionar, war angeblich ein Nachkomme von David, Salomon und Menelik, dem Sohn Salomons, und der Königin Saba. Wenigstens behauptet er das, sagte Stern abfällig.

Als das Schiff in einem äthiopischen Hafen anlegte und die Passagiere an Land gingen, verschlug es Stern als Erstes auf einen Sklavenmarkt: 800 Männer, Frauen und Kinder lagen wie Vieh auf der Erde und wurden von den Käufern überall betastet und untersucht – Zähne, Hüften, Arme, Beine, bis nach langem Feilschen der Kaufpreis festgemacht wurde. Am Rande des Sklavenmarkts saßen Kopten, spielten Schach und tranken Branntwein. Einige Dutzend schwarzer Soldaten kamen und führten vor Stern und seinem Gefolge mit Schwert und Speer einen Tanz vor. Sie wollten Geld von den Weißen. Betteln war in Abessinien keine Schande, denn die Europäer galten als unermesslich reich. Mit ein paar Scherchen, Schnupftabak und einem Büchschen Zündhölzer gaben sich die Schwarzen mit ihrem weißen, knöchellangen Burnus mit Kapuze zufrieden und zogen ab. An einem benachbarten Friedhof geriet Stern in eine Beerdigungszeremonie. Am Grab sprach ein koptischer Priester, und er las Stellen aus dem Testament vor, die Stern nicht verstand. Als er den Priester fragte, sagte dieser auf Französisch: Gott versteht alle Sprachen. Ich habe kuschitisch gesprochen. Ein Reisender in unserem Land sollte wenigstens englisch, französisch, arabisch und amharisch verstehen.

Stern schloss sich einer Karawane an, um zu König Theodorus zu ziehen. Der König der Könige wusste längst von der Reise Sterns und empfing ihn freundlich in seinem Zelt. Er trug sein Haar in drei Zöpfen und erschien, wie immer, ohne Kopfbedeckung und ohne Schuhe. Er sagte zu Stern: Ich habe vernommen, dass du die Falascha bekehren willst. Ich ermächtige dich, jede Provinz in meinem Reich zu besuchen. Aber taufen darfst du die Falascha nur nach dem abessinisch-orthodoxen Ritus. Doch ich sage dir: Die Juden sind verstockt und geborene Feinde Christi. Ihr Gebet endet mit den Worten: O Herr, führe uns den richtigen Weg und gib uns Frieden für Zion und Erlösung für Jerusalem.

Für den christlichen Glauben Gottes wirst du sie nicht gewinnen.

Stern wartete auf Kamelladungen amharischer Bibeln und eröffnete unverdrossen mit seinem Begleiter, Reverend Flad, eine Missionsstation unter den Falascha. Viele von ihnen kamen, aber nicht wenige wollten keine Bekehrung, keine amharische Bibel, sondern Bekleidung oder ein Geldstück. Die äthiopischen Priester beklagten sich bei Theodorus, dass Stern und Flad einen fremden Glauben lehrten. Die getauften Falascha seien keine Christen, sondern Protestanten, die das Kreuz nicht küssen und die Heiligen und die Jungfrau nicht verehren. Außerdem besitze Stern einen geheimnisvollen Apparat, mit dem er Bilder unseres Heiligen Landes mache.

Der König Theodorus wurde zornig. Das ist gegen das Gelöbnis!, rief er und bestellte Reverend Stern und sein Gefolge zu sich. Theodorus gab den Befehl: Prügelt ihre Diener bis aufs Blut! Die Soldaten schlugen mit Ruten auf die Schwarzen ein, bis der Rücken von Striemen und Blut bedeckt war. Stern konnte die Tortur nicht länger mit ansehen. Er drehte sich um und biss voller Verzweiflung auf seinen Finger. Das war Theodorus und seinem Hof nicht entgangen – diese Geste galt in Abessinien als Schwur der Rache, und der König ließ Stern festnehmen und in Ketten legen. …


Debtera Beru

Die Wahrheit ist nicht auf unserer Seite

Von Catherine Meerwein

Quelle

Chrischona und die äthiopischen Juden

Der Deutsche Johann Martin Flad (1831-1915) reiste 1854 im Auftrag der Pilgermission St. Chrischona zum ersten Mal nach Abessinien, dem heutigen Äthiopien. Dort lernte er die Falascha kennen, eine Volksgruppe, die sich wie die übrigen Abessinier als Nachkommen von König Salomo und der Königin von Saba sehen. Während ein Großteil der Abessinier schon in den ersten Jahrhunderten den christlichen Glauben annahm, blieben die Falascha ihrem alttestamentlichen Glauben treu. Sie werden heute als Juden anerkannt. Die Abessinier sprachen Amharisch. Die äthiopische Hochsprache dagegen verstanden im 19. Jahrhundert nur die wenigsten.

Falaschamission

Flad baute zusammen mit der Londoner Judenmissionsgesellschaft ab 1860 eine Arbeit unter den Falascha auf. Allerdings musste er 1868 das Land verlassen, nachdem er viereinhalb Jahre in Gefangenschaft verbracht hatte, und erhielt danach nie mehr eine Einreisegenehmigung. Für den abessinischen König waren Europäer in seinem Land unerwünscht. So führte Flad die Arbeit durch Briefe und Konferenzen mit seinen abessinischen Mitarbeitern weiter. Ein wichtiger Mitarbeiter war Debtera Beru.

Ein wissbegieriger Junge

Beru erlernte bereits als zehnjähriger Junge das Weberhandwerk. Er war so fleißig, dass er nach einigen Jahren für den Unterhalt der ganzen Familie aufkommen und sogar eine Milchkuh kaufen konnte. Von Kind auf hielt er sich an alle Gebote seines Glaubens. Er wollte sogar lesen und die äthiopische Sprache lernen, damit er selbst Gottes Wort lesen konnte, das er jeden Schabbat in der Synagoge hörte. Deshalb ging er jeden Tag bei Hahnenschrei in die Schule eines frommen, christlichen Gelehrten in Dschenda.

Klüger als sein Lehrer

Am Tag ging er weiterhin seiner Weberarbeit nach und lernte während des Webens alle Psalmen in äthiopischer Sprache auswendig, dazu die äthiopische Grammatik und das Lexikon. In wenigen Jahren beherrschte er das Äthiopische so perfekt, dass die Falaschapriester in Dschenda am Schabbat und an andern jüdischen Festtagen ihn öffentlich vorlesen und die Schriftabschnitte für den Tag ins Amharische übersetzen ließen.

Am 7. Januar 1861 tauchte Berus Name das erste Mal auf der Liste mit den Namen der Hörer auf, die sich um die Mitarbeiter der Londoner Judenmission versammelt hatten. Bruder Bronkhorst erzählte, dass unter den an jenem Tage erschienenen Falascha Beru noch zurückblieb, als alle anderen schon weggegangen waren. Nachdem Bronkhorst ihm Jesaja 65 und Römer 12 vorgelesen und erklärt hatte, bat Beru, ihm einen sicheren Beweis dafür zu geben, dass nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem keine Opfer mehr dargebracht werden sollten.

Flad hat Recht

Von da an besuchte Beru regelmäßig Bronkhorst und Flad. Flad schrieb: „Unvergesslich bleibt mir der Tag, an dem Beru mit 25 andern Falascha zu mir kam, unter denen sich zwei Priester und einige Gelehrte befanden. Von 9 Uhr morgens bis Sonnenuntergang fochten sie, mit der offenen Bibel vor sich, und Beru war ihr Wortführer. Weissagung auf Weissagung wurde verlesen und besprochen.“ Es wurde dunkel, als Beru sich erhob und sagte: „Liebe Brüder, die Wahrheit ist nicht auf unserer, sondern auf Vater Flads Seite. Mose und unsere eigenen Propheten sind gegen uns. Christus ist der Sohn Gottes, der Messias Israels, die Versöhnung für unsere Sünden. Ich kann mir nicht helfen, unsere eigene Bibel sagt uns das.“ Schweigend erhoben sich alle und gingen davon.

Lärm in der Synagoge

Am folgenden Schabbat legte Beru in der Synagoge ein offenes Bekenntnis von seinem Glauben an Christus vor der jüdischen Gemeinde ab. „Es ist das letzte Mal, dass ich hier sein werde“, sagte er, „nicht durch die Lehren der Missionare, sondern durch unsere eigene Bibel bin ich überzeugt worden, dass wir uns im Irrtum befinden. Jahwe ist ein dreieiniger Gott, Jesus ist der Sohn Gottes, der verheißene Messias. Unsere blutigen Opfer sind nutzlos, sie sind ein Gräuel in Gottes Augen; seitdem Christus sich selbst als Opfer für unsere Sünden dargebracht hat, kann niemand ohne ihn selig werden. Ich glaube, dass er mein Heiland ist. Bisher bin ich sein Feind gewesen, jetzt bete ich ihn an und wünsche, sein Knecht zu werden.“ Darauf brach ein großer Lärm los, und schließlich wurde Beru mit denen, die auf seiner Seite standen, geschlagen und aus dem Bethaus getrieben.

Zehn Tage später erkrankte Beru ernsthaft und starb beinahe. Doch durch Gottes Gnade blieb sein Leben erhalten, und er und 20 andere Falascha, Männer und Frauen, wurden regelmäßig unterrichtet und auf die Taufe vorbereitet, die am 21. Juli 1862 stattfand. Flad war Berus Pate und gab ihm den Namen Beru Wolde Paulus.


Links