Sep 202013
 

Wie alt werden die Seniorinnen und Senioren?

Alt: Alle wollen’s werden, und keiner will es sein.
Volksmund

Wir können die Last nur anders verteilen.
Bevölkerungsforscher Birg warnt vor den Folgen der demographischen Entwicklung.

Von Hans-Ulrich Brandt

Wenn Herwig Birg seine Prognosen referiert, dann hört sich das erschreckend an. Emotionslos beschreibt er das Szenario von einem schrumpfenden Land, dessen Verschwinden, global betrachtet, gar nicht auffallen würde. Und ebenso kühl stellt er fest: „Das läuft jetzt ab wie beim Domino-Effekt – stoppen lässt sich das nicht mehr.“ Herwig Birg ist Demograph, genauer: Er ist Fachdemograph, und darauf legt er Wert.Den Unterschied beschreibt er mit einem Vergleich: Das sei wie bei Astrologen und Astronomen – letztere betrieben seriöse Forschung, erstere esoterische Spekulationen. Und spekulativ, das betont Birg auf einer Veranstaltung des Freien Verbands Deutscher Zahnärzte in Berlin, sei Fachdemographie ganz und gar nicht – auch wenn oft der Versuch gemacht werde, die Demographie in die unseriöse Ecke zu stellen. Bevölkerungsprognosen der Vereinten Nationen aus den fünfziger Jahren für das Jahr 2000 hätten beispielsweise nur eine Abweichung von 1,5 Prozent gehabt.

„Und für Deutschland sind Prognosen der Geburtenrate mit einem Fehler von weniger als ein Promille für zehn Jahre im voraus zu machen“, konstatiert Birg. Seit 1972 ist in Deutschland die Zahl der Sterbefälle größer als die Zahl der Geburten. Damit ist es das erste Land weltweit, das vom Prozess des Bevölkerungswachstums in den Prozess der Schrumpfung übergegangen ist. „Es gibt in Deutschland keinen Landkreis mehr mit geburtserhaltender Substanz“, beschreibt Birg die Lage. Europa ist übrigens der einzige Kontinent, der demographisch gesehen schon schrumpft. Doch so wird es nicht bleiben – alle Länder der Erde werden mittel- und langfristig folgen. Ab dem Jahr 2070, so Birg, wird die Weltbevölkerung insgesamt nicht mehr wachsen, sondern schrumpfen. Was also ist gegen die sinkende Geburtenrate zu tun? Ist diese Entwicklung aufzuhalten? Nein, sagt Birg, jedenfalls nicht kurz- oder mittelfristig. „Wenn ein demographischer Prozess länger als 25 Jahre in die falsche Richtung läuft, dann dauert es 75 Jahre, um diesen Trend wieder zu stoppen.“ Selbst wenn also in Deutschland die Geburtenrate in den nächsten zwanzig Jahren wieder den bestandserhaltenden Wert von zwei Kindern pro Paar erreichen würde – jetzt liegt er bei 1,3 – würde die Bevölkerungszahl noch bis in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts hinein sinken. Nach Birgs Berechnungen wird Ende des Jahrhunderts bei gleichbleibender Geburtenrate von 1,3 die Bevölkerungszahl in Deutschland bei einer jährlichen Zuwanderung von 250 000 Menschen von jetzt etwa 80 Millionen auf 60 bis 50 Millionen gesunken sein. Ohne Zuwanderung wären es sogar nur 32 bis 24 Millionen Menschen – je nach Szenario (siehe Graphik).Gleichzeitig nimmt die Zahl der Menschen, die älter als 60 Jahre sind, bis 2040 um zehn Millionen zu, denn der Prozess der demographischen Alterung, so Birg, ist viel stärker vom Rückgang der Geburtenrate als vom Anstieg der Lebenserwartung abhängig.

„Wir haben also eine Bevölkerungsexplosion bei den Alten und eine Bevölkerungsimplosion bei den Jungen“, sagt der Experte und fügt hinzu: „Nicht die Schrumpfung der Gesamtbevölkerung ist das besonders besorgniserregende, sondern die sich immer weiter öffnende Schere zwischen der stark wachsenden Zahl der Alten und der abnehmenden Zahl der mittleren und jüngeren Altersgruppen.“ Für die Sozialsysteme bedeutet diese Entwicklung eine enorme Herausforderung. Dazu gibt Birg Beispiele: Weil bei Älteren die Gesundheitskosten etwa sieben- bis achtmal so hoch seien wie bei Jungen, würden in 20 Jahren die Gesundheitskosten regelrecht explodieren. Parallel dazu würden die Einnahmen der Krankenkassen stark sinken, weil es etwa 16 Millionen weniger junge Beitragszahler geben werde. Bis zum Jahr 2050 müsste dann der Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung von heute durchschnittlich 14 Prozent auf bis zu 25 Prozent ansteigen. Für die Pflegeversicherung rechnet Birg – „jeder Dritte über 80 Jahre ist schon heute ein Pflegefall“ – mit einem Beitragsanstieg von jetzt 1,7 auf dann 6 Prozent, wolle man den Versorgungsstand halten.In der Rentenversicherung lägen die Beiträge, ein Rentenniveau von etwa 70 Prozent angenommen, 2050 bei unglaublichen 46 Prozent (jetzt 19,9 Prozent). „Und weil das niemand bezahlen kann“, so Birg, „wird es auch noch viele Reformen geben müssen“. Sein Fazit ist eindeutig: „Die altersbedingte Last für die Sozialsysteme kann durch Reformen nicht verringert werden, wir können sie nur anders verteilen.“ Und die Bekämpfung der Ursachen kann nur langfristig durch eine parallel dazu initiierte Politik mit Maßnahmen zur Erhöhung der Geburtenrate erfolgen. Sein Vorschlag: „Das wirksamste und sozial gerechteste Mittel wäre ein gesetzlich vorgeschriebener Vorrang für Eltern bei der Besetzung von Arbeitsplätzen bei gleicher Qualifikation der Bewerber, weil sie höhere soziale Lasten zu tragen haben.“ Letztlich aber gelte, so Birg: „Alles, was Familien stärkt, hilft.“

Weser Kurier vom 20.02.2007


Investition mit Rendite – Studie: Eine bessere frühkindliche Bildung zahlt sich für Staat und Wirtschaft aus

Von Hans-Ulrich Brandt

Investitionen in Kindergärten und in eine bessere Vorschul- und Grundschulerziehung zahlen sich langfristig aus. Das hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln errechnet. Ausgaben von etwa zehn Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr würden laut IW zu einer Rendite von acht Prozent für den Staat und 13 Prozent für die Volkswirtschaft führen.Laut Untersuchung würde ein staatlich gefördertes größeres und gebührenfreies Angebot von Kindergartenplätzen, und eine damit einher gehende höhere Qualifizierung von Erzieherinnen und Erziehern, Jahr für Jahr etwa vier Milliarden Euro einsparen helfen, weil weniger Geld für die Nachqualifizierung von Kindern und Jugendlichen ausgegeben werden müsse.Außerdem erwirtschafteten besser ausgebildete Beschäftigte ein höheres Sozialprodukt und zahlten mehr Steuern und Sozialbeiträge. Das IW verbucht diese Effekte mit einem jährlichen Einnahmeplus bis zum Jahr 2050 von durchschnittlich 14 Milliarden Euro.

Die Frage, woher das Geld für die zusätzliche Förderung frühkindlicher Bildung kommen soll, beantwortet die Studie folgendermaßen: „In den nächsten Jahren bieten sich dafür die Mittel an, die durch sinkende Schülerzahlen ansonsten im Bildungbereich eingespart werden könnten“, so die IW-Experten. Diese „demographische Rendite“ belaufe sich schon bald auf jährlich acht bis zehn Milliarden Euro.Allerdings betonen die Autoren der Studie, dass eine Investition dieses Geldes in die bestehenden Strukturen der frühkindlichen Bildung nicht sinnvoll sei. Es genüge nicht, einfach nur zusätzliche Kindergartenplätze oder Lehrerstellen zu schaffen, ohne „zuvor die Qualität des Bildungssystems“ erhöht zu haben. Zu den vom IW geforderten „qualitätssteigernden Strukturveränderungen“ gehören im Bereich der Kindergärten zum Beispiel die Einführung von Mindeststandards, eine stärkere individuelle Förderung der Kinder, sowie besser ausgebildete Betreuer. Für den Bereich der Grundschulen wird die Einführung von Ganztagsschulen gefordert, sowie Bildungsstandards, Autonomie und Rechenschaftspflicht. Zudem sollten laut IW Lehrer „zielorientiert“ vergütet und Schüler besser individuell gefördert werden. Wie wichtig ein stärkeres Engagement der Politik in die frühkindliche Lernförderung ist, zeigen folgen Zahlen: Bereits heute bekommt jedes siebte Unternehmen in Deutschland den Fachkräftemangel zu spüren. Durch die geburtenschwachen Jahrgänge wird die Lage noch verschärft. Schon jetzt müssen pro Jahr etwa 160 000 Schulabsolventen eine berufsvorbereitende Maßnahme besuchen, bevor sie überhaupt eine Lehre antreten können.

Weser Kurier vom 20.02.2007

Unser Respekt gilt in Wahrheit nie dem Alter, sondern ausdrücklich dem Gegenteil:
dass jemand trotz seiner Jahre noch nicht senil sei.
Max Frisch


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