Sep 202013
 

Von Michael Kienzle

Die Subventionierung kultureller Einrichtungen ist Bekenntnis zum und Verbeugung vor dem kulturellen Überbau unserer Gesellschaft. Doch Glaubensstärke und materielle Kraft der öffentlichen Hände, diese Grundüberzeugung auch zu finanzieren, schwanden in den letzten Jahren dahin. Und so manche Kultureinrichtung entglitt der stützenden Fürsorge ganz, konnte das Risiko aus eigener Kraft nicht mehr stemmen. Ein Ende dieser Konditionsschwäche ist nicht absehbar.

Im selben Zeitraum, in dem jene verstärkt darbten, blühten die privaten und subventionsfreien Institute auf, die ihre volksbildnerische Kraft allein auf die Kultur der Körper konzentrieren. Ober drei Millionen Menschen in Deutschland trainieren ihren Kreislauf oder die Muskulatur als Mitglieder irgendeines Fitnessstudios – darin durchaus vergleichbar mit den Abonnenten der Oper oder des Schauspiels.

Die zunehmende Bedeutung von Körperkultur lässt sich am besten demonstrieren an einer auf dem Fitnessmarkt eher untypischen Einrichtung: der Schweizer Firma Kieser Training. Unter dem Motto des „gesundheitsorientierten Krafttrainings“ arbeitet das Unternehmen seit 1967 in der Schweiz, in Deutschland seit 1997. Allein im letzten Jahr wurden hier 24 Betriebe eröffnet. In 122 Filialen wird Trainingswilligen mit gültiger Codekarte Eintritt gewährt.

Auch für Stuttgart bilanzierte die Firma, die am liebsten „der ganzen Welt den Rücken stärken“ würde, im vergangenen Monat stolz: „Stuttgart fünf Jahre den Rücken gestärkt“. Dieser löblichen Tätigkeit geht sie in zwei Filialen nach, einer neueren am Cannstatter Bahnhof, einer in der Christophstraße, mitten in der Stuttgarter Innenstadt. Zwischen den Kraftmaschinen dieser Firma drängen sich diejenigen, die man früher als Bildungsbürger bezeichnet hat: im Durchschnitt 45jährige Menschen aus Kunst, Kultur, Wissenschaft, Presse; Freiberufler wie Architekten und Designer, leitende Verwaltungsbeamte und Politiker aller Farben. Menschen also, die sich sonst auf Empfängen, Vernissagen und bei Premieren begegnen; Kreative und Honoratioren, die sich nie und nimmer tagsüber in Fitnessstudios mit Palmen, Sauna, animierender Musik und Softdrinks sehen lassen wollten und bei denen schon der Begriff Bodybuilding Übelkeit erzeugt.

Sie, die anderenorts kulturelle Projekte debattieren, politische Ansprüche anmelden, die Tätigkeiten ausüben, bei denen körperliche Kraft wenig entscheidet: Hier bedienen sie schwitzend im einfachen Turnzeug alle die gleichen Maschinen, konzentrieren sich völlig auf die Innenwelt ihrer Muskeln, nehmen einander kaum wahr und grüßen nur flüchtig. Gespräche sind hier undenkbar. Das Rückenstudio ist nicht Ort sozialer Kommunikation. Sondern eine Manufaktur, ein Refektorium für den eigenen Leib.

Die Kieser-Betriebe orientieren sich denn auch an der Kargheit von Klöstern, an der Monochromie von Galerieräumen oder an der Funktionalität von Großküchen: Die Wände sind schlicht weiß, die Maschinen grau, Leuchten, Schränke, Duschen und der Wasserspender aus gebürstetem Edelstahl. Sanitäre Einrichtungen werden bei Bedarf aufs erhaltene Parkett gestellt. Es herrscht Loft-Atmosphäre, alles ist transparent und öffentlich, hygienisch und geruchsfrei. Die Mühen der Kunden beim Körpererhalt sind von der Straße durchs Schaufenster zu sehen. Die bauhausähnliche Funktionalität seiner Einrichtungen hat dem Firmengründer Kieser den Titel des „Mies van der Rohe of fitness. less is more“ (Independent Magazine) eingebracht, mit dem er denn auch fleißig wirbt.

In feierlicher Stille – lautes Stöhnen ist hier undenkbar – holen sich die Trainingswilligen nach dem Unziehen die Karteikarte, auf der ihre aktuellen Maschineneinstellungen, die Zahl der zu stemmenden Pfunde und der Wiederholungen genau verzeichnet sind und stetig fortgeschrieben werden müssen. Es entsteht so im Verlauf der Monate eine Biographie der Muskeln.

Bis zu zehn Foltermaschinen teilt der Berater dem Kunden zu. Sie sollen seine verschiedenen Muskelgruppen nacheinander bis zur absoluten Erschöpfung beanspruchen – was diese dann veranlasst, panisch zu wachsen und zu gedeihen. Wie dem reuigen Sünder im Beichtstuhl erst in tiefster Reue höchste Vergebung gewährt wird, so darf der Muskel und mit ihm der Studiokunde in tiefster Erschöpfung auf künftige Stärke hoffen. Während der Sünder der Vergebung nie ganz gewiss sein kann, zeigt die Maschine dem Kunden beim nächsten Besuch den Zuwachs gestemmter Pfunde exakt an.

Die meisten der Kunden hätten es strikt abgelehnt, ohne eine griffige Philosophie solch ein Institut für Muskelaufbau zu betreten und gar eine längerfristige vertragliche Bindung mit ihm einzugehen.

Kieser bietet seiner Zielgruppe voller Sendungsbewusstsein eine Philosophie, die mit wenigen Kernsätzen auskommt. Ihr vielleicht wichtigster ist: „Uns mangelt es nicht an Bewegung, uns fehlt der Widerstand“.

„Wo Unterdrückung ist, ist auch Widerstand“; „… wehrt euch, leistet Widerstand“ stachelten sich die Aktiven der 68er-Generation gegenseitig an, als sie gegen Atomkraft und staatliche Repressionen agitierten. Das war genau zu der Zeit, als Kieser seine „Systemzentrale“ in Zürich begründete. Nun wird die politische Behauptung von damals endlich medizinisch nachvollziehbar und bestätigt, dass nämlich Widerstand nicht nur moralisch geboten und gerechtfertigt, sondern auch gesund ist. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass tatsächlich viele der damaligen Widerständler bei Kieser trainieren, sich maschinell unterdrücken lassen in der Hoffnung, durch gute Kondition dereinst noch viele Jahre an den vermeintlichen Segnungen des Generationenvertrags partizipieren zu können.

Zum kommerziell effektiv durchorganisierten Widerstand gehört hier die ausgeprägte Bereitschaft, sich fortgesetzt und regelmäßig der Maschine zu unterwerfen; das ist Voraussetzung des erfolgreichen Trainings. Die Exerzitien sind regelmäßig ein- bis zweimal pro Woche auszuführen. Sie sind anstrengend und schmerzhaft. Wer das körperliche Glücksgefühl vergisst, das sich einstellt, wenn die Stunde der Qual absolviert, wenn das Opfer erbracht ist, wird versucht sein, den nächsten Besuch zu schwänzen und eben dadurch der Gemeinschaft der Leidenden möglicherweise auf Dauer verloren gehen. Die Abtrünnigen erklären ihr Abtauchen, ihren Rückfall in die Bequemlichkeit ungefragt und voller Schuldbewusstsein mit den windigsten Ausflüchten. Mitleidig und achselzuckend überlässt man sie ihrem unweigerlich bald beginnenden körperlichen Verfall, um sich selbst wieder rechtschaffen in die Zucht der Maschinen zu begeben.

Die meisten Kieser-Kunden sind ursprünglich völlig sportabstinent und haben die Trimm-Dich-Welle, die Aerobic-Euphorie, den Joggingwahn, die Tennismode, die Inline-Halbrnarathons und die massenvernichtenden Marathonquälereien mit leisem Spott abgewehrt. Sie untermauerten ihren Spott mit den Auslassungen von Theodor W. Adorno zum modernen Sport, der seiner Meinung nach versucht, „dem Leib einen Teil der Funktion zurückzugeben, welche ihm die Maschine entzogen hat … Er ähnelt den Leib tendenziell selber der Maschine an,“ Maschinenanhängsel zu werden lehnt natürlich jeder energisch ab, der nur einmal Charly Chaplins „Modern Times“ gesehen hat. Kieser aber bietet dieser Zielgruppe das „entsportlichte Krafttraining“ an, weiches das eigentlich dröge Stemmen von Maschinenteilen rational und pragmatisch legitimiert.

Seine MedX-Maschinen sind streng nach Muskelgruppen durchnumeriert von A1, A2, A3 bis H7. Jede Trainingsmaschine entspricht der EN 957, Teil 2, Klasse 5 und ist selbstverständlich vom TÜV abgenommen. Die Kundenkörper müssen sich bei Strafe von Verletzungen den Maschinen anpassen, deren Abfolge, Logik sowie den richtigen Übungstakt beachten: „Vorsicht, nicht in die Mechanik greifen“; „Bitte den Beinspreizhebel kontrolliert betätigen“. Kein Raum also zur individuellen Entfaltung, keine Möglichkeit zu glänzen, nirgends.

Der begehrenswerte, der erotische Körper verträgt eine solche Unterwerfung unter die Last der Maschine nicht. Der defiziente, der ältere Körper jedoch profitiert von ihr und setzt sich gelassen dem entzaubernden ärztlichen Blick aus, der obligatorisch auf ihn geworfen wird, ehe er immer wieder von neuem die Via Dolorosa von A1 aufsteigend bis H7 durchlaufen darf.

Diese Beschäftigung ist unerotisch, wenig romantisch und sieht von Fragen der Psyche völlig ab. Noch bis vor kurzem lasen diejenigen, die sich heute willig in den Maschinen krümmen, feinsinnige Bücher wie „Wenn Männer sich verheben“ von Tilman Spengler; in diesen Publikationen wird reflektiert, inwieweit Rückenbeschwerden eine Antwort auf Lebenskrisen seien und was psychoanalytische und andere Therapien dagegen bewirken.

Solche Ideen und Reflexionen werden dem Publikum in den Kieser-Betrieben schnell ausgetrieben. Die beschreiben sich grob materialistisch als „Produktionsstätten für Magermasse (Muskeln und Knochen)“. Die „Konzentration des Geistes auf den besonderen Muskel“, wie es der Urvater des Bodybuilding, Max Sick, nannte, heißt bei Kieser die „Seele der Muskeln“. Diesen Titel trägt auch eine seiner Kampfschriften, in der er die Konzentration auf die mechanische Muskelstärkung propagiert.

Seine Rückenschule lehrt das Krafttraining als ernstes Exerzitium jenseits aller Individualtherapien, esoterischer oder religiöser Begründungen. In den Übungsräumen ist zu Weihnachten keinerlei Dekoration zu sehen – weil sonst ja auch zu den Festen anderer Religionen geschmückt werden müsse, wie die „Hausnachrichten“ erläutern.

Der Zürcher Firmengründer bietet einen verweltlichten Calvinismus: Beide verbannen Zierat und Musik aus ihrer Kirche und gehen von der Grundannahme aus, dass die Errettung den freien Willen und die eigene Anstrengung voraussetzt.

Der „starke Rücken“, auf den die Werbung ausschließlich abzielt, obwohl tatsächlich alle Muskelgruppen trainiert werden, nutzt geschickt die einstige Hoffnung ihrer Zielgruppe, in aufrechtem Gang durch die Institutionen zu marschieren, um so die Welt zu verändern. Und – den Ärger derer, die sich ständig als rückgratlose Politiker und buckelnde Beamte beschimpft sehen.

„Wohl fühlen kann man sich woanders“, schreibt Kieser. Diese nüchterne Derbheit kommt den Meinungsführern und Leistungsträgern der schwäbischen, protestantisch geprägten Metropole sehr entgegen. Man arbeitet hierorts hart, bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit, und freut sich – wenn überhaupt – diskret über den Erfolg. Man genießt eigentlich nicht die Erholung, sondern die Entbehrung selbst: weil sie die Vision eines künftigen Überflusses ermöglicht.

Man gibt das Geld heute lieber nicht aus, damit man es übermorgen ausgeben kann. Man spart, man legt zurück, man investiert, am liebsten „ins Eigene“: ins eigene Haus oder – und das ist das Neue – in den eigenen Körper. Jede Trainingsstunde ist so eine kleine Investition, eine Spareinlage für gute Gesundheit, ein Opfer für ewiges Leben.

Die Atmosphäre im Muskelstudio ist dieselbe wie in einer gediegenen Sparkasse oder einer reformierten Kirche. In allen Einrichtungen sieht man wenig lachende oder gar glückliche Gesichter. Denn Sparen ist Entbehrung, der Gottesdienst ist Arbeit an sich selbst – wie das Schwitzen an Maschinen. Befriedigend ist, gespart, gebeichtet oder geschwitzt zu haben, sich dereinst am Kontoauszug oder an den Bauchmuskeln erfreuen zu können. Das Glücksgefühl besteht darin, den Faulpelz in sich und den Alterungsprozess wenn nicht besiegt, so doch aufgehalten zu haben.

Per aspera ad astra, kein Preis ohne Fleiß. Kiesers Trainingszentren sind ähnlich Schillers Theater moralische Anstalten der inneren Erbauung, in denen der Geist der Vorsorge sich seinen Körper schafft. Deshalb würden die Kunden des Rückenstudios – schon mangels Masse – niemals mit ihren erworbenen Bizepsen protzen oder konkurrieren wollen. Der Charme ihrer Physis ist eher metaphysischer Natur, ihr Muskeltraining ist ein massenhaft ausgeübter, aber okkulter Kult.

Pierre Bourdieu beschrieb die Hierarchisierung der Gesellschaft über die Teilhabe der einzelnen am kulturellen Kapital. Es scheint, dass die Kosten und Mühen der Modellierung des eigenen Körpers und die daraus erwachsende Reputation zunehmend gleichgesetzt werden mit kulturellem Kapital – beispielsweise mit dem Besuch einer Aufführung von Wagners „Ring“ in der Oper. Neben dem kulturellen Kapital spielt das körperkulturelle Kapital eine immer wichtigere Rolle, nicht länger nur in dessen sportlicher oder sexueller Bedeutung.

Friedrich Wolf, Arzt, Lebensreformer und Erfolgsschriftsteller der zwanziger Jahre, ließ sich gerne auf der Terrasse seines Stuttgarter Hauses – in strengem Bauhausstil gehalten – bei Körperübungen fotografieren. bei kalten Waschungen, bei gymnastischen Übungen und Muskelanspannungen. Sein kunstvoll athletisch ausgebildeter Körper war ein öffentlich gültiger Beleg richtiger Lebensführung und richtigen Denkens. Seine Konzepte gesunder Lebensführung und sozialer Gerechtigkeit propagierte Wolf in Vorträgen vor Arbeitern, an Volkshochschulen, in Broschüren und Büchern. Am populärsten wurde der Gesundheitsratgeber „Die Natur als Arzt und Helfer“. Sein ärztliches Engagement für die Unterschicht führte ihn geradewegs zur Utopie einer sozialistischen Gesellschaft.

Das gegenwärtige überaus breite Bedürfnis nach Modellierung des Körpers durch Biotechnologie, plastische Chirurgie, Anti-Aging oder eben Muskelaufbau befindet sich auf dem Weg vom Gesellschaftsentwurf für alle zurück zum Körperentwurf des einzelnen.

Utopisches Denken, das sich seither in der Kunst und politischen Entwürfen aufgehoben sah, verschiebt sich nach dem Scheitern gesellschaftlicher Utopien auf den Körper. Wenn dem so ist, muss man wohl begrüßen, dass sich die Utopie in den Muskeln und nicht im Magen niederlässt; dass es sich also offenbar um eine friedliche und gesundheitsfördernde Utopievariante handelt. Ob das der Gesellschaft auch künftig genug Utopie ist, wird sich zeigen.

Mitgliederzeitung Kulturgemeinschaft Stuttgart e.V. vom Juli 2003


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