Sep 122013
 

Das B-Lager bei Ahmednagar

An das A-Lager schließt sich das B-Lager an. Beide sind nur durch eine Straße voneinander getrennt. Auch das B-Lager ist von einem doppelten Stacheldrahtzaun umsponnen, aber hier waren die hohen eisernen Tore Tag und Nacht geöffnet. Keine Posten liefen zwischen den Stachelgehegen auf und ab. Die Insassen durften von vormittags sieben Uhr bis abends ½10 Uhr auf den ihnen zugewiesenen Straßen spazieren gehen und auf zwei nach Osten führenden Landstraßen Touren ins Freie machen, so weit wie sie nur wollten, vorausgesetzt, dass sie abends zur rechten Zeit, also ½10 Uhr wieder im Lager eintrafen.

Im B-Lager befanden sich durchweg bessergestellte Kriegsgefangene, wie Ingenieure, bemittelte Kaufleute, Schiffsoffiziere und Offiziere, die in Ostafrika gefangengenommen waren. Außerdem waren hier die aus dem A-Lager für die Bedienung Zugelassenen meistens Seeleute. Diese alle hatten den Engländern Parole gegeben, d. h. sich eidlich verpflichtet, im Laufe des gegenwärtigen Krieges nicht die Waffen gegen Großbritannien und dessen Verbündete zu erheben.

Die Missionare waren vom Zutritt ins Parolelager und den hier gewählten Privilegien ausgeschlossen. Gründe wurden für diese Zurücksetzung nicht angegeben. Die Bitten um Zulassung wurden einfach nicht beantwortet.  

Am Heiligabend 1914 las ich mit Erstaunen meinen Namen auf der Liste derer, die laut Lagerorder ins B-Lager versetzt werden sollten. Nach langem Warten auf der Kommandantur, wohin wir durch einen Sergeanten geführt wurden, kam auch ich endlich an die Reihe, vorgelassen zu werden. Der Adjutant erklärte mir aber, mit meinem Namen sei es ein Irrtum. Ich könne nur zur Abhaltung des vom B-Lager gewünschten Weihnachtsgottesdienstes zugelassen werden. Auf meine Frage, ob wir Missionare nicht auch ins Parolelager versetzt werden könnten, wurde ausweichend geantwortet. Ich bekam also nur einen für einige Stunden gültigen Pass.

Mehrere Wochen danach geschah es denn aber, dass Missionar H. von der Leipziger Mission und ich Erlaubnis erhielten, ins B-Lager zu ziehen. Für uns arme Gefangene war das ein großes Ereignis. An einem herrlichen Vormittage gegen Ende der kühlen Jahreszeit zogen wir hinaus in die – „Freiheit“. Der böse Stacheldraht lag hinter uns, aus der qualvollen staubigen, heißen Enge ging es hinein in die frische, klare Morgenluft. Wir wanderten unter grünen Bäumen einher, Fuhrwerke sausten an uns vorüber, dazwischen trippelten die stets laut schwatzenden Eingeborenen. Dann wieder lange Reihen einher schleichender Ochsenkarren, vorüber gleitender Kraftwagen, Engländer und Engländerinnen hoch zu Ross  bei ihrem Morgenritt.

Uns beiden wurde ein nettes Quartier zugewiesen. Inmitten der langgestreckten Kasernen für das Parolelager, die, wenn sie auch nicht regendicht waren, doch weit luftiger und höher sind als die Gebäude im A-Lager, befindet sich ein Wohnhaus, das in Friedenszeiten einem Feldwebel oder Quartiermeister mit Familie als Wohnung diente. In der Mitte liegt ein sehr geräumiges Zimmer, das an beiden Längsseiten Türen und Fenster hat. Links und rechts schließen sich Schlaf- und Baderäume an. Hier hausten wir mit zwei österreichischen Offizieren der Handelsflotte. Das große Mittelzimmer blieb frei von Betten und war gerade in den Monaten der heißen Jahreszeit, die wir hier zubrachten, ein angenehmer Aufenthaltsort. Vorne hatten wir auch eine Veranda, wo wir abends auf unseren Klappstühlen saßen.

Wir konnten jetzt also mit unserem Quartier zufrieden fein, aber gefangen waren wir auch hier, und die Sehnsucht nach Weib und Kind und nach unserer geliebten Missionsstation und Arbeit bedrückte Herz und Gemüt nach wie vor.

Bald nach unserem Einzüge hier beehrte uns ein Vertreter der Y.M.C.A (Christliche Vereinigung Junger Männer) mit seinem Besuche. Ausgehend von den unleugbaren Vorteilen unserer Einquartierung, die wir zugestehen mussten, schlängelte er sich an uns heran mit der Bitte, ihm das schriftlich zu geben. Er wollte schon dafür sorgen, dass der Zensor es durchlasse. Die Botschaft sei für eine sehr vornehme neutrale Dame in der Schweiz, eine große Missionsfreundin; die habe nämlich allerlei törichte Gerüchte über die unwürdige Einkerkerung der deutschen Missionare gehört und sei darob in ihrem Heizen sehr betrübt. Diese liebe Seele würde nun sehr getröstet werden, wenn sie von uns selbst hörte, wie gut es uns doch in Ahmednagar erginge. Ohne langes Besinnen erwiderten wir, wir seien gerne bereit, über die Behandlung der deutschen Missionare im Gefangenenlager einen schriftlichen Bericht zu erstatten. Selbstverständlich würden wir aber nicht nur unser nettes Häuschen, sondern auch die Blechbaracken im A-Lager und die Unterbringung von über hundert anderen Missionaren hinter dem Stacheldraht beschreiben. Aber es sei wohl sehr fraglich, ob der Zensor das durchlassen würde. Der Y.M.C.A.-Mann meinte auch, das könne man dem Zensor wohl nicht zumuten. Auch hätte es die Missionsfreundin schwerlich getröstet. Er verzichtete also auf unser Anerbieten ….

Von der uns erteilten Erlaubnis, Spaziergänge und Ausflüge zu machen, machten wir fleißigen Gebrauch.

Die Straßen der Stadt, die uns zur Verfügung standen, haben ein freundliches Aussehen; hier liegen die von netten Gärten umgebenen Bungalows (europäische Wohnhäuser) der Beamten und Offiziere. Gleich von hier aus kommt man ins Freie. Zunächst ist die Landstraße noch von schönen Bäumen beschattet. Wir gehen an der Rennbahn vorüber. Rechts kommt als letztes Haus die Pfarrwohnung des Militärgeistlichen, von Schattenbäumen und Rankengewächsen teilweise verhüllt. Jetzt hört der Baumwuchs auf, und eine Öde breitet sich vor unseren Blicken aus. Den größten Teil des Jahres liegen die kümmerlichen Felder grau und von der Sonne ausgebrannt vor uns. Es ist „gen Himmel schauendes“ Land ohne künstliche Bewässerung. Wehe, wenn der Regen in der Monsunzeit ausbleibt! Dann gibt’s Hungersnot – natürlich nur für die Eingeborenen.

Aber das Land ist nicht ganz flach, und die einige Kilometer vor uns aufsteigenden Berge geben der sonst so öden Landschaft einen angenehm wirkenden Abschluss. Das Ziel unserer Wanderung sind natürlich die vor uns liegenden Berge, namentlich ein weithin sichtbarer Turm, der, auf einer vorspringenden Anhöhe gelegen, gleichsam zum Besteigen einladet.

Plötzlich hat man einen Geländeeinschnitt vor sich, ein liebliches grünes Tal voller Leben und Farbenpracht tut sich vor uns auf, eine Oase in der Wüste. Ein überraschender angenehmer Wechsel. Breite Steinstufen führen zur Quelle hinab. Daneben steht auf hohen Granitsäulen eine gewölbte Halle, von einem reichen Mohammedaner zur Rast für den müden Wanderer errichtet. Plätschernd rieselt das Wasser über die Steine. Hunderte und Tausende von wilden Tauben girren in den Baumzweigen und Sträuchern und haben hier und im Gestrüpp an den Bergabhängen ihre Nester.

Von hier geht’s nun den Berg hinan auf steilem, gewundenem Pfade empor zum Turm, der jetzt, aus der Nähe betrachtet, als ein ganz bedeutendes mehrstöckiges Bauwerk im maurischen Stil mit geschweiften Rundbogen aus großen Granitquadern errichtet, vor uns steht. Es ist das Grabdenkmal eines mohammedanischen Heiligen, ein großartiger Bau mitten im wüsten, wilden Dschungel. Der diensteifrige Wächter führt uns durch eine prächtige hochgewölbte Eingangshalle hindurch, endlos scheinende Reihen von Stufen hinan, bis hinauf auf das flache Dach, wo man durch einen herrlichen Rundblick für die Mühe des Steigens reichlich belohnt wird.

Weiterhin in den Bergen erschauen wir von hier einen sehr hübschen, etwa fünf Kilometer langen und halb so breiten See, der durch eine Staumauer künstlich gebildet ist. Die Bewaldung um den Abfluss herum lockt uns. Nach mühsamer Wanderung auf einem von niederem Gestrüpp bedeckten Höhenrücken entlang erreichen wir das Ufer. Wieder erfreut uns der köstliche Schatten hoher Bäume, die man in Indien noch mehr als sonst lieben und schätzen gelernt hat.

Von der Staumauer stürzen wir uns in die kühle Flut und nehmen ein köstliches Bad. Dann wird abgekocht. Man liegt im grünen Grase unter schattigen Bäumen neben dem hochlodernden Lagerfeuer und denkt an die armen Kameraden im staubigen A-Lager. Wenn die doch auch einmal einen solchen Ausflug machen könnten! Man denkt an die fernen Lieben, an die daniederliegende Arbeit auf der Missionsstation, an die blutigen Kämpfe rings ums deutsche Vaterland und empfindet trotz der schönen friedlichen Umgebung die ganze Bitterkeit der Gefangenschaft. – Unter dem strahlenden Sternenhimmel geht’s dann ins Lager zurück.

Die größte Wohltat, die mir aber durch Gottes Güte im Parolelager zuteil ward, und wodurch mir das Schwere der Gefangenschaft am meisten erleichtert wurde, war der Umstand, dass es mir hier vergönnt war, abwechselnd mit dem anderen Missionar, regelmäßige Gottesdienste zu halten. Die geräumige Turnhalle stand uns hierfür zur Verfügung: die Zahl der Zuhörer war leider gering, aber die, welche kamen, waren treu im Besuche der Gottesdienste. Gottes Gnadenwort war uns eine Quelle des Trostes und der Freude mitten im Leid. Auch habe ich einige Missionsvorträge gehalten.