Sep 122013
 

Die Heimreise

Eines Tages erhielten alle Ärzte und ordinierten Missionare den Befehl, außerhalb des Lagers anzutreten, um photographiert zu werden. Das war eine große Freude, denn obwohl uns weiter keine Erklärung gegeben wurde, so wussten wir doch, dass die englische Behörde unsere Photographien für den Reisepass haben wollte. Dies geschah im Oktober 1915. Erst Ende März 1916 durften wir die langersehnte Heimreise antreten.

Auch von unseren Familien hörten wir, dass sie photographiert wurden. Sie sollten sich für die Abreise bereithalten. Wochen- und monatelang gingen Befehle und Gegenbefehle und noch vielmehr einander widersprechende Gerüchte hin und her. Unsere Frauen packten ihre Sachen und packten alles wieder aus. So ging es mehrere Male hintereinander. Einmal hieß es, sie sollten schon im Winter mit der „Golconda“ fort, dann hieß es, sie sollten ins Lager nach Bellary geschafft werden. Gottlob! wurden sie vor diesem Schicksal bewahrt. Ende März 1916 wurden wir mit unseren Lieben an Bord der „Golconda“ nach langer, schmerzlicher Trennung wieder vereinigt.

Auf dem Schiffe herrschte eine fürchterliche Enge, die sich von Südafrika ab noch verschlimmerte: denn in Kapstadt wurden noch gegen hundert Deutsche an Bord gebracht, so dass wir nun etwa 500 Reisende waren, während die „Golconda“ unter normalen Verhältnissen nur die Hälfte dieser Anzahl von Passagieren beförderte.

Durch Gottes große Güte hatten wir fast auf der ganzen Reise ruhiges Wetter, auch um die Südspitze Afrikas herum, wo die Schiffer meist schwere See findend Auch unmittelbar vor unserem Eintreffen dort wütete da ein Orkan, wie uns entgegenkommende Schiffe mitteilten; aber Gott der Herr glättete die Wogen vor uns her. The damned luck of the Germans („Das verfluchte Glück der Deutschen!“) meinte einer der englischen Offiziere. Wir aber priesen Gottes Barm« herzigkeit. Der allgemeine Ausbruch von Seekrankheit in den ganz engen Kabinen und noch fürchterlicheren, zu Kabinen umgebauten luft« und lichtleeren Laderäumen des Schiffes hätte ein grässliches Elend mit sich gebracht. Wir hatten aber während des Hauptteiles der Reise unter sehr großer Hitze zu leiden, die durch die große Enge vermehrt wurde. Durch besondere Fürsprache des englischen Arztes wurde mir und meiner Familie eine Kabine mit sechs Betten, drei unteren und drei oberen, zugewiesen. Es war ein ganz enger Raum, in den erst für uns Deutsche zu den ursprünglich vorhandenen vier Betten Noch das fünfte und sechste Bett hineingebaut war, und wir sind eine Familie von sieben Personen, Unser kleiner, erst nach Ausbruch des Krieges geborener Hans Werner beanspruchte ein Bett für sich allein. Das Kind war auf der Reise von Bombay bis St. Helena todkrank. Schon einen Monat, ehe meine Frau von Kodaikanal mit den Kindern abreiste, war er an amöbischer Dysenterie (chronischer Ruhr) erkrankt. Durch die Reise zu Lande und zu Wasser – meine Familie war auf der Reise von Kodaikanal nach Bombay vier Tage und vier Nächte unterwegs – hatte sich der Zustand des Kleinen zusehends verschlimmert; er litt schrecklich unter der Gluthitze in dem ganz engen Schiffsraum, siebzehn Emetineinspritzungen hatte er schon erhalten, da schien deren Wirkung ausbleiben zu wollen, und wir hatten schon ganz die Hoffnung aufgegeben, dass unser Liebling das Ende der Reise erleben würde. Da half uns der Herr in unserer Not und schenkte dem Kleinen wie mit einem Schlage völlige Genesung, als wir St. Helena verlassen hatten.

Indessen freundeten sich unsere anderen vier Kinder überall auf dem Schiffe an. An Gespielen fehlte es nicht, auch nicht an freundlichen Menschen, die sich mit den Kindern in sehr netter Weise beschäftigten. Die Jungen wurden in die Geheimnisse des Schachspiels eingeführt, erhielten auch von Bruder Williems und mir, soweit es in dem großen Gedränge und Getöse möglich war, einigen Unterricht. Da sie gut englisch sprechen, waren sie viel beim Kapitän, der ein sehr freundlicher Mann war; auch trieben sie sich viel auf dem Vorderdeck bei den englischen Soldaten herum, bei denen sie als Sportgenossen völlige Gleichberechtigung genossen.

Wie der Kapitän, so waren auch der englische Arzt, der Kommandant der Truppen, ein älterer Major, und mit einer geringen Ausnahme auch die übrigen Schiffsoffiziere durchaus entgegenkommende, ja. liebenswürdige Herren, die uns die Reise so angenehm zu machen suchten, wie es unter den sonst so misslichen Verhältnissen möglich war. So veranstalteten die Offiziere einmal ein großes Kinderfest, wozu sie viele Preise und sonstige Geschenke stifteten. Eine meiner Töchter erhielt ein großes Straußenei, und als sie, um sich zu bedanken, zum Kapitän ging, schrieb er zum Andenken seinen und des Schiffes Namen nebst Datum auf das große Ei. Der Major fungierte als Schiedsrichter bei den Wettspielen und gab sich auch sonst gern mit den Kindern ab.

Eine sehr unangenehme Sache war für mich, dass die Kisten mit unserem schweren Gepäck, die tief unten im Schiffsinnern auf der Manganerzladung (für Munition) verstaut waren, auseinanderfielen. Unsere meisten Habseligkeiten hatten wir natürlich in Indien zurücklassen müssen. Über die Dinge, die durch die Liebe anderer in Nagercoil für uns gepackt waren, war in unserer Abwesenheit auf einer Bahnstation die indische eingeborene Polizei hergefallen und hatte zu unserem Schaden sehr unter den Sachen gehaust. Nun löste sich infolge der schlechten Wiederverpackung alles in seine Teile auf, und viele Tage hatte ich tief unten im dunkeln Ladungsraum, der durch eine beständig versagende elektrische Lampe nur ganz notdürftig erhellt wurde, damit zu tun, alles aufs neue aus- und in die mit großer Mühe wiederhergestellten Kisten einzupacken. Schwarz wie ein Neger kam ich jeden Mittag wieder aus der Tiefe und konnte mich erst, nachdem ich mehrfach in einer Badewanne untergetaucht und frisch bekleidet war, unter den Mitreisenden sehen lassen.

Wir hatten eine angenehme und anständige Reisegesellschaft. Die meisten waren ja Missionare mit ihren Familien; außerdem waren da Ärzte, deutsche Frauen und Kinder von Kaufleuten aus Indien, die jetzt immer noch in Ahmednagar gefangen sitzen, einige Kranke und Leidende und eine bunt zusammengewürfelte Schar Deutscher aus dem Kaplande. Letztere reisten auf eigene Kosten. Sehr unangenehm fielen durch ihr widerwärtiges Benehmen und ihre leichtfertige Haltung den englischen Offizieren gegenüber ein paar Frauen auf, die dem deutschen Namen keine Ehre machten. Die sehr zahlreichen mitreisenden römischen Priester waren der Mehrzahl nach höflich und hilfsbereit. Einige von ihnen haben zum Nutzen der Gesamtheit beim Ordnen der Gepäckmassen, das während des letzten Teils der Reise andauernd schwere Arbeit erforderte, wertvolle Hilfe geleistet. Der Enge wegen konnte man ja nur sehr wenig Gepäck in der Kabine halten und musste doch bei der Reise durch die wechselnden Breiten der Erde häufig die Art der Bekleidung ändern, auch gab’s eine große Unordnung unter dem ganz schweren Gepäck tief unten, da alles neu gezeichnet und neu verstaut werden musste. Bei dem Unglück, das ich mit meinen eigenen Kisten hatte, war ich Zeuge der schweren Arbeit, die viele Priester und unverheiratete jüngere Herren anderer Missionen für die allein reisenden Damen, kinderreichen Familien und für die älteren und kranken Leute leisteten. Die gute deutsche Erziehung machte sich weitgehend geltend. Andererseits ist ja nichts unangenehmer als junge Leute, die angesichts der Notlage anderer kein Glied rühren und nur an die eigene Bequemlichkeit denken. Gute Sitte will anerzogen sein. Bei Christenleuten soll sie aus dem rechten Geiste kommen, auch irdisches Wissen und weltlicher Anstand soll auf dem Boden des Evangeliums stehen. Es ist aber schimpflich für Christenleute und ein schwerer Schaden für ihr Bekenntnis, wenn sie in äußerlich erkennbarer Wohlerzogenheit von Weltkindern übertroffen werden . … 

So sehr man sich freute, der Heimat näherzukommen, so war es doch in Wahrheit eine traurige Fahrt. Losgerissen von Amt und Beruf konnte man nur mit Wehmut an die unfreiwillig zurückgelassene Stationsarbeit in Indien denken. Und dies war nun schon die zweite Ladung der „Golconda“ die ganze Scharen von Missionsarbeitern dem Arbeitsgebiet entführte. Wahrlich, eine traurige Rückwärtsbewegung. entgegen dem Worte des Heilandes: „Gehet hin in alle Weltl“, eine Rückwärtsbewegungj wie sie in der Geschichte der protestantischen Mission noch nicht vorgekommen ist. …

In allem war es keine erquickliche Reise. Wir saßen in einem ganz alten unsicheren Kasten, von dem man sagte, er werde nur durch Rost und Farbe zusammengehalten. Unter uns und um uns die wilde Meereswüste, zuletzt kamen wir in die Kriegszone. Die Unterseebootgefahr wurde durch öffentlichen Anschlag bekanntgegeben. Das Schiff fuhr jetzt mit abgeblendeten Lichtern, alle Kabinenfenster mussten abends verhängt werden, und später in der Nacht durfte überhaupt kein Licht eingeschaltet werden. Die Rettungsboote wurden bis an die Brüstung heruntergelassen, jedem wurde ein Platz darin zugewiesen, Alarmübungen wurden vorher angesagt und vorgenommen. Die Frauen saßen in den Speisesälen und waren damit beschäftigt, die vorhandenen, viel zu großen Rettungsgürtel für die kleinen Kinder umzuarbeiten. Die eingeborene zahlreiche Besatzung gab auch ihre^ Unruhe zu erkennen. Sie sagten zwar: „Solange Sie mit an Bord sind, brauchen wir keinen Angriff zu fürchten, aber sobald Sie vom Schiffe sind, werden wir ganz sicher torpediert werden.“ So kam es auch. Als die „Golconda“ acht Tage nach der Landung wieder aus der Themse auslief, wurde sie prompt in den Grund gebohrt und hat ihre wertvolle Manganerzladung, die für die Herstellung von Munition bestimmt war, zum Glück nicht in einem anderen englischen Hafen abliefern können.

Herrlich war aber auf der ganzen Fahrt der allabendliche Anblick und die Beobachtung des gestirnten Himmels. In Indien sieht man das südliche Kreuz sich nicht hoch über den Horizont erheben, auf der Fahrt südwärts nach dem afrikanischen Kap stieg es jeden Abend höher und höher, bis es in Kapstadt fast im Zenit stand. Dann ging die Fahrt wieder über St. Helena nordwärts dem Äquator zu. Wunderbar leuchtete das Kreuz, das große klare Sternbild des Skorpions und das des Orion. Nun mussten auch die nördlichen Gestirne eins nach dem anderen wieder zum Vorschein kommen.

Auch die in den Breiten wechselnde Stellung der Mondsichel bietet eine wunderbare Beobachtung. Auf der südlichen Halbkugel steht die Sichel „anders herum“, zwischen den Wendekreisen liegt der Mond auf dem Rücken.

In den Tropen lebt man in viel intimeren Verkehr mit dem Mond und den Sternen als hier in den kalten nordischen Nächten, während man dort die Sonne und ihre Strahlen nach Möglichkeit meidet. Die Wunder der Sternenwelt preisen die Schöpferherrlichkeit Gottes. Wer nur die Augen öffnet, sieht’s mit Staunen.

Im Kanal umfing uns dichter Nebel, man sah von hinten kaum das Vorderteil des Schiffes. Gottes Hand schützte uns auch in dieser Gefahr. In der Nähe von Dover mussten wir fast einen ganzen Tag stilliegen. Viele Wacht- und Torpedoboote glitten hin und her, dann und wann tauchte unter einem Gebirge von Rauch ein größerer Kreuzer auf. Wir fuhren jetzt mit einem ganzen Schwarm von Schiffen in einerr eng begrenzten, genau vorgeschriebenen Fahrrinne. Hier und da ragten Teile versenkter Dampfer aus dem Wasser hervor. Zur Zeit der Ebbe sollte man in der Gegend der Themsemündung damals sogar 50 bis 60 Stück liegen sehen. Am 16. Mai warf unser Schiff bei Til« bury in der Themse Anker. …