Sep 122013
 

In London

Als wir zwischen Gravesend und Tilbury mitten auf der Themse vor Anker lagen, waren wir alle sehr frohen Mutes. Unsere mit Photographien versehenen Reisepässe wurden uns zugestellt, und in unserer Mitte wurde die Frage lebhaft erörtert, in welcher Weise wir nun wohl nach Holland hinüberbefördert würden.

Da traf uns wie ein Donnerschlag die Ankündigung: „Alle Männer ohne Ausnahme werden in London zurückbehalten, nur die Frauen und Kinder können weiterreisen.“

Alle Familienväter hatten natürlich ihre Sachen mit denen ihrer Familienglieder verpackt; alles, bis auf ganz wenig Handgepäck, soviel jeder selbst tragen konnte, war im Schiffe verstaut. Wie viel sollten wir nun für uns selbst mitnehmen? Es herrschte eine große Enttäuschung und Verwirrung an Bord. Nur wenige Minuten standen uns zur Verfügung. Der Kapitän machte sich unsichtbar. Der Major und der Doktor sagten: „Das ist eine dumme Einrichtung (foolish arrangement); es handelt sich aber sicher nur um, drei oder vier Tage, in denen Ihre Papiere geprüft weiden sollen. Weiter wissen wir auch nichts.“

Es war frühmorgens gegen zehn Uhr, als ein Dampffährboot neben der „Golconda“ anlegte. Bald standen wir, etwa zweihundert Mann, jeder mit einer kleinen Reisetasche in der Hand, dichtgedrängt auf dem Deck der Fähre, mit unseren über die Brüstung des Ozeandampfers herab« schauenden Frauen und Kindern die letzten Abschiedsgrüße austauschend. Dann setzte sich die Fähre in Bewegung, und unter den brausenden Klängen des hüben und drüben gemeinsam angestimmten Liedes „Deutschland, Deutschland über alles“ fuhren wir nach Tilbury hinüber.

Eine kurze Bahnfahrt mit der gewohnten militärischen Eskorte brachte uns vor die Tore des Alexandra-Palastes, der im Norden von London auf einem Hügel erbaut worden ist. Es ist ein gewaltiges, für Vergnügungs- und Unterhaltungszwecke aller Art errichtetes Gebäude, bestehend aus riesigen Hallen für Ausstellungen, Konzerte, Theater, Eislauf u. dgl. Ein Palmhaus, eine Reitbahn, japanische Pavillons, Restaurationssäle und vieles andere befinden sich innerhalb der Mauern des Riesenpalastes. Ringsum ziehen sich Parkanlagen bis zum Fuße des Hügels hinunter, von denen ein Teil für den Aufenthalt der Gefangenen mit Stacheldrahtgehegen umgrenzt ist. Oben hat man einen weiten Blick über das nördliche London und kann bei klarem Wetter die Türme von St. Paul und Westminster und die hohen Essen des Arsenals von Woolwich sehen.

Dies soll das beste englische Gefangenenlager sein. Dreitausend deutsche Zivilgefangene sind hier interniert, und nach allem, was man von anderen Lagern hört, namentlich von dem Lager auf der Insel Man, wo 30.000 männliche Zivilpersonen ein sehr trauriges Los haben, ist es hier weit erträglicher als anderswo.

Mit Bruder Williems und den Breklumer und Leipziger Missionaren kam ich in die gewaltige Zentralhalle, in der etwa tausend Betten standen, eines dicht neben dem anderen, so dass man gerade noch Platz hatte, einen Koffer oder ein Kistchen für die notwendigsten Lebensbedürfnisse daneben zu stellen. So war auch hier eine große Enge und ein fürchterliches Gedränge drinnen und auch draußen auf den Parkwegen, wo wir wehmütig die Maienpracht der Natur betrachteten, auf deren Genuss im Vaterlande wir uns so sehr gefreut hatten.

Bald wurden wir draußen auf einem freien Platze dem Kommandanten vorgestellt, der uns zunächst ganz höflich begrüßte. Aber anstatt der schmerzlich erwarteten Aufklärung über unsere Lage hielt er uns in feierlicher Rede die Vorzüge des Lagers und die Lagerordnungen vor. Namentlich erging er sich ausführlich über das Laster des Rauchens, das er durch verschiedene Bestimmungen auf ein Mindestmaß eingeschränkt habe, am liebsten aber ganz abgeschafft hätte. Er entwickelte einen geradezu religiösen Fanatismus gegen den Tabak, und mit entsprechenden Strafandrohungen wurden wir entlassen.

Wir waren empört und schickten ein Komitee von einigen Herren zum Kommandanten, die unsere Ansprüche auf Heimsendung nach Deutschland geltend machen sollten. Der alte Herr sagte: „Das ist nicht meine Sache. Ich habe hier einfach alle einzusperren, die mir ins Lager geschickt werden. Aber schreiben Sie mir alle Ihre Wünsche auf; ich werde das dann an die Militärbehörde weitergelangen lassen.“ Das geschah; aber Tage und Wochen gingen hin, ehe man hörte, was weiter geschehen würde.

Vielleicht wussten die Zeitungen mehr, die von unserer Ankunft auch Notiz nahmen. Richtig, da war zu lesen: „Der zweite Schub deutscher Ärzte und Missionare ist mit der ‚Golconda‘ aus Indien angelangt und ist zunächst in London interniert worden.“ Darüber zu unserer Begrüßung die fettgedruckte Überschrift: „The combings of India.“ Comb heißt auf deutsch: Kamm. Combing ist das, was nach Benutzung eines Kammes drin stecken bleibt. Nach diesem nicht gerade appetitlichen, aber für den englischen Patriotismus doch herzerhebenden Vergleich waren wir also das Ungeziefer, von dem Indien nunmehr glücklich gesäubert war. „Indien wieder ein reines Land!“ Jetzt, nach Ausweisung der christlichen Missionare! In der Tat, die englische Frömmigkeit treibt in diesem Kriege eigenartige Blüten.

Aber was sollte nun mit uns geschehen? Die Zeitung wusste es: „Diese neue Schiffsladung von Hunnen soll nun, nachdem die Hunnenweiber und -kinder (infant huns) bereits über Holland nach Deutschland weitergeschickt worden sind, hier gründlich untersucht werden, gründlicher als nach der ersten Golcondafahrt, damit durch ihre Rücksendung die deutsche Armee keine Verstärkung erfährt.“ Nun sollten wir auch noch „ausgekämmt“ werden, damit auch ja kein Heeresdienst-Pflichtiger mit durchschlüpfte.

Nach einiger Zeit wurde uns offiziell mitgeteilt, unsere Dokumente sollten sorgfältig geprüft werden, vor allen Dingen also die Ordinationsscheine. Die sollten zur Heimreise berechtigen. Nun ist es einem englischen Beamten vielmehr darum zu tun, seine Bürostunden abzukürzen, als deutsche Dokumente durchzuwurzeln. Das ist jedem Engländer etwas Grässliches. Unser Beamter, den wir nie zu sehen bekamen, und der nie eins unserer Dokumente zu sehen bekam, machte sich’s also bequem. Er ließ Fragebogen unter uns verteilen, auf denen wir folgendes zu beantworten hatten: 1. Name und Alter. 2. Haben Sie Anspruch auf Heimsendung? 3. Begründung Ihres Anspruches.  4. Haben Sie dokumentarische Beweise für Ihren Anspruch? Verabredetermaßen antworteten wir ganz kurz auf Nr. 2: „Ja“, auf Nr. 3: „Ordinierter Geistlicher“, auf Nr. 4: „Ja“.

So machten wir dem Beamten nicht viel Mühe. Alles glatt und übersichtlich, bis auf die Zettel einiger römischer Priester, die es mit Angabe besonderer Titel und Würden besonders gut hatten machen wollen. So schrieb einer, er sei sogar „Militärgeistlicher in Indien“ gewesen. „Aha,“ dachte der Beamte, „da müssen wir erst mal bei der indischen Behörde nachfragen.“ Ein anderer nannte sich „Archidiakonus“. So etwas kannte der Beamte nicht. Auch dieses so ausgefüllte Formular und noch ein ähnliches wurde als „verdächtig“ zurückgelegt. Dann hieß es: „Alles geprüft und in Ordnung befunden, bis auf drei Priester, die zurückzuhalten sind.“ Dann wurden wir alle, mit Ausnahme jener drei unglücklichen Würdenträger, ins Durchgangslager nach Stratford gebracht.

Bis es dahin kam, war ich mit meinen Leidensgenossen drei Wochen im Alexandra-Palaste. Über das eintönige Lagerleben daselbst ist nicht viel zu belichten. …

Zuletzt waren wir noch eine Woche in Stratford, einer zum östlichen London gehörenden Fabrikstadt. Wir wurden in einer schmutzigen Fabrikhalle untergebracht. Mit dem schönen Wetter war es auch vorbei, der kalte Sommer von 1916 hatte nach den schönen Maientagen auch in England seinen Anfang genommen. Bei trübem Wetter mussten wir uns oft stundenlang auf einem von Fabrikmauern umgebenen Hofe aufhalten. Nicht ein einziger Baum, nicht ein einziges grünes Blatt war zu sehen. Wir dankten Gott aus vollem Heizen, als wir nach mehrfacher gründlicher Durchsuchung alles dessen, was wir im Koffer und auf dem Leibe bei uns trugen, aus diesem „Fegfeuer“ entlassen und endlich an Bord des holländischen Dampfers „Königin Wilhelmina“ gebracht wurden. Unter Gottes gnädigem Schütze landeten wir am 17. Juni in Vlissingen, wo ein Zug für uns bereit stand, der uns an die deutsche Grenzstadt Goch brachte. Hier wurden wir von Herrn Oberleutnant Werk und seinen Leuten sehr freundlich empfangen und durften am folgenden Tage ein jeder seinem Heimatsorte zureisen. … 

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