Dez 202013
 

Am Rand die Mitte suchen

Von Pfarrer Dr. Willibald Jacob
* 26. Januar 1932   † 3. Juli 2019


Überblick

Familiengeschichte(n), Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Kirche und Staat am Ende des Konstantinischen Zeitalters. Der Autor erzählt, was ihm überliefert wurde und was er selbst erlebt hat bis zum Jahre 1966. Briefe an Kinder und Enkel, an Kollegen und Debattengegner, Dokumente der Zeitgeschichte nehmen bis 2012 kommende Situationen vorweg. Ab 1968 war Willibald Jacob Werktätiger in der Strasseninstandhaltung der DDR, BGL-Vorsitzender seines Betriebes, anschliessend Dozent für Evangelische Sozialethik bei der indischen Gossnerkirche, vorher Promotion zum Thema Eigentum und Arbeit als Themen theologischer Kinder und Enkel, an Kollegen und Debattengegner, Dokumente der Zeitgeschichte nehmen bis 2012 kommende Situationen vorweg.

Kriegs- und Nachkriegszeit eines Heranwachsenden, der später in seinen kirchlichen Diensten radikale reformorientierte Positionen vertritt. Die Leitfrage: Was sollen wir tun, nach allem, was geschehen ist? Höhepunkte: Das Jahr 1945, die Rückkehr in die DDR, der 17. Juni 1953, Stalinallee, der Judenfriedhof und Niemöller in Treuenbrietzen, der Theologe als Werktätiger. Begegnungen: Horst Symanowski und Helmut Lüdecke.

Ein Buch, das die nächste Generation informieren und orientieren möchte.

Ab 1968 war Willibald Jacob Werktätiger in der Strasseninstandhaltung der DDR, BGL-Vorsitzender seines Betriebes, anschliessend Dozent für Evangelische Sozialethik bei der indischen Gossnerkirche, vorher Promotion zum Thema Eigentum und Arbeit als Themen theologischer Ethik, Debrecen 1984, von 1989 bis 1992 in seiner letzten Pfarrstelle in Hohenbruch bei Oranienburg, danach Unterstützer der Initiative ostdeutscher Betriebs- und Personalräte, von 1994 bis 1998 Bundestagsabgeordneter für die PDS und ab 1992 Mitinitiator von Handwerkerausbildung in indischen Dörfern.


Inhalt

Vorwort

1. Am Stadtrand

1.2 Der Drang nach Berlin – um 1900
1.3 Die Generationen der Jahrhundertwende
1.4 Die Eltern
1.5 Am Stadtrand
1.6 Nachbarn erinnern sich
1.7 Heinz Mennecke – Nachbar in sieben Jahrzehnten

2. Das Haus – der Krieg

2.1 Das Haus – 1936–41
2.2 „Die Klänge Deiner Trompete …“ – Brief an Jonas, 24.12.2000
2.3 Der Krieg – 1939–45
2.4 „Weisst Du noch …“ – Brief an Ute, 1.11.2001
2.5 Schulen im Krieg – und kurz danach
2.6 Die Munitionskiste – Gablonz an der Neisse 1944–45
2.7 Exkurs: Manfred Lieberwirth – Die letzten Tage in Buchenwald

3. Befreiung oder Zusammenbruch

3.1 Die Befreiung
3.2 Die Nord-Ost-Passage
3.3 Wie hältst Du es mit dem Glauben?
3.4 „Während ich zurückblicke …“ – Brief an Julia, 31.12.2001
3.5 Gemeinde und Schule
3.6 Grenzgänger 1948–49

4. Im „Raum der Kirche“

4.1 Der Jude Jesus, die Schrift und das Konstantinische Zeitalter
4.2 Nochmals: Am Stadtrand
4.3 „Menschen sind es, die den Krieg „beginnen“ – Berlin- Weissensee 1950
4.4 Intermezzo in Neinstedt: Zeit ist Geld oder …? 1950 – 51
4.5 Ein unbekanntes Wort vom Juli 1945
4.6 Vom Grenzgänger zum Grenzlandbewohner – 1951 – 53
4.7 Horst Dzubba: „Als 1938 die Synagogen brannten …“
4.8 Die Wolke der Zeugen-Bastion gegen den Idealismus
4.9 Mission im eigenen Land? – Briesen in der Mark 1952
4.10 Praktikumsbericht eines Zwanzigjährigen – 17. April bis 26. Oktober 1952

5. Auf der Grenze

5.1  Der 17. Juni 1953
5.2  „… und dann wird das Ende kommen“
5.3  Am Fusse des Leuchtturms … – Wittenberg 1954–55
5.4  Jugendaufbaulager in Mainz
5.5  Familiengründung im Keller

6. Unterwegs

6.1  Stalinallee 1955 – 59
6.2  Hans Forster
6.3  Die Karl-Marx-Buchhandlung
6.4  Sinnlos – Unvornehm – Unchristlich
6.5  Kreuth am Tegernsee, Mainz-Kastell, Berlin-Ost
6.6  Status confessionis!?
6.7  Die Entdeckung der Arbeitswelt in der DDR – Eigentumsfrage und Arbeiterpriester – Günter Kuhn – Industriepraktika – Zweiter Bildungsweg – keine Ausnahme – Arbeit auf dem Lande – Gruppen in die Industrie?

7. Rand und Mitte der Gemeinde

7.1  „Gestern Nacht …“ – Brief an Martin, 3.10.2004
7.2  Niebel – Die Veränderung eines Dorfes
7.3  Die Frucht der Lehrjahre
7.4  Auf der Suche nach der wahren Kirche – und nach   Israel
7.5  Die unerledigte Aufgabe
7.6  Rand und Mitte der Gemeinde – Besuche – Wahlen – Lektoren
– Konfirmation – Wehrdienst – Taufe – Kirchensteuern
7.7 Gottes geliebte Ostzone – Das Ende der Obrigkeit – und dennoch Obrigkeit
7.8 Martin Niemöller in Treuenbrietzen (26.7.1961)
7.9 Ökumene und Mission
7.10 Die Dienstgruppe
7.11 Der Übergang

Anstelle eines Nachwortes

„… der gestrige Abend …“ – Brief an Titus vom 24. Juni 2012

Begleitende Literatur und Quellen

Anhänge

1.  Die Strukturveränderung des Dorfes – Fragen an die Gemeinde heute
2.  Christ und Krieg. Von Kirchenpräsident D. Martin Niemöller
3.  Helmut Lüdecke, Bericht an die Kirchenleitung 1966
4.  Arbeit – Geld – Kirche. Das Kirchensteuersystem in der DDR


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ISBN 978-3-933022-80-6
457 Seiten, zahlreiche, tw. farbige Bilder, kart., 30 €
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Leseprobe

6.7 Die Entdeckung der Arbeitswelt in der DDR

Eigentumsfrage und Arbeiterpriester

Nach allen Seiten halten wir Kontakt, jeder/jede Einzelne von uns und die Stalinallee-Gruppe als ganze; Besuche, Gespräche, Tagungen bei der Ev. Akademie und der Gossner Mission, Unterwegskreis, Bücher, Studium, Synoden, Besuche von Vikaren, Praktikanten und ausländischen Gästen bei uns; und immer wieder das Kennenlernen neuer Menschen bei den Besuchen in der Allee. Es ist eine Zeit grosser Aufmerksamkeit. Es ist fast körperlich zu spüren, wie sich die Gesellschaft verändert, wie sich Arbeits- und Lebensbedingungen verändern. Dabei schiebt sich die Eigentumsfrage in den Vordergrund. Das Wort von dem „gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln“ ist nicht mehr nur ein Schlagwort aus der Literatur oder von Funktionären. Wir begegnen kaum mehr jemandem, der sagen kann: Dieser Betrieb gehört mir. Nach der Enteignung der Grossbetriebe durch die sowjetische Besatzungsmacht hat die Sozialisierung von Privatbetrieben enorm zugenommen. In meiner Strasse, der Feldtmannstrasse, kenne ich den SMAD-Betrieb, jetzt VEB NILES, umbenannt in „7. Oktober-Werkzeugmaschinenwerk“ (VEB WMW), einige Handwerker und die – wie wir sagen – Kaufmannsläden von Frau Wocher und Frau Templin. Wenn die Frühjahrs- und Herbststürme aus dem Westen in schöner Regelmässigkeit die Dachziegel von unserem Giebel geholt haben, schickt „Frau Jahnke“ aus der Falkenberger Strasse ihre Dachdecker; drei Mann hat sie. Und sie klagt mir oftmals ihren Kummer, dass sie nicht mehr Arbeiter einstellen dürfe. Der „Kohlenfritze“, der Siedlerbedarf und der Maurermeister vom Stadtrand sind privat und natürlich die Weissenseer Ladenbäcker (die eine Macht sind, wie ich später erfahren sollte). Wen wir in der Allee antreffen, arbeitet in volkseigenen oder  Staatsbetrieben, Behörden oder gesellschaftlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Schulen oder den Berliner Verkehrsbetrieben (BVB). Die Aktiengesellschaft BVG (Berliner Verkehrsgesellschaft) war umgewandelt worden in einen „Betrieb“. Wer „meine Firma“ sagte, kommt aus der anderen Himmelsrichtung; wer hier zu Hause ist, spricht vom „Betrieb“, sagt auch mal „mein Betrieb“ oder sogar „unser Betrieb“.

Die Aufmerksamkeit für die betriebliche Welt hat in meiner Umgebung enorm zugenommen; Gerhard Fuchs, Hans Forster und Heinz Rauch kommen aus „Betrieben“. Späterhin geht Eva Richter zur BVG und wird Strassenbahnschaffnerin. Nach Feierabend hilft sie Hans Forster bei der Arbeit mit den Familien.

Ich habe die Dokumentation über den Weg der Arbeiterpriester in Frankreich gelesen [1], dann das Buch von Cesbron „Die Heiligen gehen in die Hölle“, 1954 [2]. Christen erfahren eine andere Welt. Warum ist das so? Warum kennen sie diese „andere Welt“ nicht? Was hängt daran? Was hängt an dieser Trennung, an dieser Spaltung in Sakral und Säkular? Dass die Krisen und Katastrophen dieses 20. Jahrhunderts mit dieser Spaltung zusammenhängen, scheint klar zu sein. Aber wie das Ganze fassen und verstehen und wie darauf reagieren? Was tun?

Günter Kuhn

In Absprache mit dem Industrie- und Sozialpfarramt von Harald Poelschau [3] in Berlin-Charlottenburg begann schon im Sommer 1951 Günter Kuhn im „7. Oktober“ als Transportarbeiter. Ich höre, dass er ab und an in der Weissenseer Pfarrkirche predigen soll. Interessant! Doch ehe ich mit ihm Kontakt aufnehmen kann, ist er wieder entlassen und verschwindet aus meinem Gesichtskreis (wenig später wird er Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Soziologie und Theologie und später Superintendent des Kirchenkreises Fürstenwalde). Was war geschehen? Die Betriebsleitung und damit der Staat, hatten realisiert, wen sie eingestellt hatten. Einen Pfarrer in einem Leitbetrieb der volkseigenen Industrie? Die Geschichte von Kirche und Arbeiterbewegung in Preussen war nicht dazu angetan, dass solch ein Schritt ohne Missverständnisse abgehen konnte. Und die DDR hatte reagiert. Die „grosse Welt“ war in meine kleine Strasse eingedrungen. Die grosse Werkhalle des „7. Oktober“ mit einem einmaligen Spannbetondach steht an meinem alten Schulweg. Und Günter Kuhn war das Opfer. Wir diskutierten die Situation, wie wir sie verstanden, in der Stalinallee. Ich wunderte mich über die Naivität und Kurzatmigkeit der Brüder. Hatte wirklich jemand an den Erfolg dieses Schrittes an dieser Stelle geglaubt? Und: Wenn man perspektivisch dachte, warum beginnt dann Günter Kuhn nicht in einem anderen Betrieb, einem Betrieb anderer Art? Um welches Prinzip geht es hier? Die Frage muss unbeantwortet bleiben. Ich ahne, dass nur eine lange Geschichte in Zukunft zeigen wird, wie wir und wie die Sozialisten es meinen mit dem Aufbau eines neuen Vertrauens unter Menschen bei der Arbeit und in wirtschaftlichen Zusammenhängen.

Heinz Mennecke, mein Grundstücksnachbar und Dreher im „7. Oktober“, erzählte mir 40 Jahre später (1995): „Wir wussten nicht, warum dieser Kollege plötzlich da war. Es wurde erzählt, er sei Pfarrer. Ich war damals Mitglied der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) und verantwortlich für die Versorgung der etwa 1 500 Kolleginnen und Kollegen, d. h. für die Kantine. Uns wurde von der Betriebsleitung gesagt, irgendwer wolle jetzt Religion in den Betrieb pumpen‘. Ich habe nie verstanden, was das Ganze sollte. Er wurde ja auch bald entlassen. Und ich muss Dir sagen, ich habe auch nicht verstanden, warum Du in den 70er Jahren im Strassenwesen gearbeitet hast. Erst jetzt, nachdem wir einiges erlebt haben und wir uns unterhalten konnten, beginne ich zu verstehen. „

Günter Kuhn gründet später die AST und wird deren Vorsitzender. Viele meiner Bekannten und Freunde vertiefen sich dort in soziologische Fragestellungen, um das gesellschaftliche Geschehen besser erfassen zu können.

Auf der Synode in Espelkamp im Jahre 1955 werden zwei Sichtweisen vorgetragen; durch Eberhard Müller die „von oben“. Er plädiert für eine Rolle der Kirche zwischen den Tarifpartnern, für die Bildung und Stärkung von evangelischen Arbeitnehmerorganisationen, für evangelische Akademien als Orte des Gespräches zwischen Kirche, Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften und für den neuen Berufsstand der Sozialsekretäre und Industriepfarrer.

Horst Symanowski vertritt die Sicht „von unten“ [4]. Er fragt nach der Präsenz der christlichen Gemeinden in allen Lebensbereichen, nach der Qualität einer christlichen Existenz im Betrieb. Bei ihm läuft alles darauf hinaus, dass sich die Gemeinde unten ändert – und dann gewiss auch die da oben. Sie soll sich aber nicht zum Verhandlungspartner mutieren, sondern zum Lebenspartner. Auf ihrem Tisch soll nicht nur Brot und Wein stehen, sondern dort sollen alle Probleme des Menschen liegen, auch die aus dem Betrieb; egal wo und wie sich diese Gemeinde zusammenfindet.

Mir scheint, Eberhard Müllers Konzept ist nur für den Westen geeignet, Symanowskis durchaus auch für den Osten. Bei Müller ist die Kirche sofort ein Machtfaktor, bei Symanowski der Ohnmachts-faktor, der dem Evangelium von dem Mann am Kreuz entspricht.

Ein weiteres Stichwort von Espelkamp bleibt bei mir hängen. Bischof Hans Lilje aus Hannover hinterfragt die „Eigengesetzlichkeit“ der Wirtschaft. Wem untersteht das wirtschaftliche Handeln, wenn es seine Eigenständigkeit gegenüber Staat und Gesellschaft behauptet? Eine Fragestellung, die mich nicht mehr loslässt.

Industriepraktika

Nach Kontakten mit Horst Symanowski und Harald Poelschau beginnen weitere Theologen mit der Arbeit in Betrieben: Martin Ziegler (1955-56) und Helmut Hartmann (1957-58), Gottfried Kunzen-dorf und Hartmut Grünbaum (1955). Wenn sie in einem Betrieb Schwierigkeiten bekommen, gehen sie in einen anderen. Sie geben nicht auf. Ihre kurzzeitige, höchstens einjährige, von ihnen selbst begrenzte Betriebsarbeit als Hilfsarbeiter betrachten sie als „Industriepraktikum“ in der Hoffnung, einst bessere und verständnisvollere Pfarrer in Industriegemeinden sein zu können. Vielleicht hat diese „Lehrzeit“ geholfen, dass Martin Ziegler seine Funktion am zentralen Runden Tisch 1989ff so ausfüllen konnte, wie er es getan hat.

Bruno Müller geht zwischen Abitur und Theologiestudium ein Jahr lang in die Produktion, wohldurchdacht. Wer heute, 2003, fragt, wie junge Menschen damals auf solche Ideen kamen, so kann die Antwort nur lauten: Es lag in der Luft. Wer Kontakt hatte zu den Jungen Gemeinden dieser Tage, wer nach dem Evangelium von Jesus Christus fragte, der suchte gleichzeitig nach einem stärkeren Realitätsbezug und -sinn, der wollte wissen, wo sein Platz in der Gesellschaft ist [5].

Für mein Empfinden und Verständnis bahnt sich hier eine Selbstverständlichkeit an, die es früher nicht gegeben hat und die das Selbstverständnis des kirchlichen Mitarbeiters verändert. Die Welt des arbeitenden Menschen bleibt ihm nicht fremd. Wenn er im Umgang mit Menschen dazulernt, dann eben nicht nur im einseitigen Umgang mit Gemeindegliedern, die den „Herrn Pfarrer“ erleben wollen oder deren Meinung umschlägt, wenn sie von ihrem Idol enttäuscht werden. Im Betrieb lernt der Theologe oder Pfarrer, dass er auch nur ein Mensch ist; und die anderen geben es ihm zu verstehen.

Zweiter Bildungsweg – keine Ausnahme

Ich erinnere mich an das Jahr am Paulinum (1953 – 54). Die Studenten kamen aus praktischen Berufen. Und auch ihre pietistische Konzentration auf „die Verkündigung des Reiches Gottes“ liess sie in der Regel nicht vergessen, wo sie hergekommen waren. Sie brachten den Sinn für das praktische Leben mit in die Gemeinden. Sie wussten etwas von der Würde des arbeitenden Menschen. Wenn auch unreflektiert, waren und sind sie Kinder der „Arbeitsgesellschaft par excellence“. Das „Bete und Arbeite“ ist für sie selbstverständlich. Viele Gemeinden, gerade Landgemeinden, blühen unter ihrer Hand auf; Pfarrer, die den Nagel in die Wand bekommen.

Arbeit auf dem Lande

Auf dem Lande tut sich noch etwas anderes. Im Osthavelland, in einem weitgestreckten Wiesen- und Ackergelände zwischen Kiefernwäldern liegt das Streudorf Hohenbruch. Einzelhöfe überall, die kleine Kirche im reformierten Stil auf einem Sandhügel. Die Kirchengemeinde ist Filiale von Sachsenhausen bei Oranienburg. Ihr Pfarrer während der Nazizeit heisst Kurt Scharf. Nach dem Krieg wird die kleine Gemeinde selbständig. Ihr erster Pfarrer wird Hartmut Grüber, zugleich Kreisjugendpfarrer im Kirchenkreis Oranienburg. Es beginnt eine evangelische Landjugendarbeit, die den veränderten Bedingungen im entstehenden Industriedorf gerecht zu werden versucht. Im Kontakt mit dieser „Arbeit auf dem Lande“ sehe ich Martin Richter wieder; später lerne ich Helmut Lüdecke, Eva-Maria Stachat, den Landwirt und Diakon Werner Seidel, den Diplomlandwirt Jochen Welk kennen, wichtige Partner für mich und mein Verständnis von menschlicher Existenz in der Gesellschaft der DDR Ihre Dorfgesprächsabende, ihr Ernstnehmen des Menschen in neuen Berufen der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften – LPG – haben mich sehr beeindruckt.

Gruppen in die Industrie?

So ist die Arbeit in der Stalinallee nicht nur eine Tiefenbohrung in gesellschaftliche und kirchliche Verhältnisse in Berlin-Ost. Sie ist auch ein Aussichtsturm; wir haben Kontakt nach allen Seiten, wir sehen und hören, wo Christen und Christinnen gewillt sind, sich den neuen Herausforderungen zu stellen [6]. Eines Tages meldet sich bei uns eine junge Theologin von der Humboldt-Universität. Sie möchte mit uns Familien besuchen. Sie heisst Ruth Hinz {nachmals Ruth Priese). An der Humboldt-Universität hat sich im Rahmen der Berliner Studentengemeinde eine Gruppe von mehr als zehn Studenten gebildet, die die Entwicklung in Kirche und Gesellschaft aufmerksam verfolgt. Zu ihr gehören ausser Ruth Hinz u. a. Wolfgang Seeliger und Horst Berger, Jürgen Michel, Eckhard Schülzgen, Hans-Peter Paul. Der Studentenpfarrer ist Gottfried Forck. Die Gruppe nimmt den Aufruf der Studentengemeinde und der Gossner Mission auf. Sie laden Bruno Schottstädt, der ab Januar 1955 die Leitung der Dienststelle der Gossner Mission in der DDR in der Göhrender Strasse (Prenzlauer Berg) übernommen hat, zu sich ein. Sie erkunden die Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Einige beteiligen sich danach an ökumenischen Aufbaulagern, andere absolvieren Praktika in der Wohnwagenarbeit oder im Besuchsdienst in der neuen Stahlstadt Stalinstadt (später Eisenhüttenstadt).

Horst Berger erinnert sich im Jahre 1996:

„Im dritten Studienjahr machten wir ein Praktikum, wo ein Freund mich auf einen Hilfeeinsatz der Gossner-Mission in einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft aufmerksam machte.

Da habe ich zum ersten Mal eine Sense in die Hand genommen. Und die Gespräche mit den Menschen im Dorf beim gemeinsamen Reparieren des LPG-Zaunes über Gott und die Welt brachten neue Fragen. So bildeten wir im nächsten Studienjahr eine Selbsthilfe-Gruppe. Wir besorgten uns aus dem Westen die Literatur über die Arbeiterpriester, nahmen Verbindung auf zu Horst Symanowski in Mainz-Kastell, lasen Hans Storck ,Die Zeit drängt‘ und die Artikel des Cottbuser Generalsuperintendenten Günter Jacob über das Ende des Kontantinischen Zeitalters. Daraus entwickelten wir ein Konzept, nach dem wir als junge Theologen nach unserem Studium nicht hauptamtlich in die kirchliche Anstellung gehen wollten. Wir beschlossen in die Industrie zu gehen, aber nicht völlig einzeln, sondern in Gruppen unsere Erfahrungen zu verarbeiten. Und das machten wir dann auch“ [7]. …


Leseprobe Seite 276 – 279

7.6 Rand und Mitte der Gemeinde

Besuche

… Karl Welsch stammt aus dem Saarland. Als Kommunist hatte er dort keine Chance. In Treuenbrietzen ist er der erste Bürgermeister nach 1945, der es aushält, und den die Menschen als Person annehmen. So höre ich es. Warum? Er hat etwas durchgemacht.

Diese Gespräche gehen mir nach. Warum haben Kommunisten Angst vor der Kirche? Und die christliche Gemeinde? Sie hat Angst vor den Kommunisten. Und bei einigen ist die Angst in Hass umgeschlagen. Auf beiden Seiten. Warum? Dies sollte sich ändern lassen. Wo steht das Evangelium? Und: Wie wäre es, wenn Christen selbst zu Sozialisten werden? Ich denke an Adolf Grimmes Wort, aufgenommen von Helmut Gollwitzer. „Sozialisten können Christen sein, Christen müssen Sozialisten sein.“ Was, wenn die ganze christliche Gemeinde den Lehrern und Funktionären mit dieser Meinung und Haltung entgegentreten könnte? Aber was soll’s? Dann wäre die Geschichte anders verlaufen. Dann hätten die Deutschen seit 150 Jahren einen anderen Konfirmandenunterricht genossen. Industriearbeiter und Juden hätten einen anderen Stellenwert bekommen als den der nationalen Problemfälle.

Frl. Lehmann aus der Pfarrgasse, der gute Geist der Frauenhilfe und der älteren Generation, macht mich darauf aufmerksam, dass unser Nachbar krank sei. „Den hat wohl noch kein Pfarrer besucht“, gibt sie mir zu verstehen. Und so ist es denn auch. Hermann Bransky ist sehr erstaunt, als ich eintrete. Er ist an die 80 Jahre alt. Es hat ihn nach Treuenbrietzen verschlagen. Er erzählt aus seinem Leben, ein Arbeiter aus dem Ruhrgebiet, ein alter Kommunist, übernommen von der SED. Er fühlt sich einsam. Dass der junge Pfarrer von nebenan ihn besucht, findet er unfasslich, aber gut. Ob die Kirche sich denn nun ändern würde, nicht mehr so von oben herab? Ich kann ihm nichts versprechen, aber erzähle ihm von meinen Erfahrungen und warum ich Christ geworden sei. Was meine Hoffnung sei, für meine Generation und für die Gesellschaft. Seine Frage: „Warum wurde der Gegensatz aufgerissen zwischen den Arbeitern und der Kirche? Wie ist es eigentlich dazu gekommen?“ Als ich mich verabschieden will, sagt er: „Warten Sie, ich will Ihnen etwas geben. Dieses Buch haben mir die Genossen zu meinem 76. Geburtstag geschenkt. Bei Ihnen ist es am besten aufgehoben. Ich Werde nicht mehr lange leben.“ Es ist Hans Marchwitzas „Die Heimkehr der Kumiaks“ [8], die Geschichte einer Stadt im Ruhrgebiet vom Abzug der französischen Besatzung 1925 bis zur Einlieferung widerständischer Bergarbeiter in die Konzentrationslager der Nazis 1933. Die erschütternde Geschichte unseres Volkes im Ausschnitt.

Ich schlage das Buch auf und lese die Widmung: „Unserem lieben Genossen und Ruhrkämpfer Hermann Bransky zu seinem 76. Geburtstag. Ortsleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Treuenbrietzen.“ Ich bin sprachlos und innerlich bewegt. Ich frage mich im Stillen: Bist du es wert, solch ein Geschenk zu erhalten? – Ich bitte um eine Widmung nun auch für mich. Jetzt tritt Frau Bransky aus dem Hintergrund, schreibt mit der alten deutschen Schrift:

„Gesundheit kröne Ihre Tage
Zufriedenheit verschönere sie,
dann kann man ohne Klage
durchs Leben gehen
in schönster Harmonie
gewidmet Familie Bransky“

Ich bedanke mich und füge das Datum hinzu: 11.5.60.

Mir fällt sofort auf: Kein Wort vom Klassenkampf. Ist das der geheime Wunsch der hart arbeitenden, der ausgebeuteten Menschen? Ein Leben in Gesundheit, Zufriedenheit, ein Leben ohne Klage und in Harmonie? Das Ziel aller Kämpfe? Und: Wer beginnt den Klassenkampf? Beginnt er nicht immer von oben? Wer schafft unerträgliche Strukturen? Wer schafft ökonomische Mechanismen, die den einen reich und überreich machen und den anderen verarmen lassen? Klassenkämpfe beginnen immer von oben, bei den ökonomisch Mächtigen [9].

Heute ist Sonntag, der 9. April 2006. An den letzten beiden Tagen war ich mit Jürgen Klute in Mecklenburg-Vorpom-mern, in Malchin und Stavenhagen, der Fritz-Reuter-Stadt. Jürgen ist Industriepfarrer im Ruhrgebiet, in Herne.

Wir haben uns an Versammlungen der PDS und der WASG beteiligt. Jürgen ist seit kurzem Mitglied beider Parteien und Leiter ihrer politischen Bildungsprogramme in Nordrhein-Westfalen. –  In zwei Jahren bin ich so alt wie Hermann Bransky vor fast 50 Jahren. Haben wir Christen, wir Pfarrer, etwas dazu-gelernt? Jürgen hat die Wochenzeitung FREITAG in der Tasche. Darin schreibt Frau Elfriede Begrich, Pröpstin von Erfurt, einen Artikel zum Thema Sozialismus und Christentum. Sie muss sich ihrer Haut wehren, denn sie ist von kirchlichen Kollegen angegriffen worden. Sie hat als Gast am Landesparteitag der PDS / Die Linke in Thüringen teilgenommen. Sie geht zum Angriff über und fragt, ob es nicht wiederum Zeit sei. „Es ist an der Zeit, den Sozialismusgedanken als etwas Gewachsenes wiederzuentdecken, ihn aus der Tabuzone zu befreien, ihm neue Aktualität zu geben. 15 Jahre sind eine lange Zeit des Schweigens und Verdrängens. Es ist die Zeit, aufeinander zuzugehen, die Defizite zu sehen und die Verwerfungen auf beiden Seiten einzugestehen. Nicht neue Fronten sind festzuklopfen…“ [10]


Anmerkungen

[1] Die Arbeiterpriester. Dokumente. Deutsch v. Alfred Günther u. Jean Janés, E. Salzer, 1957, Kap. 4, 16

[2] Gilbert Cesbron, Kap. 5, 12

[3] Harald Poelchau, Die letzten Stunden, Erinnerungen eines Gefängnispfarrers, Berlin/DDR 1949, Köln 1987

[4] Horst Symanowski, Brief an Bischof Dibelius vom 03.10.1948, in: Kirche und Arbeitsleben, getrennte Welten, Münster 2005, Kap. 4, 19

[5] Arthur Rich, Christliche Existenz in der industriellen Welt, Zürich-Stuttgart 1957

[6] Johannes Hamel, Christ in der DDR, Unterwegs Nr. 2, Eine evangelische Zeitbuchreihe, Berlin 1957

[7] Johannes Brückmann (Hg.), Willibald Jacob, Arbeiterpfarrer, Vor Ort in Betrieb und Gemeinde in der DDR, Berlin 1996
 – Arbeiterpfarrer in der DDR, Gemeindeaufbau und Industriegesellschaft – Erfahrungen in Kirche und Betrieb 1950 – 1990, Berlin 2004

[8] Hans Marchwitza, Die Heimkehr des Kumiaks, 1952

[9] Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: Friedrich Engels und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1951