Jan 212014
 

 Brief von Paul Georg Poetzsch


Las Arenas/Vizcaya, Calle Mayor 5 22. Februar 1958

Lieber Neffe Georg (Georg Poetzsch-Heffter 1926–2013) !

In Deinem letzten Briefe bedauerst Du Deine geringe, aber durch den frühen Tod Deines Vaters (Woldemar Friedrich Poetzsch-Heffter 1881-1935) sehr erklärliche, Familienbildung, die Dir aus Deiner Unkenntnis über die Zusammenhänge zwischen den Dir zugegangenen Photos vom Osterdeich in Bremen zu unserer Familie zum Bewusstsein kam. Für mich war Bremen der Ausgangspunkt meiner lebenslänglichen Wanderschaften im Ausland und das Haus meines und somit auch Deines Vaters Onkel Martin Paul (1864–1932) wie ein zweites Elternhaus. Wenigstens ging ich da ein und aus und wohnte dort, als ob ich zu Hause wäre. Damit Du aber alles richtig verstehst, und da ich mir vorstellen kann, dass Du nur immer zufälligerweise etwas über die Familie der Mutter Deines Vaters gehört haben wirst, so will ich meine heutigen Mitteilungen darüber mal ganz von vorn anfangen, und zwar dort wo meine eigene Kenntnis anfängt.

Also: Die Mutter (Maria Christophora Paul 1855-1927 Deines Vaters kam aus dem Pfarrhause in Lorenzkirchen an der Elbe. Sie hatte sieben Brüder und eine Schwester: Arnd, Georg (nach diesem Onkel nannte mich meine Mutter), Fritz (dieser gab Deinem Vater den Namen), Karl, Fürchtegott Theodor, Martin und Sophie. Zwei andere Brüder starben in frühem Kindesalter.

Fürchtegott Paul

Ihr Vater (Simeon Fürchtegott Paul 1814-1890) stammte aus Nassau im Erzgebirge südlich von Freiberg und war der Sohn eines Leinewebers, Deines Ururgroßvaters (Johann Friedrich Paul 1786-1875), der zuweilen auf den Märkten des Landes umherzog, um seine Ware mit der anderer Ortsbewohner zu verkaufen. Unser Ahne Leineweber muss ein ganz bedeutender und willensstarker Mann gewesen sein.

Meine Mutter, die in jungen Jahren oft in Nassau war zur Pflege des Großvaters, dem mit 70 Jahren beide Beine abgenommen wurden, erzählte von ihm und seinen Lebensverhältnissen wie aus einem längst vergangenem Zeitalter. Oft sammelten sich die Ortsbewohner um sein Krankenbett, um seinen Reden zuzuhören. Er lernte noch lateinisch und schrieb eine Art Buch über die, Landwirtschaft jener Gegenden, das heute noch nach Angabe Deines Onkels Pfarrer Hans Müller (Johannes Müller 1878-1956) dort aufbewahrt wird. Er starb wohl nahe an die 80 Jahre alt.

Sein Sohn Simeon Fürchtegott konnte die Schule und später die Universität nur durch den Beistand freundlich gesinnter Menschen besuchen, und die immer wieder auftretenden Schwierigkeiten nur durch eine große Willensstärke überwinden. Als Hilfsprediger kam er nach Lorenzkirch in das Haus des Pfarrers Heyme seines späteren Schwiegervaters, von dem er auch das Amt übernahm, das er ununterbrochen bis zu seiner Emeritierung verwaltete und seinem Sohne Carl übergab. Als Emeritus lebte er bis zu. seinem Tode 1890 in Lorenzkirchen im Nachbarhause zur Pfarre, dem späteren Landsitz seines Sohnes Theodor, Professor in München. Von Deinem Urgrossvater Simeon Fürchtegott Paul will ich Dir noch einiges erzählen, so wie ich es am Familientische als Junge hörte und was die Merkmale seines Charakters trägt. Ich war acht Jahre alt als er starb. Entsinne mich seiner aber noch ganz deutlich, da er bei gross und klein den Eindruck, ein besonderer Mensch zu sein, hervorrief. Er war ein stämmiger, untersetzter Herr mit energischem Gesichtsausdruck, mit kühner Nase, besass lebhaftes Temperament, war ungemein praktisch veranlagt, und. konnte bei gut abgewogenem autoritären Auftreten auch recht gut Anweisungen erteilen. Hervortretende Charakterzüge waren auch seine Freigiebigkeit, die ein übliches Mass weit überstieg, wenn es sich darum handelte, Bedürftigen zu helfen, seine große Gastfreundschaft, die besonders in den Ferienzeiten sichtbar wurde durch die Aufnahme von Schülern und Studenten, seine Gewissenhaftigkeit im Amte, bei der Versorgung von drei Kirchen. Ferner hatte er bei der Bewirtschaftung der Pfarrfelder oft mit Hand anzulegen, deren Ertrag zur Bestreitung des grossen Haushaltes beisteuern musste. Zu erwähnen ist noch sein persönliches Eingreifen in allen öffentlichen Angelegenheiten seiner Dörfer (z. B. bei Hochwasser der Elbe), wo man ihm die unbedingte Befehlsgewalt zugestand. Sein Ansehen als Mann von Rat und Tat ging weit über die Grenzen des Wirkungskreises innerhalb seiner Kirchgemeinden hinaus. Er war von einer ungewöhnlichen Originalität, wobei es ihn wenig bekümmerte, was andere Menschen darüber denken mochten. Lange Jahre vor seinem Tode kaufte er sich schon bei einer passenden Gelegenheit seinen Sarg, der, aus Eichenholz gearbeitet, ihm besonders gefallen hatte. Besagter Sarg war auf dem Hausboden abgestellt, und wurde bei eintretendem Mangel an Schlafgelegenheit als Nachtlager für Gäste, insbesondere für das junge Volk, hergerichtet, wobei es nicht ohne Allotria abgegangen sein soll. Die noch vorhandenen Briefe aus seiner letzten Lebenszeit zeigen regelmässige, klare, deutliche und eigenartige Schriftzüge. Krank ist er, soviel mir bekanntgeworden, nie gewesen. Er soll zur Sommers- und Winterszeit seine regelmäßigen Bäder in der Elbe genommen haben, wobei die Sage berichtet, dass er bei zugefrorenem Wasser mit einem Beil zum Baden gegangen sei. Einmal zur Audienz zum König geladen, wurde ihm bedeutet, Handschuhe anzuziehen, wo-zu er sich jedoch weigerte mit der Begründung, dass seine abgearbeitete Hand sehr gut in die des Königs passe. Schließlich brachte man ihn dazu, wenigstens Handschuhe in die Hand zu nehmen. Er war ein Mann von grosser demokratischer Gesinnung ohne irgendwelche Selbstüberhebung, jedoch führte er das einmal von ihm als richtig erkannte konsequent durch, ohne Widersprüche zu dulden. Anhänger einer läppischen Demokratie unter Anrufung des Christentums, so wie sie heute in Bonn praktiziert wird, konnte er niemals werden. Ja, ich glaube, er wäre ihr erbitterter Gegner geworden. In den letzten Lebensjahren litt er sehr unter großer Atemnot, wohl eine Auswirkung einer Herzschwäche, der er erlegen sein wird.

Mit uns, seinen ersten Enkeln, war er ungemein lieb, und wir konnten mit ihm allerlei Torheiten anstellen, wozu er selbst uns ermunterte. Zwischen Lorenzkirch und Skäßchen gab es regen Verkehr entweder mit der Eisenbahn über Großenhain – Riesa, oder mit Geschirr über Land 25 km Weges. Der Großvater kam in seinem üblichen Einspänner-Korbwagen, wir Skässscher dagegen benötigten unseren großen, mit zwei Pferden bespannten Wagen. Für uns war so eine Fahrt und der Aufenthalt in Lorenzkirchen ein großes Vergnügen, besonders zur Zeit des Lorenzmarktes, der mit einem Viehmarkt auf den Elbwiesen vor dem Pfarrhause begann und drei Tage dauerte. Der Markt wurde von vielen Tausend Landleuten besucht, die nach beendeter Ernte mit etwas Geld im Säckel ihre Bedürfnisse für den Winter einkauften. Im großen Pfarranwesen konnten wir Jungens unsere Entdeckungen machen, und ich entsinne mich noch, dass es Deinem Vater großen Eindruck machte, dass auf dem grossväterlichen Heuboden gerade über den Krippen des Kuhstalles sich große Löcher befanden, durch die man das Heu den Kühen vor das Maul werfen konnte. So was hatten wir nicht in Skäßchen. Als bildliche Erinnerung an die alte Lorenzkircher Zeit habe ich hier zwei sehr hübsche bunte Handzeichnungen hängen. Auf der einen steigt der Großvater gerade aus dem Wagen und die Grossmutter geht ihm mit meiner Mutter auf dem Arme entgegen, während die drei älteren Brüder hinterdrein springen. Vor 100 Jahren gezeichnet. (Vgl. auch die Anmerkung)

Auguste Heyme verh. Paul

Verheiratet war dieser eigenartige Grossvater mit der Großmutter Heyme (Auguste Sophie Pauline Heyme 1823-1894), die ihm in Charakter und in der äußeren Erscheinung ganz unähnlich war. Schlank und zart von Ansehen und fein und zurückhaltend in ihrem Wesen, erschien mir die Grossmutter stets wie ein guter Hausengel, der in das grosse und unruhige Hauswesen gar nicht hineinpasste. Meine Mutter, die bis zu ihrer Verheiratung im Haushalte der Mutter beistand, erzählte oft von deren Sorgen und Nöten, um allen Ansprüchen der Wirtschaft, die durch die Freigebigkeit und Gastfreundschait des Vaters täglich neu entstanden, zu genügen. Soviel über die Lebensart des Vaters zu berichten ist, so wenig ist über diese gute Hausmutter bekannt. Ich habe noch eine klare Vorstellung von ihr und ihrer Herzensgüte, umso mehr als sie in ihren letzten Lebensjahren öfters und längere Zeit bei uns in Skäßchen weilte. Sie starb nach längerem Leiden in Lorenzkirch treu gepflegt von unserer Tante Lenchen Zürn, von der ich Dir, trotzdem sie mit uns nicht blutsverwandt ist, noch berichten will, denn sie war eine gute Frau, und gehörte zur Familie.

Die Mutter von Sophie Auguste geb. Heyme war eine geborene Baltzer (Christophora Eleonore Baltzer 1790-1852) aus dem Pfarrhause in Belgern an der Elbe nicht weit von Lorenzkirch. Von dieser Deiner Ururgrossmutter Heyme ist mir nur bekannt, dass sie herzleidend war und etwa 60 Jahre alt im Hause ihrer zweiten Tochter (Caroline Christiane Heyme 1824-1890), die an einen Pfarrer (P. Schreyer 1813-1890) in der Nähe von Lorenzkirchen verheiratet war, starb. Um dem Durcheinander während des Lorenzmarktes zu entgehen, war sie solange zu Besuch bei ihrer Tochter. Dieser Pfarrer Baltzer gehörte in die Verwandtenreihe der Heffters. Ich habe Deine Urgrossmutter Heffter (Helene Wilhelmine Götzinger 1834-1915) gut gekannt. In Leipzig, wo sie wohnte, war ich einige Male zu Besuch, als ich mein Soldatenjahr 1902 abdiente. In Skässchen habe ich sie einmal im Wagen sitzend photographiert, und dieses Bild wird sich unter den anderen Skässchener Photos befinden, die ich Euch vorm Jahr mitbrachte. Sie war eine sehr geistvolle Dame, weitgereist, sehr lebhaft und wohl etwas herrschsüchtig. Onkel Theodor Paul bezeichnete sie als „Drache“. Wahrscheinlich hatte er sie vergebens während seiner Ausbildungszeit angeborgt.

Gotthelf Heyme

Der Pfarrer Heyme (Christian Gotthelf Heyme 1784-1872) aus Zwochau zwischen Leipzig und Halle, Vater meiner Grossmutter Paul, war von hoher Gestalt, rotblond und leicht in Zorn zu bringen, und wohl ein etwas eigenartiger Herr mit nicht alltäglichen Charaktereigenschaften. Über sein Herkommen ist noch manches ungeklärt. Dein Vetter Christoph (Christoph Müller 1917-1942) hat den Vorfahren Heyme nachgeforscht, und da es sich dabei auch um Soldaten handelte, auch im Heeresarchiv in Dresden eine Reihe von Angaben zusammengetragen. Bei Jochen Müller (Albert Johannes Joachim Müller1909-2006) in Röcknitz liegt dieses gesammelte Material. Sein hoher schlanker Wuchs und rotblondes Haar findet sich wieder bei seinem Enkel Fürchtegott Paul, seinen Ururenkeln Christoph Müller und Deinem Bruder Martin (Hans Michael Martin Poetzsch-Heffter 1922-1943). Ebenso bei den weiblichen Nachkommen: der Urenkelin Luise Paul geb. Borchers und seiner Ururenkelin Veronika Müller (Veronika Müller 1907-1986).

Meiner Mutter (Maria Christophora Paul 1855-1927) war die Versorgung und Pflege ihres Grossvaters Heyme anvertraut. Sie erzählte uns manchmal von den Eigenheiten ihres Grossvaters, der sich viel mit Sternkunde befasste, nachts durch die Gegend streifte und den die Bauern manchmal, als er schon in hohem Alter war, am Morgen irgendwo ermüdet auffanden und nach Hause brachten. Einmal des Nachts weckte er die Hausbewohner, zeigte ihnen einen Stern und behauptete, dass dieser zum ersten Mal sichtbar sei. Man schenkte ihm natürlich erst Glauben, als die Zeitungen die Nachricht brachten. Vielleicht handelte es sich um einen Kometen, oder um einen der vor Millionen von Jahren explodierten Sterne, deren Aufleuchten kurze Zeit sichtbar wird. Mit einem grossen Teil der Schriften Goethes war er nicht einverstanden, dagegen empfahl er seinen Enkeln, fleissig den Schiller zu lesen. Die Preussen mochte er nicht, als ihre Soldaten 1866 durch sein Dorf zogen, auch glaubte er nicht recht an ihre ersten Siegesmeldungen aus Frankreich 1870. Krank ist er wahrscheinlich nie gewesen, denn darüber ist nichts bekannt. Er starb mit 88 oder 89 Jahren. Eine Photographie von ihm befand sich in unserem Familienalbum und wird jetzt wohl bei Jochen in Röcknitz sein. Hinzufügen möchte ich nun noch, dass ich mich heute nur noch auf einen Teil dessen besinnen werde, was mir meine Mutter vor 60-70 Jahren über diesen sonderlichen Mann erzählte. Es sind wohl kleine alltägliche Ereignisse gewesen, deren Originalität bewirkte, dass so etwas weitererzählt wurde, und aus ihnen entstand ein Charakterbild. Oft meine ich, er, der Urgrossvater, wurde Pfarrer nicht weil er den Trieb dazu hatte, sondern weil er dazu aus irgendeinem Grunde bestimmt wurde. Wer bestimmte ihn dazu, und woher kamen die Mittel? In der Familie seiner angeblichen Eltern war es wahrscheinlich nicht üblich, die Kinder Theologie studieren zu lassen. Übrigens sollen die Taufpaten nicht alle Familienangehörige sein. Im Lorenzkircher Heyme lagen jedenfalls ganz entgegengesetzte Veranlagungen (von denen manche bei einem Teil seiner Nachkommen deutlich in Erscheinung getreten sind. Zum Guten, aber auch in unerfreulicher Weise.

Franz Heyme

Ausser zwei Töchtern hatte Urgroßvater Heyme einen Sohn namens Franz (Franz Gotthelf Heyme 1826-1881). Er wurde bei uns Onkel Franz genannt, denn er war ja der richtige Onkel meiner Mutter. Gesehen habe ich ihn nie, auch wurde von ihm nie gesprochen, und meine Mutter wird ihn wohl nur oberflächlich oder gar nicht gekannt haben. Jedenfalls war er für uns Skässcher so gut wie verschollen, samt seinen eventuellen Nachkommen. Das muss ein recht lockerer Bursche gewesen sein. Es ist wohl anzunehmen, dass sein Vater ihn als einzigen Jungen Theologie studieren lassen wollte. Warum daraus nichts geworden ist, weiß ich nicht. Vielleicht spukte in ihm einer der Vorfahren seines Vaters, so dass seine Neigungen nach anderer Richtung gingen. Einmal taucht er als Oekonomieinspektor in Schlesien auf. Später verzog er nach Ungarn. Dort soll es ihm eine Zeit lang recht gut gegangen sein. Er sei vierelang gefahren und habe üppig gelebt. Wieso er das konnte, weiß ich nicht. Vielleicht durch eine gute Heirat, denn wahrscheinlich war er ein hübscher Kerl als ein Erbteil lebensfroher Voreltern. Später sei allerdings der Reichtum weg gewesen. Bei einem lockeren Lebenswandel durchaus erklärlich. Das war nun alles, was unsere Generation von ihm wusste bis zum Herbst 1927.

Zu dieser Zeit erschien im Hause Deines Vaters in Schlachtensee eine hübsche junge Dame, die sich Esther Heyme (Esther Heyme 1906-1981) nannte, und die angab, die Enkelin von Onkel Franz zu sein. Ihr Vater (Károly Heyme 1872-1948), verheiratet mit einer Italienerin lebe noch als Gutsbesitzer in Ungarn. Auf Grund der deutschen Abkunft habe man notleidende Berliner Kinder aufgenommen, die sie jetzt zurückbringe. Sie sprach gut deutsch und blieb etwa 14 Tage in Berlin, in Thekla und Lorenzkirch. Veronika ist bis heute mit ihr in Briefwechsel geblieben. Sie hat geheiratet und erwachsene Kinder und wohnt jetzt in Budapest. Von Veronika erfuhr ich, dass es ihr nicht gut geht infolge der traurigen politischen Ereignisse. Esther ist eine Kusine zweiten Grades Deines Vaters.

Mit Aufzeichnungen über die Voreltern glaube ich fertig zu sein, und will zur jüngeren Generation übergehen, zu der der Geschwister der Mutter Deines Vaters (Woldemar Friedrich Poetzsch-Heffter 1881-1935).

Zu Beginn des Briefes nannte ich Dir die Namen der Geschwister im Pfarrhause Lorenzkirch. Von diesen zahlreichen Onkels Deines Vaters wirst Du wohl wenig erfahren haben, obgleich in unserem Elternhause in Skässchen jeder seine eigene Rolle gespielt hat, umso mehr als Deine Grossmutter mit ausgeprägtem Familiensinn begabt, sowohl als ältere Schwester, als auch infolge besonderer Begabung grossen Einfluss auf ihre Geschwister hatte.

Anmerkung zu Simeon Fürchtegott Paul von Gottfried Müller in einem Vortrag am 24.08.1996 in Lorenzkirch

Gern führte ich Zitate an aus Predigten oder Briefen des Pfarrers Simeon Fürchtegott Paul, um sein geistliches Wirken zu verdeutlichen, Doch besteht derzeit dazu keine Möglichkeit. Immerhin aber vermag ich davon zu berichten, was bezüglich seines irdischen Endes in der Familienbibel handschriftlich eingetragen wurde, nämlich dies: „Sein müder Leib ward in dem Sarge, den er sich selbst besorgt hatte, unter großer Anteilnahme am 2. Juni 1890 begraben, und zwar in ein gemauertes Grab an der Südseite der Kirche in Lorenzkirch, welches er sich schon seit Jahren bereitet hatte.“ Damit stimmt die Anekdote überein, die man sich später im Kreise seiner Anverwandten häufig erzählte. Er soll nämlich viele Jahre, bevor er dann tatsächlich starb, seinen Sarg haben anfertigen lassen. Der Tischler und dessen Gehilfe trugen ihn eines schönen Tages zur Tür des Pfarrhauses herein – zum größten Erstaunen der Anwesenden. Denn der Auftraggeber hatte sich ihnen gegenüber bis dato bezüglich dieser Sache ausgeschwiegen gehabt. Der Sarg wurde nun auf dem Dachboden des Hauses deponiert. Man erzählt weiter, dass Simeon Fürchtegott Paul sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit in den für seine Person gefertigten Sarg hineingelegt habe, um jeweils an diesem besonderen Ort über die nächste von ihm zu haltende Predigt nachzusinnen. Offensichtlich wollte er sich auf solche Weise vergegenwärtigen, welch große Verantwortung er für die ihm als Pfarrer anvertrauten Gemeindeglieder trage, die Verantwortung Gott gegenüber, vor dem er dereinst werde Rechenschaft ablegen müssen. Man erzählt sich auch, dass ab und an in Zeiten, da viele Gäste im Lorenzkircher Pfarrhaus einkehrten, einer der Anwesenden in diesem Sarg sein Nachtlager fand. Auch ist zu hören, dass man hin und wieder einen Teil der Apfelernte an diesem Ort, und zwar wohl in der Höhlung des Sargdeckels, unterbrachte.

Das Schlusswort zu meinen Ausführungen aber soll Simeon Fürchtegott Paul haben. Zwei Jahre vor seinem Tode schrieb er die folgenden bekenntnishaften Sätze nieder, in welchen er seine tiefe Verbundenheit mit der heiligen christlichen Kirche und auch zugleich auch mit dem Lorenzkircher Gotteshaus stark zum Ausdruck bringt: „Seit Herbst 1887 emeritiert verbleibe ich nun bei meinen Kindern hier in der alten lieben Gemeinde in nächster Nähe dieser heiligen Stätte mit den Gräbern ringsum, bis ich auch zu den Vätern versammelt werde, dann will ich ruhen an deiner Seite, Mutter Kirche, mit kindlicher Freude. Du hast mir gesagt, ich bleib nicht hinieden, ich käme hinauf zum himmlischen Frieden. Es kann keine liebere Freundin als dich hier geben, du zeigst mir den Weg zum ewigen Leben.“

Arndt Paul

Onkel Arndt (Christian Arndt Friedrich Paul 1848-1918), der Älteste, geboren etwa 1847, habe ich nicht gekannt. Er studierte Theologie, war begabt und sein Leben hätte wohl in ruhigen, hergebrachten Bahnen verlaufen können. Ob äusserliche starke Einflüsse auf ihn wirkten, ist mir nicht bekannt. Wahrscheinlich trieb ihn eine zu einseitig entwickelte und von seinen Voreltern Paul überkommene Lebensauffassung dazu, die Wohlfahrt seines Nächsten über sein eigenes materielles Ergehen zu stellen, ja jedes gesunde Empfinden für eigene Lebensnotwendigkeiten zu verlieren. Seine bisherigen theologischen Studien mögen ihm als nichtig erschienen sein im Vergleich zu sofortiger Hilfeleistung dort, wo er Elend sah. Er nahm schließlich die Stelle eines Lehrers an der Volksschule in Grossenhain an, betreute dort alle armen Kinder, gab seine eigenen Sachen weg und wohnte in einem Bretterverschlag auf einem Boden. In dieser Zeit ist er oft bei meiner Mutter in Skässchen gewesen, um für sein armes Volk zu betteln. Seine Lage ist dann wohl unhaltbar geworden, und man kann wohl sagen zu seinem Glück erhielt er durch die Vermittlung seines Bruders Carl eine Stelle als dienender Bruder und Pfleger an den Anstalten des Pastor Bodelschwingh in Bethel. Dort hat er sein Leben mit der Pflege Hilfsbedürftiger verbracht. Er starb etwa 70 Jahre alt in Bethel ohne vorheriges Kranksein am Herzschlag. Sein Bruder Carl sagte von ihm: „als Katholik wäre er heilig gesprochen worden.“ Über diesen seltenen Menschen findest Du einen Nachruf der Bethelschen Anstalten unter den Familienpapieren bei Jochen.

Georg Paul

Onkel Georg (Georg Gotthold Paul 1849-1890) war sehr begabt, studierte Jura in Leipzig. Meine Mutter erzählte uns gern von der Studentenzeit dieses Bruders, besonders von den Erlebnissen während der Ferien, wenn Bruder Georg noch eine Anzahl Freunde mitbrachte. Leider hatte er, wie uns seine kurze Lebenszeit lehrt, einen wenig ausgeglichenen Charakter, verbunden mit einer leichtsinnigen Ader. Ich könnte mir vorstellen, so ähnlich wie sein Onkel Franz. Also Heymesches Blut. Ich habe den Eindruck, als ob in die Familie der Heyme durch den Vater unseres Pastor Heyme ein plötzlicher Einbruch fremden Elementes erfolgt sei, das zu einem Missklang in den Charakterzügen folgender Generationen führte und ihren Lebensweg recht unerfreulich gestalten konnte. In die damals durch die sozialistischen Ausnahmegesetze bestimmten politischen Umtriebe ist Georg als politischer Polizeikommissar verwickelt worden, die zusammen mit Spielschulden sein Leben vernichteten.

Fritz Paul

Onkel Fritz (Ernst Friedrich Paul 1851-1929), dessen Namen Dein Vater, sein Patenkind, bekam, wurde 1851 geboren. Er war ein hübscher, stattlicher Mensch mit grosser Liebenswürdigkeit begabt und von jedermann gern gesehen. Da die beiden ältesten Jungen für das Universitätsstudium bestimmt waren mit den sich daraus ergebenden Kosten, so wurde Fritz der Kadettenanstalt in Dresden übergeben, wozu Vater Paul durch die ihm eng befreundeten adeligen Familien der Umgegend leicht Zugang erhielt und für später eine Erleichterung im Fortkommen für seinen Jungen erwartete. Fritz hat die Hoffnungen der Eltern glänzend erfüllt. Im sächsischen Regiment „Schwere Artillerie“ wurde er Oberst und avancierte noch zum Artillerie-Inspector und Generalmajor. Als solcher wurde er zur Disposition gestellt, um 1914 nochmals activ zu werden und brachte es bis zum Generalleutnant. Er ist im Alter von etwa 78 Jahren nach kurzem Kranksein an den Folgen einer Thrombose in Dresden gestorben.

Onkel Fritz und seine Frau Greta, (Margarete Klippgen *1866) genannt Tante Mietze, Tochter des wohlhabenden Dresdner Papierfabrikanten Klippgen (Richard Klippgen 1838-1893), besuchten uns oft in Skässchen. Im Sommer blieben sie mit Kindern viele Tage bei uns. Tante Mietze war eine hübsche, elegante und lebhafte Frau von leichtem Wesen. Sie ist lange nach ihrem Manne in hohem Alter in Dresden gestorben. Sie hatten vier Kinder: einen Jungen Fritz und drei Töchter Grete, Ilse und Annemarie. Unser Vetter Fritz, der viel jünger als wir Skässcher war, kam uns immer als ein etwas zerfahrener wenig zu uns passender Junge vor. Seinen Eltern hat er viel Leid gebracht. Er starb als Regierungsreferendar recht gewaltsam unter tragischen Umständen. Die Kusine Grete (Margarete Paul verh. Lange 1889-1971), im Wesen nach der Mutter geraten, war ein kleines hübsches Mädchen. Ich habe sie nur im Kindesalter gekannt, da ich mit jungen Jahren nach Bremen kam. Sie heiratete den Uhrenfabrikanten Lange (Gerhard Lange 1892-1969), dessen Fabrik nach 1945 zum „Volkseigenen Betrieb“ erklärt wurde. Lange soll in Württemberg irgendwo wieder neu angefangen haben. Die Kusine Ilse (Ilse Paul verh. von Loeben 1891-1989), deren häusliches Wesen stets gerühmt wurde, im Gegensatz zur Schwester Greta, war mit einem Offizier namens von Loeben (Curt von Loeben *1870) verheiratet, der – soviel mir erinnerlich – gestorben sein soll. Kinder werden wohl vorhanden sein, aber ich weiß nichts von ihnen, auch nicht, wo Ilse jetzt lebt. Annemarie (Annemarie Paul *1895) habe ich nur den Photos nach gekannt. Sie heiratete einen Herrn Renk. Wahrscheinlich auch ein Offizier. Ich nehme an, dass er tot ist, da ich in den letzten Jahren nach Kriegsende immer nur von Ilse und ihrem Sohn, der auch Offizier war, durch die Bremer Verwandtschaft hörte. (Anmerkung: es gab keinen Sohn)

Marie Paul verh. Poetzsch

Nach Onkel Fritz kommt in der Reihe der Lorenzkircher Kinder meine Mutter, Deine Großmutter, Maria Christophora (Maria Christophora Paul verh. Poetzsch 1855-1927).  Sie war die allervortefflichste Frau und Mutter, die es je geben konnte. Sie vereinigte wohl alle guten Charakterzüge ihrer Voreltern, waren es nun Pauls, Heymes oder Baltzers, aber das Paulsche Element war wohl in ihr vorherrschend. Mit großer Liebe und bewunderungswertem Geschick hat sie sich nach dem Tode unseres Vaters (Emil Albert Poetzsch 1835-1903) allein unserer Erziehung, Versorgung und Bemutterung unterzogen. Sie wird mir in die Fremde mehr als ein halbes Tausend Briefe geschrieben haben, immer mit den Berichten aus der Heimat und mit der grössten Anteilnahme an meinem Ergehen verbunden mit allen guten mütterlichen Ratschlägen. Sie sind eine Chronik, die sich über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten erstreckt von 1898 an, als ich nach Bremen ging, bis zu ihrem Tode 1927. Vom Herbst 1924 an bis Sommer 1926 war die Mutter bei mir in Barcelona. Wir bewohnten ein hübsches kleines Haus vor der Stadt halb in den Bergen. Ein Album mit Bildern macht heute noch unser Leben in Haus und Garten und auf Reisen anschaulich. Zu Deiner Taufe 1926 war sie nach Schlachtensee gekommen. Im Winter 1926/27 in Röcknitz, wo sie ihre Wohnung hatte, wurde ihr Herzleiden schlimmer. Ich konnte damals von Halberstadt aus jedes Wochenende bis zu meiner Abreise nach Südamerika im Februar bei ihr verbringen. Dein Vater (Woldemar Friedrich Poetzsch-Heffter 1881-1935) nahm sie im März mit nach Schlachtensee, wo sie im Mai gestorben ist. Wie Du weisst, liegt sie in ihrer Heimat Lorenzkirch in einem Grabe mit unserem Vater und Deinen Eltern.

Carl Paul

Nach meiner Mutter kommt in der Reihe der Onkel Carl (Carl Paul 1857-1927). Als ehemaliger Pfarrer von Lorenzkirch hat er seine letzte Ruhestätte auch auf dem Friedhofe neben der Sakristei gefunden. Er war verheiratet mit Elisabeth Fritzsche (Marie Elisabeth Fritzsche 1861-1942), Tochter des Pfarrers von Streumen (Theodor Ernst Julius Fritzsche 1828-1888) eines Dorfes auf halbem Wege von Skässchen nach Lorenzkirch. Onkel Carl war von untersetzter Statur und kahlköpfig, mannigfach begabt, auch etwas musikalisch, alles so wie sein Vater. Er besuchte die Thomasschule in Leipzig (Sängerknaben – Sebastian Bach) und später die dortige Universität. War Hauslehrer in einer Bremer Kaufmannsfamilie und dann einige Zeit in England. In welcher Mission entzieht sich meiner Kenntnis. Sein erstes Pfarramt hatte er in Rotschönberg, ein kleines Nest von dem ich nie gewusst habe, wo es liegt, aber dessen Name mir in meiner Kindheit ungemein gefiel, und ich ihn wohl deswegen im Gedächtnis behalten habe. Dann übernahm er das Pfarramt in Lorenzkirch von seinem Vater. Etwa 1907 folgte er dem Rufe nach Leipzig als Direktor der Leipziger Missionsgesellschaft, verbunden mit einer Professur an der Universität. Das Pfarramt Lorenzkirch wird wohl fast 100 Jahre von der Familie verwaltet worden sein. Zuerst von Heyme, dem sein Schwiegersohn und Enkel folgten. Ein Gegenstück zu Pausitz bei Riesa, wo drei Generationen Poetzsch über 100 Jahre im Amte waren. Der Urgrossvater Deines Vaters, sein Sohn und sein Enkel. Die Skässcher brachten es nur auf zwei Generationen und 67 Jahre.

Wie seine Voreltern Paul, so hatte Onkel Carl einen grossen Betätigungsdrang und ein Bestreben nach auswärts. Kam als Hauslehrer nach Bremen zu einer angesehenen Kaufmannsfamilie, wodurch wieder sein jüngerer Bruder Martin seinen Lebensweg nach Bremen fand, und ich folgte diesem später nach. Carl war auch einige Zeit in England, wo ihm die englische auf Reichtum gegründete Lebensart grossen Eindruck hinterliess, verbunden mit einiger Bewunderung für dieses Volk. Letztere hatte sich erst seit 1914 gemildert, und wurde gänzlich ausgelöscht durch das Verhalten der englischen christlichen Missionskreise bei der Rückgabe des während des Krieges sich angeeigneten Eigentums samt Wirkungskreises seiner Leipziger Mission in Deutsch-Ostafrika und in Indien. Da ich aus meinen Lebenserfahrungen heraus kein Freund dieses allerhabsüchstigsten und allereigennützigsten Britenvolkes bin, hatte ich grosse Genugtuung über die neuen Auffassungen meines Patenonkels Carl, als er mir darüber mit grosser Entrüstung berichtete. Diese traurige Erfahrung Onkel Carls stand übrigens nicht vereinzelt. Einige Jahre später gelegentlich einer Dampferreise von Westafrika äusserte sich mir gegenüber in gleicherweise der Präses der Baseler Missionsgesellschaft an der Goldküste, dessen Missionsfeld sich die Briten ebenfalls ganz ungerechtfertigter Weise bemächtigt hatten. Bei der späteren von der Schweizer Regierung durchgesetzten Rückgabe durch die englischen Missionen, hätten diese jede von brüderlich christlichem Empfinden getragene Regelung beiseite gelassen, um noch möglichst viel Profit herauszuholen.

Onkel Carl unternahm Reisen nach Ostafrika und Indien, hielt bis zu seinem Lebensende überall Vorträge (er starb in der Nacht vor einem Vortrag am Gehirnschlag) über theologische Probleme und über christliche Missionen in fremden Erdteilen. Seiner äusseren Erscheinung nach wie auch im Hinblick auf sonstige Charakterzüge hatte er wenig vom alten Heyme an sich, auch das Temperament vom Vater Paul hat er nicht besessen. Vielleicht war das Baltzer’sche Element in ihm deutlicher ausgeprägt, was ich aber nicht beurteilen kann.

Seine Kinder sind: Martin (Theodor Martin Paul 1888-1918), studierte Philologie. Ich kannte ihn als Student in Leipzig und er gefiel mir durch sein frisches Wesen. Er war damals gut mit meinem Bruder Albert (Karl Albert Poetzsch 1880-1915) befreundet. Er fiel im Felde in Frankreich 1918.

Dann kamen drei Schwestern: Magdalene (Maria Magdalene Paul 1885-1965); war als Sekretärin viele Jahre auf einem grossen Gute in Thüringen, das 1945 enteignet wurde. Jetzt lebt sie noch dort und bezieht eine Pension. Maria (Maria Christophera Paul 1887 -1957) widmete sich der Krankenpflege. Sie ist im Dezember vorigen Jahres als Schwester i.R. an den Folgen eines Unfalles gestorben. Dora (Elisabeth Dorothea Paul 1892-1972) machte ihr Lehrerinnenexamen und wirkt jetzt noch an einer Schule in Bautzen.

Als Nachzügler in der Familie kamen noch ein Junge und eine Schwester. Hans (Ernst Johannes Paul 1902-1958) studierte Philologie. War längere Zeit im früheren Deutsch Südwest-Afrika beschäftigt. Ich vermute im Schulwesen. Im Auswärtigen Amte, Abt. Auslandsschulen, war er bis 1945 als Abteilungsleiter tätig. Während des Krieges kam ich mit ihm öfter zusammen. 1944 wurde er von seinem Amte nach Spanien gesandt, um hier gegen den überhandnehmenden Einfluss der NSDAP auf das Schulwesen zu wirken. Soviel ich weiss, ist es ihm nach Beendigung des Krieges nicht gelungen, wieder ins Amt zu kommen. Was er jetzt treibt, und wo er ist, weiß ich nicht. Lisa (Augusta Elisabeth Paul 1900-1970) heiratete einen Missionar namens Gäbler (Paul Hermann Julius Theodor Gäbler 1901-1972), mit dem sie nach Indien ging. Dort lebte sie mit Mann und Kindern auch während des Krieges. Dieser erhielt nach seiner Rückkehr eine Pfarrstelle, und jetzt wohnen sie in Niedernjesa bei Göttingen.

Fürchtegott Paul

Onkel Fürchtegott (Fürchtegott Paul 1859-1927) am Gehirnschlag als pensionierter Forstbeamter in Lohmen bei Pirna an der Elbe. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann mit starkem rotblonden Kopf- und Barthaar, schmaler hoher Kopfbilldung und blauen freundlich blickenden Augen. Ein dunkelgrüner kleidsamer Uniformrock, hohe grüne tschako-artige Mütze gaben den Rahmen zu einer wirklich stattlichen Erscheinung. Bei feierlichen Angelegenheiten wurde auch der Hirschfänger getragen. Nachkomme der Heyme zu sein stand dem Onkel Fürchtegott auf der Stirn geschrieben, wie man es auch von Deinem Bruder Fritz sagen kann. Mit unserer Mutter verband ihn eine enge geschwisterliche Liebe, und ich glaube, er hat in seinem Leben nichts unternommen, ohne darüber vorher mit ihr zu beraten. Uns Skässcher Kindern war er einer der liebsten Onkels, schon wegen der hübschen Wald- und Jagdgeschichten, die er zu erzählen wusste. Wir sind oft bei ihm auf seinen Förstereien in Rauschenbach im Erzgebirge südlich von Freiberg an der böhmischen Grenze und später in Lohmen bei Pirna gewesen, und wir alle bewahren die freundlichsten Erinnerungen an diesen einfachen und doch vornehmen Mann, der von allen seinen Brüdern die nobelste Gesinnung hatte. In den Jahren 1896/97 legte er für seinen Bruder Martin in Togo eine Kaffeepflanzung an. Viel später noch rühmten mir gegenüber die Eingeborenen, was für ein guter weisser Mann er gewesen sei. Seine erste Ehe (Clothilde Amalie Clara Petzoldt *1881), er heiratete erst mit 45 Jahren, nahm keinen erfreulichen Verlauf. Ein Sohn (Horst Paul (1904-1913) aus dieser Ehe, der im Hause des Vaters blieb, starb im Knabenalter. Eine zweite Heirat mit Lydia Müller, deren Vater früher in einem Dorfe (Laas bei Oschatz) nicht zu weit von Lorenzkirch Pfarrer gewesen war, und mit denen wir (ich weiss nicht wie) verwandt sein sollen, verlief ungemein harmonisch. Lydia (Lydia Müller *1864) war eine bereits ältere aber noch recht hübsche und besonders herzensgute Frau. Sie blieb nach dem Tode ihres Mannes in der Nähe von Pirna wohnen, wo ich sie stets bei einem Aufenthalte in Deutschland besucht habe. Sie starb während des Krieges. Von ihr lebten noch Geschwister und deren Kinder in Dresden.

Theodor Paul

Ein mit viel Paul’schem Temperament begabter Bruder war Onkel Theodor (Theodor Paul 1862-1928), er verstarb in München an einem Krebsleiden. Auch er liegt auf dem Friedhof in Lorenzkirch begraben. Theodor war ein eigenartiger Knabe, und Vater Paul wusste nicht recht, was mit ihm anzufangen. Aber schon als Junge zeigte er Talente mancherlei Art, die die Aufmerksamkeit seiner Umgebung erregten. Als einmal die im Laufe der Zeit schwärzlich gewordene Wetterfahne des Kirchturms neu vergoldet werden sollte, und der Riesaer Goldschmied von seiner zu hoch empfundenen Forderung nichts ablassen wollte, erbot sich Theodor die Vergoldung zum halben Preis zu machen, die er dann auch zum Erstaunen seines Vaters und des gesamten Kirchenvorstandes zur Zufriedenheit ausführte. Nach dem Besuche einer Schule in Dresden wurde er auf seinen Wunsch Apotheker. Nach Abschluss dieser Laufbahn strebte er jedoch nach einer wissenschaftlich höheren Betätigung, und er entschloss sich zum Studium der Chemie. Er holte die Abgangsprüfung eines Gymnasiums nach und studierte fleissig, ja man könnte sagen mit Wut und Ausdauer, in Leipzig. Die Hauswirtin musste ihm abends nicht nur die gefüllte Petroleumlampe bringen, sondern auch noch die Petroleumkanne dazu. Um diese Zeit trug sich eine den Charakter der Paul’schen Brüder recht bezeichnende Geschichte zu. Theodor und Carl konnten sich zu jener Zeit und wohl schon vorher nicht recht verstehen. Sie mieden einander und Carl, seiner Zeit Pfarrer in Lorenzkirch, kannte nicht einmal die Wohnung seines Bruders in Leipzig. Dieser sitzt eines Vormittags am Schreibtisch seiner zu ebener Erde liegenden Bude bei einer Arbeit, in deren Verlauf er sich ein oben im Regal stehendes Buch holen will. Er steigt auf einen Stuhl und sieht von dieser Höhe seinen gerade vorbeigehenden Bruder Carl. Welch ein Zufall, denkt er: Läuft ans Fenster und ruft seinen nicht weniger erstaunenden Bruder herein, den er mit den Worten empfängt:

„Carl, welch ein Zufall, ich steige auf den Stuhl und kann dadurch auf die Strasse sehen, wo Du gerade vorbeigehst“.

Carl entgegnete:

„Was sagst Du da, ein Zufall, nein eine göttliche Vorsehung führte uns heute hier zusammen, wir sollen uns wieder verstehen lernen.“

Da nun der eine auf dem Zufall bestand, der andere aber auf der Vorsehung, so ergriff nach kurzem Wortwechsel Carl seinen Hut und ging von dannen.

Etwa 1900 wurde Theodor a.o. Professor in Tübingen. Kam dann als Abteilungsdirektor, etwa 1903, an das Reichsgesundheitsamt in Berlin, wo er ein paar Jahre wirkte, um dann einem Ruf als Professor der Chemie nach München zu folgen, wo er bis zu seinem Lebensende blieb.

Zu erwähnen wäre auch, dass er seine einjährige Militärzeit beim Schützenregiment in Dresden gleichzeitig mit seinem Bruder Martin (Martin Paul 1864-1932) durchmachte, und dass er schliesslich Reserveleutnant wurde. Die Uniform zog er 1914 wieder an. Und hat zu dieser Zeit wohl auch bei der Ausbildung von Rekruten mitgewirkt. Er war von normaler Körpergrösse, wurde aber mit den Jahren, da er auf sehr gutes Essen und Trinken hielt, recht korpulent.

Er besass eine mit grosser Energie begabte Natur, der es neben Gelehrsamkeit nicht an ungemein praktischer Veranlagung fehlte, um seine Pläne in rechter Weise zu verwirklichen. Alles das ein Paul’sches Erbteil. Auch er, wie sein Bruder Fürchtegott, schloss sich sehr an meine Mutter an, und so spielte er in unserem engeren Kreise eine gewisse Rolle, besonders im Hinblick darauf, dass er erst mit 45 Jahren heiratete, und ein ausgeprägter Familiensinn ihn bewog, meinen Geschwistern gegenüber nach dem Tode unseres Vaters eine Art guter Onkel zu sein. Mit Deinem Vater unternahm er Badereisen, wobei er durch die Geselligkeit jungen Volkes auch auf seine Rechnung kam. Jedenfalls blieb er bis zu seinem Tode mit uns in enger Freundschaft verbunden. Seine Liebe zur Heimat bewog ihn, in Lorenzkirch das Anwesen neben der Pfarre, wo sein Vater als Emeritus wohnte, zu erwerben und auszubauen als einen Treffpunkt des grossen Familienkreises der Pauls – Poetzsch – Ruppel – und Müller. Es ist dort manches frohe Familienfest gefeiert worden.

Im Jahre 1907 heiratete Onkel Theodor die Tochter Elisabeth (Elisabeth Bertha Ruppel 1884-1959) des Oberpfarrers Ruppel (Georg Wilhelm Ruppel *1848-1924) in Radeburg, geb. 1884. Sie lebt heute noch in München, schon seit längerer Zeit sehr leidend. Durch den gemeinsamen Besuch der Fürstenschule in Meißen Deines Vaters und seines Bruders Albert (Karl Albert Poetzsch 1880-1915) mit Julius und Karl Ruppel kam es auch mit deren zahlreichen Geschwistern zu enger Freundschaft und meine Mutter konnte ihrem Bruder keine zu ihm passendere Frau empfehlen als die Elisabeth. Zwei andere Brüder von Elisabeth waren Pfarrer in Lorenzkirch (Johann Heinrich Emil Friedrich Ruppel 1875-1956) und in Strehla (Heinrich Ruppel 1882-1956). Von den sechs Kindern (Vettern und Kusinen Deines Vaters) leben noch zwei Brüder und zwei Schwestern.

Der älteste, Walter Paul (Walter Paul 1908-1978) studierte Chemie. War dann Dozent an der Universität Erlangen, ging aber zur Industrie über. Kam während des Krieges nach Spanien und lebt jetzt in Barcelona. Seine erste Ehe (Maria Rieth *1907) endete freundschaftlichst mit Scheidung. Die zweite Frau Leni Devantier (Vater deutsch, Mutter spanisch) ging ihm vor zwei Jahren nach Südamerika durch. Aus dieser Ehe ist ihm ein hübscher flotter Junge, Carlos geblieben. Walter ist im Gesichtsausdruck, besonders durch die Nase, seinem Grossvater Paul ähnlich, von dem er auch manche gute Eigenschaft geerbt hat.

Wolfgang Paul (Wolfgang Paul 1913-1993), ein paar Jahre jünger als Walter, ist Professor und Atomwissenschaftler an der Universität Bonn. Er gilt als eine Leuchte der Wissenschaft. (Anm.: Wie wahr: er erhielt – nach dem Tode Onkel Georgs – den Nobelpreis) Ähnelt Pauls und Ruppels, verbindet also gute Eigenschaften dieser beiden Familien. Er ist verheiratet mit Frau Lotti (Liselotte Hirsche 1917-1977) einer sehr hübschen und freundlichen Dame aus Hamburg. Ich besuchte ihn im Sommer 1956 in Bonn, zu welcher Zeit drei frische und muntere Kinder vorhanden waren im Alter von 10 bis 14 Jahren. Der Junge hieß Lorenz, die Mädchen Jutta und Regine.

Werner Paul (Werner Paul 1921-1945) war das jüngste der Kinder. Er starb 1945 als Arzt in einem Lazarett.

Erika Paul (Erika Paul 1909-1979) war mit dem inzwischen verstorbenen Erlanger später Würzburger Professor Dietzel (Richard Dietzel 1891-1962) verheiratet. Kinder sind vorhanden. Einzelheiten davon sind mir jedoch nicht bekannt. Eine andere Tochter, deren Namen ich im Augenblick nicht erinnere (Elisabeth) lebt bei der Mutter in München.

Sophie Paul

Das jüngste Kind der Grosseltern Paul in Lorenzkirch war Sophie (Sophie Paul 1869-1886). Ich habe sie nur ganz dunkel in Erinnerung, denn sie starb im Alter von etwa 18 Jahren an Tuberkulose. Bei der Aufzählung der Lorenzkircher Geschwister muss ich einer guten Frau gedenken, die in der Familie Paul wie eine Schwester galt, die beste Freundin und Vertraute meiner Mutter war, und die uns Skässcher Kinder bei Abwesenheit unserer Mutter wie eine Mutter betreut hat.

Tante Lenchen (Lenchen Zürn 1855-1943) war die Tochter des Pfarrrers Zürn (Bernhard Alexander Zürn 1808-1881), der in zweiter Ehe mit einer Schwester unseres Grossvaters Paul verheiratet war. Dieser war also ihr Stiefonkel. Wahrscheinlich ist sie schon als recht junges Mädchen nach Lorenzkirch gekommen und nach der Heirat meiner Mutter wohl ständig dort zur Hilfe der Grossmutter geblieben, die sie bis zu ihrem Tode 1894 treu gepflegt hat. Dann führte sie viele Jahre hindurch dem Onkel Theodor die Wirtschaft in Leipzig, Tübingen, Berlin und München bis zu seiner Verheiratung 1907. Sie hatte dann zusammen mit einer Nichte eine Pension für junge Mädchen in Altenburg. Dort ist sie 1943 im Alter von 88 Jahren gestorben.

Martin Paul

Nun bleibt mir nur noch übrig, über Onkel Martin (Martin Paul 1864-1932), den jüngsten Sohn der Familie Paul in Lorenzkirch zu schreiben. Ihm gehörte das Haus Osterdeich 23 in Bremen, dessen Photographie sich zufälligerweise mit den Schlachtenseer Bildern auf einem Albumblatt befand, und das Dich zur Frage veranlasste, welche Bewandtnis es mit dem Osterdeich habe, der wie ich schon am Anfang des Briefes erwähnte, für mich und meinen Lebensweg sehr viel bedeutet hat.

Nach Berichten meiner Mutter, die neun Jahre älter als ihr jüngster Bruder Martin war, soll dieser, geboren 1864, von frühster Kindheit an ein fixer Bengel gewesen sein, der sich überall nützlich oder auch unnützlich machte, und den jeder gerne mochte. Besondere Ereignisse aus seiner Kindheit sind mir nicht überkommen. Er besuchte die Realschule mit Progymnasium in Grossenhain, von wo er oft nach dem sechs Kilometer entfernten Skässchen kam, wo seine Schwester, Deine Grossmutter, seit 1878 verheiratet war. Mit etwa 17 Jahren erhielt er durch die Vermittllung seines Bruders Carl, der in Bremen Hauslehrer war, eine Lehrstelle in einer Bremer Tabakimportfirma, in deren Auftrag er nach Beendigung seiner dreijährigen Lehrzeit Mitteldeutschland und Schlesien bereiste zwecks Verkaufs der importierten Tabake an Zigarrenfabriken. Aus dieser Zeit erzählte er gern heitere Vorkommnisse, wie sie einem flotten Tabaksreisenden wohl zustossen können. Eines davon, das ihn recht charakterisiert, und das er mit grosser Anschaulichkeit zu erzählen wusste, will ich hier wiedergeben: Zwischen einer importierten Partie Tabak gab es immer einige Fässer oder Ballen, deren Qualität weniger gut ausfiel, aber von der Kunst des Verkäufers wurde verlangt, gerade bei der Unterbringung einer solchen Ware seine Befähigung zu beweisen, ohne dabei den Kunden über ein gewisses Mass hinaus zu verärgern. Also ein solches Fass, das ja erst von Bremen geliefert werden sollte, brachte der Onkel bei einem Zigarrenfabrikanten unter, indem er mit dem Aufwand der angeborenen Liebenswürdigkeit seines Wesens die Vorzüge gerade dieses Tabaks rühmte. Im Laufe dieses Geschäftsabschlusses hatte man sich sogar angefreundet und man schied erfreut von der gegenseitigen Bekanntschaft. Nach einigen Wochen auf der Rückreise besuchte der Onkel in Erinnerung des freundlichen Abschiedes diesen Kunden wieder, der inzwischen wohl die Lieferung erhalten haben mochte. In der gleichen freundlichen Weise begrüsste er nun nach dem Betreten des Kontors die dort versammelten Herren. Er war erstaunt, dass man von seinem Eintreten und Gruss keine Notiz nahm, wiederholte den Gruss, und da auch dann noch niemand sich regte, sagte er: „Aber meine Herren, Sie kennen mich wohl nicht wieder“, worauf der Buchhalter sich ihm zuwendete und sagte: „Ihnen sollten mir nicht kennen!“ Das war die Quittung für den inzwischen erhaltenen Tabak. Der Geschäftsgewandtheit des Onkels soll es gelungen sein zu erreichen, dass man sich auch diesmal als Freunde trennte.

Nachdem Onkel Martin gleichzeitig mit Bruder Theodor seiner einjährigen Militärzeit beim Schützenbataillon in Dresden genügt hatte, und nach einer achtwöchigen Übung Vicefeldwebel und Offiziersanwärter geworden war, ging er nach Bremen zurück, und entschloss sich zusammen mit einem anderen jungen Bremer Kaufmann, dessen Onkel die Sache finanzieren wollte, in Klein Popo/Togo und in Grand Popo/Dahomey ein Geschäft zu beginnen. In jenen Zeiten, es war im Jahr 1888, war es noch möglich an der Westküste Afrikas mit wenig Kapital aber mit umso mehr Geschäftstüchtigkeit selbst mit kleinen Umsätzen gut voranzukommen. Allerdings war das Risiko gross, die Zeit an der afrikanischen Küste ohne Erkrankung zu überstehen, da die dem Lande eigentümlichen Krankheiten (Malaria, Gelbfieber, Amöbenruhr, Schlafkrankheit, usw.) wenig erforscht waren, und daher der Tod unter den Europäern viele Opfer forderte. Die Geschäfte sind wohl recht gut gegangen, denn nach wenigen Jahren löste Onkel Martin die seitherige Verbindung, gründete in Bremen die Firma M.Paul und begann seine eigenen Geschäfte in Togo und Dahomey zunächst unter Mitwirkung zweier ihm gut bekannter eingeborenen Händler. Ausserdem hatte er im Verkehr mit der immer grösser werdenden Zahl von Regierungsbeamten gemerkt, dass diese eine sichere und zahlungskräftige Kundschaft waren, in deren Interesse es lag, eine direkte Bezugsquelle für ihre zum Ausrüstungs- und Lebensbedarf benötigten Dinge zu besitzen. Onkel Martin nahm deshalb dieses Belieferungsgeschäft auf, und er dehnte es mit der Zeit auf sämtliche deutschen Kolonien aus (Samoa, Neuguinea, Südseeinseln, Kiautschau, Ostafrika, Südwestafrika, Kamerun und Togo). Womit er bis 1914 einen grossen Erfolg hatte. 1902 gründete er mit Berliner kolonialfreudigen Kreisen die Deutsche Togogesellschaft, ein Pflanzungs- und Handelsunternehmen, dessen Handelsbetrieb unter seiner Leitung in seinen Bremer Geschäftsräumen domiziliert war. Für diese Gesellschaft bin ich 1903 zum ersten Mal nach Togo gekommen. 1906 rief er in Gemeinschaft mit einem angesehenen Bremer Kaufmann ein neues koloniales Handelsunternehmen ins Leben mit Wirkungskreis in französisch Dahomey, wo ich bereits 1904/1905 in seinem Auftrage bei der Abwicklung seiner Geschäfte mit den beiden oben erwähnten Händlern tätig war. Im Januar 1907 reiste ich für die neue Gesellschaft nach Dahomey, als deren Geschäftsführer ich bis Kriegsausbruch 1914 gearbeitet habe.

Mit obiger Schilderung wollte ich Dir in Umrissen den Aufstieg und den geschäftlichen Wirkungskreis Onkel Martins darlegen. Diese umfangreiche koloniale Geschäftsbetätigung brachte ihm auch gute Erfolge, die er vor allem seiner unermüdlichen Arbeit, seiner Klugheit, seiner praktischen Begabung und seinem redlichen Erwerbssinn zu verdanken hatte. Außerdem besass er die Befähigung die Auswirkungen seines Handelns in der Zukunft richtig einschätzen zu können. Seine Unternehmung begann er mit viel Optimismus, ohne sich von anfänglichen Rückschlägen entmutigen zu lassen; aber niemals unternahm er Geschäfte, deren Ergebnisse die Folgen einer Spekulation waren.

Während des Krieges von 1914 wurde sein im Handel ausserhalb Deutschlands arbeitendes Vermögen eine willkommene Beute der Engländer und Franzosen, die in ihrem Bestreben, die deutsche Konkurrenz aus kolonialer Betätigung immer zu verdrängen, auch noch deren Arbeitsgebiete für viele Jahre sperrten. Durch diese Massnahmen sind die meisten deutschen Kolonialunternehmungen zum Erliegen gekommen. Erst 1927 konnte die Deutsche Togogesellschaft wieder mit einem Betrieb in Togo beginnen, wo inzwischen Engländer und Franzosen in unseren alten Niederlassungen sassen. Ein in der Übergangszeit in Kolumbien begonnenes Unternehmen, wohin Onkel Martin eine Reise unternahm, brachte nur wenig Freude. Mir wurde 1929 der Auftrag gegeben, diese Geschäfte wieder zu liquidieren. Bis zu seinem Ableben im April 1932 am Herzschlag war er dann im Geschäftsbereich der Deutschen Togogesellschaft in Togo und Kamerun tätig.

Auf die Schilderung der geschäftlichen Tätigkeit folgen nun Mitteilungen aus dem Leben im Hause Osterdeich 23.

Über die Zeit bis zu meiner Übersiedlung nach Bremen 1898 war ich über das häusliche Leben des Onkels nur ganz oberflächlich unterrichtet, da einem so was als Junge nichts angeht. Ich wusste nur, dass er seit 1893 mit der Tochter Luise (Luise Margarethe Borchers 1865-1952) eines Bremers Gutsbesitzers verheiratet war, mit der er uns in Skässchen besuchte und die wegen ihrer Schönheit und ihres feinen zurückhaltenden Wesens bei uns allen Eindruck hinterlassen hatte. Ich kann wirklich nur von großem Glück sagen, dass mich mein Lebensweg als junger Mensch zur Familie dieses Onkels und dieser Tante geführt hat, also zum Osterdeich in Bremen. Diese bewohnten schon damals das Haus am Osterdeich, zu jener Zeit noch einstöckig und gerade für eine kleine Familie ausreichend. Einige Jahre später wurde es durch Umbau wesentlich vergrössert. Seit 1893 war die Familie um eine kleine Kusine namens Luise (Luise Paul 1895-1951) grösser geworden, und zwei Tage vor meiner Ankunft in Bremen wurde die zweite Kusine, Grete (Margarete Paul 1898-1972), geboren. Ich kam daher zur Schwester von Tante Luise ins Haus, die ich Tante Anna (Anna Margarethe Borchers *1860) nannte, und die kinderlos mit einem Bremer Kaufmann verheiratet war, von dem sie getrennt lebte. Da häuslich gesinnte Frauen mit Herzensgüte stets bereit sind bei passender Gelegenheit jemanden zu bemuttern, so hatte ich es sehr glücklich getroffen. Ihre Eltern besassen einen ansehnlichen Gutshof, oder sagen wir Bauernhof, etwa sechs bis acht Kilometer von Bremen entfernt im Dorfe Huchtingen, Bremer Landgebiet. Onkel Martin war, wohl nicht lange nach seiner Übersiedlung nach Bremen, von anderen jungen Kaufleuten dort eingeführt worden, da die beiden jungen Schwestern zusammen mit zwei Brüdern viele Beziehungen zu gleichaltrigem jungen Volk in Bremen unterhielten. Den Vater, Arnold Borchers (Arnold Johannes Borchers1834-1893), habe ich nicht gekannt, da er vor meiner Zeit, mit etwa 60 Jahren einem Schlaganfall erlag. Er war ein tüchtiger und angesehener Bauer, gross und stattlich mit dem in dortigem Lande üblichen Halskrausenbarte. Die beste Charakteristik von ihm ist wohl die, wenn man ihn als Urbild niedersächsischen Bauerntums bezeichnet, Leute von derbem und stolzem Schlage, die vor Zeiten mehr als einmal sich mit den Waffen gegen die Herrschaft der Bremer Bischöfe und Oldenburger Herzöge mit Erfolg auflehnten. „Bin ich nicht wie ein König?“, so sagte er einmal zu seiner noch jungen Tochter Luise, als sie beide vor dem Hofe standen und über Wiesen und Felder ihres Besitzes blickten. Seine Frau (Louise Friederike Kriete 1834-1925) war klein, und sie hatte, als ich sie mit ihren 63 Jahren kennenlernte, die rundlichen Formen einer tüchtigen Gutsfrau. Sie war von bürgerlichem Herkommen aus Bremen Stadt, und mit Herz und Charakter jener vorzüglichen Frauen begabt, wie sie uns unsere norddeutschen Erzähler in ihren Geschichten rühmend schildern. Unterstützt von ihrem jüngsten Sohne (Johannes Borchers 1869-1920) führte sie damals Hauswesen und Wirtschaft wie es zu Lebzeiten ihres Mannes gewesen war. Wie in Niederdeutschland üblich, bilden die Dörfer meist keine geschlossenen Siedlungen, sondern von Nachbar zu Nachbar liegt schon mal, von Wassergräben durchzogen, Wiese, Feld oder ein kleiner Eichenwald. So lag auch dieses Borcher’sche Gut mitten in ländlicher Natur für sich allein in schönem Garten zwischen Obstbäumen und Eichen.

Da Dein Ururgrossvater Poetzsch (*um 1810) aus einem Bauerngut in Audenhain stammt, und Deine Urgrossmutter Poetzsch geb. Hensel (1810-1873) aus einem Bauerngut in Pausitz, und in Skässchen das Pfarrgut von Deinen Urgroßeltern und Großeltern bewirtschaftet wurde, und im Übrigen, soweit wir nach rückwärts geforscht haben, die Vorfahren Deines Vaters das Leben auf dem Lande höher schätzten als dasjenige in der Stadt, so wirst Du mein Vergnügen verstehen, mit dem ich bei passenden Gelegenheiten nach Huchtingen fuhr. In guten Jahreszeiten war das fast jeden Sonntag in großer Familie: Onkel Martin, zwei Tanten und zwei kleine Kusinen. Frau Borchers ist im hohen Alter von etwa 90 Jahren verstorben. Ihre Tochter, meine mütterliche Tante Anna, schon viele Jahre vorher.

Wie der Osterdeich und das Haus Nr. 23 darauf aussieht, ist Dir durch die kleinen Photos, die die Ursache zu diesem Briefe geworden sind, bekannt. Der Deich erstreckte sich viele Kilometer längs der Weser und verhinderte die Überflutung der östlichen Vorstadt bei Hochwasser. Auf dem Deich, mit Aussicht auf die Weser und den sich am anderen Ufer erstreckenden Werder, hatten sich schon seit langer Zeit die wohlhabenden Bremer Familien ihre Häuser gebaut. Es waren sehr schöne Anwesen mit grossen Gärten darunter, aber auch eine Anzahl kleinere, von denen Onkel Martin bei sich bietender Gelegenheit, etwa 1896, eines erwarb, und, wie er mir sagte, besonders deshalb, weil die Weser und die Wiesen vor dem Hause ein gleiches Bild boten wie Elbe und Wiesen vor seinem Heimathaus, der Pfarre in Lorenzkirch. Im Verlaufe von 45 Jahren bin ich dort aus- und eingegangen, habe auch lange Zeit darin gewohnt bis es 1943 durch Bombenwurf getroffen und zerstört wurde. Die Erinnerungen an jene 45 Jahre sind aber noch in mir wach, und sie gehören zu den schönsten, die ich mir bewahrt habe.

Als ich nach Bremen kam, war Onkel Martin noch jung an Jahren, von stattlicher Erscheinung, mit rotblondem, grossem Schnurrbarte und von frischer Gesichtsfarbe. Er mochte seinem viel älteren Bruder Fritz in vieler Hinsicht ähnlich sein, und dies nicht nur in der äusseren Erscheinung. Ihn zeichnete ein ungewöhnlich freundliches, liebenswürdiges und gefälliges Wesen aus, und ich habe ihn wohl nie zornig und scheltend gesehen. Er entwickelte gern ein grosses Erzählertalent, wenn er von seinen Streichen als Junge in Lorenzkirch oder von seinen Reisen und Erlebnissen in Afrika berichtete, auch floss ihm das Wort leicht und anschaulich aus der Feder, einerlei, ob es Geschäfts- oder Privatbriefe waren. Seine Begabung, für irgendwelche Schwierigkeiten eine, ich könnte fast sagen: die beste Lösung zu finden, war erstaunlich. Ebenso wie sein Vater war er ungemein freigebig und liess jeden zu seinem Rechte kommen. Vielleicht lag ihm manchmal das Geld zu locker in der Tasche, wenn es ihm galt, sich und seiner Familie, wobei ich oft dazu gehörte, eine Lebensfreude zu machen. War ich zunächst sein junger Neffe, dem er mit väterlichen Ratschlägen zur Seite stand, so wurde ich mit der Zeit sein Freund und Vertrauter, dem er auch von seinen Sorgen mitteilte. Das in seinen Folgen nachhaltigste Ereignis seines späteren Lebens, er war gerade 50 Jahre alt, brachte der Krieg 1914, dessen Ausbruch ihn auf einer Reise nach Togo, Kamerun und Dahomey überraschte.

Ich war mit ihm zusammen auf einer unserer Handelsstationen im Hinterlande von Dahomey, als wir unvorbereitet die Nachricht erhielten. Onkel Martin, der nicht den Franzosen in die Hände fallen wollte, entkam nach einem Marsch durch unwegsame Gebiete nach Togo, was bald von den Engländern, unterstützt von den Franzosen, erobert wurde. Krankheitshalber und im Hinblick auf sein Alter wurde ihm erlaubt, nach den kanarischen Inseln zu reisen, von wo er erst 1919 nach Bremen zurückkommen konnte. Sein Lebenswerk war inzwischen vernichtet. Mich internierten die Franzosen zunächst in Dahomey, dann am Senegal und Ende 1915 in einem Lager in Südfrankreich, von wo es mir im Mai 1916 gelang, nach Spanien zu entkommen.

Nun noch einen kurzen Bericht über die übrigen Bewohner des Hauses am Osterdeich. Tante Luise (Luise Margarethe Borchers 1865-1952) war eine sehr anmutige Erscheinung mit zurückhaltendem, ja man könnte sagen: stolzem Wesen, das blaue Augen und hellblondes, feines Haar verbunden mit ausdrucksvollen wohlgebildeten Gesichtszügen gaben ihr ein nicht alltägliches Aussehen. Obgleich sie darauf hielt, sich gut und elegant zu kleiden, war ihr aller äußerlicher Tand und ein gesuchtes unnatürliches Wesen zuwider. Das Hauswesen führte sie mit grosser Umsicht in der von ihrer Mutter übernommenen Art, wobei, wohl dem Wunsche des Onkels besonders Rechnung tragend, auf reich beschickte Tafel Wert gelegt wurde. Als einmal Onkels Anwesenheit in Togo im Jahre 1908 einen längeren Aufenthalt erforderte, begleitete sie ihn dorthin. Die damaligen, noch recht primitiven Lebensbedingungen in den Kolonien verursachten bei Aufenthalt und Reisen manche Beschwerden. Sie liess sich jedoch durch nichts aus ihrem Gleichmut und der jederzeit frohen Laune bringen, selbst als sie einmal zusammen mit ihrem Manne unter recht beschwerlichen Umständen eine Woche lang abwechselnd zu Fuß und mit Hängematte auf Negerpfaden durch den Busch nach Dahomey zog, um mich aufzusuchen.

Sie hat ihren 1932 verstorbenen Mann gerade 20 Jahre überlebt. Nach Zerstörung ihres Hauses am Osterdeich lebte sie bei ihren verheirateten Töchtern in Bremen, wo sie im Alter von 87 Jahren gestorben ist. Luise (Luise Paul 1895-1951), die älteste Tochter, war hochgewachsen mit rotblondem Haar, blauen Augen und hübschen, immer freundlichen Gesichtszügen. Sie glich im Wesen eher dem Vater als der Mutter. Sie heiratete den sehr wohlhabenden Bremer Kaufmann und Fabrikanten Adolf Lange (Adolf Lange 1892-1973), hatte nur ein einziges Kind, einen Sohn Rolf Gerhard Lange, der inzwischen verheiratet ist und einmal das väterliche Geschäft übernimmt. Luise starb nach kurzer Krankheit im Jahre 1951.

Die zweite Tochter, Margarete (Margarete Paul verh. Wagner-Hohenlobese, Koch, Herbst 1898-1972), genannt „Grete“, ist ihrem Wesen nach in die Familie der Borchers zu rechnen. Auch sie hat blaue Augen, aber im Gegensatz zu ihrer Schwester, die hellblonden Haare der Mutter. Grosse Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit verbindet sie mit energischem Auftreten dort, wo es darauf ankommt. Alles in allem ist sie eine hübsche und anmutige Frau zu nennen. Von ihrem ersten Manne, einem Offizier, wurde sie geschieden. Ihr zweiter Mann, ein Bremer Kaufmann, starb während des Krieges. Vor ein paar Jahren heiratete sie zum dritten Male. Es ist der Schwager ihres verstorbenen Mannes, ein Bremer Kaufmann, Theodor Herbst, mit dem sie in sehr glücklicher Ehe lebt. Grete hat keine Kinder.

Als ich mich hinsetzte, um Dir auf Deine Frage nach dem Osterdeich zu antworten, glaubte ich, solches mit einer Briefseite wohl erledigen zu können. Aber ich hatte nicht mit der Fülle der Erinnerungen gerechnet, die plötzlich munter wurden, und von denen jede sich wertvoll genug hielt, Dich davon zu unterrichten, welcher Art die Vorfahren und Blutsverwandten mütterlicherseits Deines Vaters gewesen sind. Mir wurde klar, dass ich Dir, soweit ich es konnte, alle diese schon gestorbenen Menschen soviel als möglich nahe bringen müsste. Nicht durch nüchterne Zeitangaben allein über ihr Dasein konnte das geschehen, sondern durch Schilderung ihres Charakters, der durch eine im Familienkreis forterzählte Eigentümlichkeit, die sich auf Lebensweise oder auf die Art der Berufsausübung erstreckt, am besten offenkundig wird. Auch die körperliche Beschaffenheit zu schildern, habe ich nicht vergessen, da sie ebenso viele Hinweise auf die Frage: „Woher kommst Du?“ gibt. Ausser meinen persönlichen Erlebnissen, die bis zu Deinen Urgrosseltern reichen, erzähle ich nur, was ich von meiner Mutter gehört habe, die eine sorgliche Pflegerin von Familienüberlieferung gewesen ist. Dreizehn lange Seiten zählen meine Aufzeichnungen. Fast kam ich mir vor wie Dein Ururgrossvater, der Pastor Heyme, der, nachdem er emeritiert worden war, begann seine Bücherei umzuräumen. Er wurde niemals damit fertig. Der Tod überraschte ihn im 88. Lebensjahr bei dieser Arbeit, und ich wollte es doch darauf nicht ankommen lasse.

In einer besonderen Sendung erhältst Du, so zu sagen als sichtbare Erläuterung zu diesem Schreiben, einige Photos. Die von Bremen wollte ich eigentlich verbrennen, doch meine ich, das könntest Du immer noch tun, nachdem Du Dir Deinen Grossonkel Martin, Deine Grosstante Luise und Deine Tanten Luise und Margrete angesehen hast, Grete Herbst wohnt Schwachhauser Heerstr. 335, und solltest Du mal nach Bremen kommen, so würde sie sich wohl freuen, Dich zu sehen.

Zum Schluss weise ich auf einen mir gerade jetzt zugekommenen Zeitungsartikel hin, „Blut – der besondere Saft“, den ich Dir zugehen lasse und worin eingangs gesagt wird:

Während wir an Tieren und Pflanzen Experimente vornehmen können, um die Gesetze zu erforschen, nach denen sich bei den Nachkommen Eigenschaften der Vorfahren wiederfinden, ersetzt im humanen Bereich das rückschauende Beobachten schon vorhandener Tatsachen die vorbereiteten gelenkten Experimente.

Herzliche Grüsse,
Dein Onkel Georg (Paul Georg Poetzsch 1882-1968)