Mai 292014
 

Ein Plädoyer für eine bessere und ökonomisch sinnvolle Bildungspolitik.

Von Manfred Spitzer

Die Bildungspolitik verläuft nicht nur in weiten Teilen chaotisch, sie setzt vor allem das vorhandene Geld nicht effizient ein. 

„Ein System ist eine Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen sind und in einer Weise wechselwirken, dass sie als eine aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können.“ Nimmt man diesen System-Begriff ernst, dann gibt es in Deutschland kein Bildungssystem, sondern allenfalls systematische Unbildung. Die Konsequenzen für das Leben der Menschen sind verheerend, und dieser Zustand ist insgesamt für den Fortbestand unseres Wohlstands und unserer Gesellschaft bedrohlich.

Die Neuroplastizität des Gehirns und damit die Lerngeschwindigkeit sind im Kindergartenalter am höchsten, in der Schule schon deutlich geringer und im Erwachsenenalter gering, wie sich auch an der entsprechenden Abnahme der Bildungsrendite zeigen lässt.

Rendite von Bildungsinvestitionen

Rendite von Bildungsinvestitionen
© Handelsblatt

Wenn dem (erwachsenen) Leser diese Grafik nicht gefällt, bedenke er, dass sich das Gehirn nicht wie eine Festplatte verhält, in die nur noch halb so viel hineinpasst, wenn sie halb voll ist. Wer schon fünf Sprachen beherrscht, lernt die sechste deutlich schneller als jemand, der nur seine Muttersprache spricht. Denn es gilt: Je (aus)gebildeter das Gehirn des Erwachsenen ist, desto besser und mehr kann es noch dazulernen. Das menschliche Gehirn verhält sich damit wie eine paradoxe Festplatte: Je mehr schon drin ist, desto mehr passt noch hinein. Daraus folgt: Für lebenslanges Lernen sorgen wir in Kindergarten und Grundschule. Und es folgt auch: Wer mit 20 noch nichts gelernt hat, wird sich später mit dem Lernen sehr schwertun.

Genau deshalb wird in allen Hochkulturen großer Wert auf die Bildung der Kinder und Jugendlichen gelegt. Aus dieser Sicht ist es neurowissenschaftlich und gesellschaftspolitisch systematisch falsch, dass hierzulande der Staat für den Kindergarten Geld verlangt, für die berufliche Bildung aber Geld gibt. So gesehen sind die Milliarden der Bundesanstalt für Arbeit für berufliche Weiterbildung schlecht investiert – sie gehören in Kindergärten und in die Grundschulen gesteckt.

Warum geschieht dies nicht? – Weil Kinder bei Wahlen keine Stimme haben und sich Investitionen im Bildungsbereich erst nach Jahrzehnten positiv auswirken. Der Zeithorizont von Politikern reicht jedoch bis maximal zur nächsten Wahl, was systematische Fehlinvestitionen zur Folge hat.

Gehirne und Computer sind sehr verschieden. Im Gegensatz zu meinen Computer, der seit seiner Anschaffung nicht leistungsfähiger geworden ist, bildet sich das Gehirn eines Neugeborenen in Auseinandersetzung mit der Welt, und das Resultat dieses in den ersten beiden Lebensjahrzehnten stattfindenden Prozesses nennen wir Bildung: Vom Laufen, Sprechen und Sich-Benehmen über den Erwerb von Schrift und Weltwissen durch begreifen bis hin zu speziellen Fähigkeiten wie Mathematik und naturwissenschaftlich-technischem Grundverständnis sowie der Reflexion gesellschaftlicher und kultureller Zusammenhänge erwerben Kinder und Jugendliche über die Veränderung ihrer Milliarden von Synapsen eine Gehirn-Bildung, die im Erwachsenenalter dann für ein leistungsfähiges Gehirn sorgt.

Im Gegensatz zu meinem Computer, der gelegentlich „abstürzt“, stürzen Gehirne nicht ab. Sie weisen im Gegenteil die Eigenschaft auf, mit Würde kaputtzugehen. Und je gebildeter ein Gehirn in Kindheit und Jugend wurde, desto widerstandsfähiger ist es beim Kaputtgehen. Daher kann ein gebildetes Gehirn deutlich kränker sein als ein ungebildetes, ohne dass man das merkt. Daher ist Bildung in Kindheit und Jugend die beste Versicherung gegen vorzeitigen geistigen Abbau.

Wer etwa zweisprachig aufgewachsen ist und zeitlebens die zweite Sprache bei Gelegenheit spricht, bekommt die Symptome einer Alzheimer-Demenz mit einer Verspätung von etwa fünf Jahren. Dabei ist es nicht so, dass die krankheitsbedingten pathologischen Ablagerungen von Plaques und Fibrillen später auftreten; vielmehr verfügt ein gut gebildetes Gehirn über mehr Reserven, die es nutzen kann, wenn die Hardware langsam kaputtgeht. Da Zweisprachigkeit in den meisten Fällen nicht das Resultat von Begabung ist, sondern durch die Umstände bedingt ist, zeigt diese Studie die Auswirkungen geistiger Tätigkeit auf einen späteren geistigen Abstieg sehr klar. Es gibt übrigens kein Medikament, mit dem sich das Auftreten einer Demenz auch nur annähernd so gut verzögern ließe, wie dies für Zweisprachigkeit nachgewiesen ist. Krankhafte Veränderungen bei Alzheimer-Demenzwerden also durch geistige Tätigkeit nicht verhindert. Vielmehr kann ein gebildeter Geist deutlich kranker sein als ein schwacher Geist, ohne dass man das merkt. Man kann sich die Zusammenhänge genauso vorstellen wie im körperlichen Bereich auch: Ein Gewichtheber, der an Muskelschwund erkrankt, wird über längere Zeit noch kräftiger sein als die meisten anderen Menschen, die nicht an einer Muskelkrankheit leiden. Bei der geistigen Leistungsfähigkeit verhält es sich im Prinzip genauso, nur ist hier der Effekt deutlich größer, denn das Gehirn ist flexibler als jedes andere Organ in unserem Körper, einschließlich der Muskeln.

Ausgaben für Bildungseinrichtungen je Schüler bzw. Studierenden

Ausgaben für Bildungseinrichtungen
© Handelsblatt

Digitale Informationstechnik (IT) nimmt uns geistige Arbeit ab, und genau deswegen haben Computer in die Welt des geistigen Arbeiters flächendeckend Einzug gehalten. Lernen jedoch setzt selbst getätigte Geistesarbeit voraus: Je mehr und vor allem je tiefer man einen Sachverhalt geistig bearbeitet, desto besser wird er gelernt. Daher führen Tablets, Laptops und Smartboards im Unterricht zunächst immer zwangsläufig zu schlechterem Lernen. Hinzu kommt, dass auch elektronische Lehrbücher das Lernen verhindern, denn Lesen bildet, Daddeln – und dazu verleiten anklickbare Videos und Hyperlinks – hingegen nicht.

Durch gute Studien nachgewiesen ist weiterhin: Wer schon als Kleinkind viel Zeit vor Bildschirmmedien verbringt, zeigt in der Grundschule vermehrt Störungen der Sprachentwicklung und Aufmerksamkeitsstörungen; eine Konsole verursacht nachweislich schlechte Noten im Lesen und Schreiben sowie Verhaltensprobleme in der Schule, Computer im Kinderzimmer wirken sich negativ auf die Schulleistungen aus, und im Jugendalter führen Internet und Computer zu einer Verringerung der Selbstkontrolle und zur Sucht. Weitere Folgen digitaler Medien sind Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht und Gewaltbereitschaft.

Daher ist besorgniserregend, dass Kinder heute täglich etwa doppelt so viel Zeit mit elektronischen Medien verbringen wie in der Schule.

Im Gegensatz zur laut vernehmbaren Lobby der IT-Konzerne ist keineswegs nachgewiesen, dass Lernen allein durch die Einführung von Computern und Bildschirmen in Klassenzimmern effektiver wird.

Die vorliegenden Daten zeigen das Gegenteil: Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, von der Europäischen Union und der Telekom geförderte Studie über das Lernen in Notebook-Klassen, „1000mal1000: Notebooks im Schulranzen“, konnte „insgesamt keinen eindeutigen Beleg dafür liefern, dass die Arbeit mit Notebooks sich grundsätzlich in verbesserten Leistungen und Kompetenzen sowie förderlichem Lernverhalten von Schülern niederschlägt.

Zugleich waren „die Schüler im Unterricht mit Notebooks tendenziell unaufmerksamer“, und „im Informationskompetenz-Test wurden keine Unterschiede zwischen Notebook- und Nicht-Notebook-Schülern gefunden“. Kurz: Die Computer im Unterricht führen nicht zu besserem Lernen oder gar besseren Noten; sie machten die Schüler unaufmerksamer und führten nicht einmal zu einer besseren Kenntnis im Umgang mit Computern.

Das Hamburger Notebook Projekt ergab ebenfalls keine Verbesserung der Noten, keine Verbesserung der Fähigkeit zum Umgang mit Notebooks – es zeigte hingegen eine vermehrte Ablenkbarkeit bei den Schülern mit Computern im Vergleich zu den Schülern ohne. Und eine entsprechende Studie aus Österreich (Spiel 2003) ergab ebenfalls keinerlei Verbesserung der Schulnoten durch den Einsatz von Laptop-Computern.

Weil schon Kinder im Internet einkaufen, an der Konsole spielen, über Facebook mit Freunden plaudern und mit Google ihre Hausaufgaben machen, wird oft behauptet, man könne den richtigen Umgang mit den digitalen Medien nicht früh genug lernen. Diese Ansicht entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als schwerer Irrtum.

Kinder sind keine Erwachsenen. Ihre besonders lernfähigen Gehirne brauchen bestimmte Erfahrungen, um Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn überhaupt erst bilden zu können. Betrachten wir Beispiele aus der experimentellen Psychologie und der Gehirnforschung: Wer sprechen lernt, braucht den Umgang mit sprechenden Menschen. Sitzen kleine Kinder hingegen vor Bildschirmen und Lautsprechern, bleiben sie in ihrer Sprachentwicklung zurück. Wer Kinder im Vorschulalter mathematisch besonders fördern will, der sollte Fingerspiele mit ihnen machen, denn Zahlen werden vom Gehirn über die Finger erworben, nicht durch Daddeln an einem iPad. 

Und wer handschriftlich Inhalte aufschreibt, verankert sie tiefer als derjenige, der sie nur auf einer Tastatur tippt.

Zugleich wissen wir aus der Bildungsforschung: Wer schon als Kleinkind viel Zeit vor Bildschirmmedien verbringt, zeigt in der Grundschule vermehrt Störungen bei der Sprachentwicklung sowie Aufmerksamkeitsstörungen.

In Anbetracht dieser Datenlage ist es unerträglich, wie sich Schulen dabei überbieten, mehr digitale Lernverhinderungsmaschinen anzuschaffen, und Politiker sich gerne mit solchem neuen Gerät fotografieren lassen, um ihren Reformwillen zu bekunden.

Zur Wirkungslosigkeit kommen die Nebenwirkungen: Per Internet wird mehr gelogen und betrogen als in der realen Welt. Wer sich die virtuelle Welt per Mausklick erschließt, kann deutlich schlechter über sie nachdenken als wer die reale Welt „begreift“. Und wer gelerntes Material in einer realen Dreiergruppe diskutiert, behält es besser als wer mit zwei anderen darüber per Bildschirm und Tastatur chattet. Informationen aus Suchmaschinen bleiben schlechter im Gedächtnis als Informationen aus Büchern, Zeitungen oder Zeitschriften.

Manfred Spitzer 2012
Foto: Udo Grimberg

Als Professor an einer deutschen Universitätsklinik behandle ich Patienten und bilde zugleich Studenten zu jungen Ärzten und Ärzte zu Fachärzten aus. Stellen Sie sich nun vor, ich hätte meinen letzten Patienten vor 30 Jahren gesehen und würde meine angehenden Weiterbildungsärzte mit den Worten begrüßen: „Vergessen Sie, was Sie in sechs Jahren Studium an medizinischer Theorie gelernt haben: wir haben hier richtige Patienten!“ – Undenkbar? – In der Medizin ja, in der Bildung der Normalfall!

Pädagogik-Professoren unterrichten keine Schüler. Wie können sie dies dann lehren? Wie sollen sie die Veränderungen der Schülerschaft während der letzten 30 Jahre aus eigener Erfahrung kennen?

Abhilfe wäre leicht mit einer Systemänderung zu schaffen. Ebenso wie es keine Ausbildung in Medizin ohne Patienten gibt, sollte für den Bereich der Bildung gelten: Wer Lehrer ausbildet muss auch Schüler unterrichten und wo Lehrer ausgebildet werden, müssen Schüler sein.

Nicht nur die Lehre, sondern auch die Forschung im Bereich der Bildung ist ohne System, denn zu den wichtigen, systemrelevanten Fragen, die in der Öffentlichkeit permanent diskutiert werden und an denen ganze Landesregierungen scheitern, liegen keine belastbaren wissenschaftlichen Ergebnisse vor.

Ab welchem Alter sollen Kinder in öffentlichen Bildungseinrichtungen wie gefördert werden? Soll dies in Abhängigkeit von ihrer Begabung getrennt geschehen und, wenn ja, ab welchem Alter? Welches ist die beste Klassengröße in welchem Alter bei welchem Grad der Unterschiedlichkeit der Schüler? Welche Rolle sollen elektronische Medien im Unterricht spielen? Wie lang soll eine Schulstunde dauern? Wie lange ein Schultag?

Weil keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen, an denen sich politische Entscheidungen orientieren könnten, werden diese Fragen ohne jegliche empirische Grundlage ideologisch entschieden.

Wie Kinder lernen, ist jedoch keine Frage von „Rot-Grün“ oder „Schwarz-Gelb“, sondern eine Frage, die wissenschaftlich geklärt und dann entsprechend umgesetzt gehört. Entsprechend macht es keinen Sinn, dass die Bayern anders schriftlich dividieren lernen als die Schüler in den anderen 15 Bundesländern oder dass die Ausgangsschrift völlig beliebig zu sein scheint.

Der Föderalismus in Deutschland hat eine Geschichte, die bedacht werden muss, aber die Gehirne von Kindern in München sind nicht verschieden von denen in Flensburg. Folgerichtig lehnen drei Viertel der Deutschen den Bildungsföderalismus ab. Gewiss kann man in Flensburg auf das Jodeln im Musikunterricht verzichten. Rechtfertigt dies aber 16 Länder-Kultusministerien, 16 Bildungspläne und das Leid der vielen Kinder, die aufgrund der von ihren Eltern erwarteten Mobilität umziehen müssen?

Stellen Sie sich vor, Sie unterrichten an einem Gymnasium in den neuen Bundesländern und erfahren Anfang der 90er-Jahre, dass zwölf Jahre (wie in der DDR üblich) einfach nicht genug sind bis zum Abitur, 13 müssen es sein, und alles wird entsprechend umgestellt. Wenige Jahre später erzählt Ihnen die gleiche Schulobrigkeit, dass zwölf Jahre viel besser sind als 13, und alles wird wieder zurück umgestellt.

Sachsen hat bei den neueren Pisa-Ergebnissen besonders gut abgeschnitten. Man hatte dort – gegen heftigen Widerstand – an zwölf Jahren bis zum Abitur festgehalten. Der dortige Kultusminister sagte mir einmal, er halte die guten Pisa Ergebnisse vor allem für die Auswirkung der Tatsache, dass sich Sachsen seit der Wende zwei Demotivationskampagnen für Lehrer gespart hat. Rheinland-Pfalz hat umgekehrt nie auf zwölf Jahre umgestellt und sich ebenfalls zwei Reformen gespart, wurde diese Umstellung doch mittlerweile im Westen vielerorts zumindest teilweise wieder rückgängig gemacht. So wundert ebenfalls nicht, dass es relativ gut abgeschnitten hat.

Dass solche Kampagnen von profilierungswilligen Bildungsverantwortlichen ohne jedes System und ohne jede Not vom Zaun gebrochen werden – mit schlimmen Folgen –, zeigen die beiden großen Bildungsreformen der vergangenen Dekade, die mit den Namen Bologna und G8 verbunden sind.

Beginnen wir mit dem gerade schon erwähnten achtjährigen Gymnasium (G8). Durch dessen Einführung nahm der Stress für die Schüler deutlich zu, nachmittägliche Aktivitäten in den Bereichen Sport und Musik mussten entfallen, Auslandsaufenthalte waren aus Zeitmangel nicht mehr möglich, und das freiwillige soziale Engagement Jugendlicher sank um 20 Prozent. Zugleich aber wissen wir, dass Stress dem Lernen schadet oder dass ein halbes Jahr in Frankreich sich auf die Französischkenntnisse besser auswirkt als vier Jahre Französisch-Leistungskurs.

Zugleich wollen wir soziales Engagement fördern und verlangen den Jugendlichen mehr Internationalisierung ihrer Bildung ab, nicht zuletzt deshalb, weil man die vielen positiven Seiten des Heimatlandes Deutschland nur dann überhaupt sehen kann, wenn man es von außen betrachtet. Unter dem Strich ist also alles teurer geworden, vieles ist schlechter geworden und nichts besser.

Eine Verbesserung der Internationalisierung war das definitive Ziel der zweiten großen Reform der Bildung mit dem Namen der italienischen Universitätsstadt. Mit der Bologna-Reform sollte europaweit einheitlich studiert werden, verknüpft wurde die Reform jedoch mit der Forderung nach einer Spezialisierung („Profilbildung“) der Universitäten. Heraus kamen verschulte Studiengänge – und Studenten, die sich außer für Scheinkriterien und -probleme für kaum noch irgendwelche Inhalte interessieren, sondern nur noch für bescheinigte Punkte. So degenerierte das Studium zu einer demotivierten Schnitzeljagd, und man kann es den Studenten nicht einmal übel nehmen. Sie tun nur, was wir von ihnen erwarten! 

Dank Bologna studiert man europäisch einheitlich, kann aber kaum von Mainz nach Frankfurt wechseln, weil die Studiengänge so unterschiedlich sind. Die Zahlen der ins Ausland gehenden Studenten sind denn auch seit der Einführung von Bologna nicht gestiegen, sondern deutlich gesunken. Und wer übrigens europaweit einheitlich für das Lehramt studiert hat, der darf dann wiederum nur in dem Bundesland Lehrer werden, in dem er studiert hat! Hier hat nur noch Sinnlosigkeit System!

Schulverwaltungen sollten Vorbild sein und Selbstständigkeit, Aktivität und Autonomie der Lehrenden fördern, anstatt zu reglementieren, zu demotivieren und zu gängeln, Ministerien sollten nicht ge- und verbieten, sondern zulassen, gewähren und Hilfestellung geben. Dann können Schulen blühen.

Die Möglichkeiten dazu sind da, gerade jetzt: Die Demografie macht kleinere Klassen ebenso möglich wie kleinere Schulen. Kleine Bildungseinrichtungen soll man nicht schließen, „w eil sie sich nicht mehr rechnen“, sondern erhalten. Denn in ihnen wird mehr gelernt, und zudem haben Schulen eine ganze Reihe positiver externer Effekte (welche in unserem nach Ressorts geordneten Schubladendenken untergehen).

Wo keine Kita und keine Schule mehr sind, zieht keiner mehr hin und ganze Landstriche verwaisen. Mit allen Folgekosten. Die Durchschnittsgröße einer Schule beim Pisa-Weltmeister Finnland beträgt 60 Schüler. Jeder kennt jeden beim Namen, und keiner beschmiert Wände oder benimmt sich anderweitig daneben. Im Gegenteil. Selbst in den Pausen sieht man dort mehr Ordnung und diszipliniertes Verhalten als hierzulande während des Unterrichts. 

Prozentsatz der Staatsausgaben für Bildung

Prozentsatz der Staatsausgaben für Bildung 2010
© Handelsblatt

Ganz allgemein gilt: Eine Gesellschaft bekommt die Bildung, die sie verdient. Unsere Schulen sehen innen wie außen nicht so aus wie unsere glitzernden Verkaufspaläste, von Banken einmal gar nicht zu reden. Ist uns die nächste Generation wirklich so wenig wert?

Was diese den ganzen Tag tut, überlassen wir dem Markt, der davon ausgeht, dass Menschen grundsätzlich nur ihre eigenen Interessen verfolgen, und der unsere jungen Leute mit allerlei Hardware und Software, sie sich auf die Bildung deutlich negativ auswirken, versorgt.

Wir wissen, nicht zuletzt aus der Neurowissenschaft, wie Menschen lernen, wenden dieses Wissen jedoch nicht an, wie die ungeheure Spannbreite des Prozentsatzes der Kinder ohne Hauptschulabschluss zeigt: Baden-Württemberg hat mit 5,6 Prozent die niedrigste Quote, Mecklenburg-Vorpommern mit 17,9 Prozent die höchste. Nach Landkreisen und kreisfreien Städten geordnet ist die Spannbreite noch größer und liegt zwischen 2,6 und 22,8 Prozent, das heißt, je nach Gegend schafft jedes vierzigste oder jedes vierte Kind die Hauptschule nicht. Deutlicher kann man den unerträglich ineffektiven und zugleich gefährlichen Zustand unserer Bildungsbemühungen nicht zeigen!

Kinder haben keine Lobby. Betrachten wir noch ein letztes Beispiel dafür, wie verachtend und zugleich verschwenderisch wir mit unserer einzigen Ressource, Kind, umgehen: Weil in Sachsen Anhalt schon viele kleine Schulen geschlossen wurden, werden die Kinder morgens mit dem Bus eingesammelt und zu einem Bahnhof gebracht. Dort steigen sie in den Zug, und die Zuglinie wird dank der beförderten Passagiere nicht stillgelegt.

Am Bahnhof der Stadt, in der sich die Schule befindet, steigen sie in den gleichen Bus (der fuhr leer die gleiche Strecke wie der Zug), der sie aufgesammelt hatte, wieder ein und fahren in die Schule. Man möchte sich das Gedrängel und Geschubse beim zweimaligen Umsteigen (und die Spuren, die diese täglichen Erfahrungen bei den Kindern im Gehirn hinterlassen) gar nicht ausmalen.

Ein Einzelfall? Nein! Als ich neulich diese Geschichte bei einer „Lesung“ in einer bayrischen Buchhandlung erzählte, meldeten sich zwei Zuhörer spontan mit der Bemerkung: „Bei uns ist das auch genauso.“ Dies zeigt mit erschreckender Deutlichkeit: Kinder werden von Politikern nicht ernst genommen, eher wie Vieh behandelt, keineswegs wie heranwachsende, vernünftige und mit Respekt, ja, im Grunde als Kleinode zu behandelnde Mitmenschen.

Bildungsausgaben sind keine Sozialausgaben, sondern Zukunftsinvestitionen. Dafür brauchen wir den gleichen langen Atem wie beim Klimawandel. Denn völlig unsystematische Bildung mit resultierender systematischer Verschwendung von Ressourcen, gepaart mit der medialen Vermüllung der Köpfe der nächsten Generation in großem Stil, können wir uns weder ökonomisch noch gesellschaftlich leisten.


Manfred Spitzer ist ärztlicher Direktor der Psychiatrie der Uniklinik Ulm. Im Jahr 2012 schrieb er den Bestseller „Digitale Demenz“, zuletzt erschien von ihm „Rotkäppchen und der Stress“. Spitzer hatte unter anderem Gastprofessuren an der Harvard-Universität und gilt als einer der führenden Bildungsforscher.

Herr Spitzer schrieb zur Anfrage auf Veröffentlichung: „Mir ist sehr daran gelegen, dass meine Gedanken die weitest mögliche Verbreitung finden – nur so wird sich etwas ändern!“ 

Handelsblatt vom 16.05.2014, Seite 54-57


Vortrag zum Lernen

Der Vortrag gibt einen Überblick zum Thema „Digitale Demenz“ . 

  • Vortrag Prof. Dr. Dr. Spitzer: 7:35 
  • Crashkurs Gehirn: 16:32 
  • laufen lernen, sprechen lernen, rasch lernen, Angst, Ruhe … : 29:56 
  • kreativ und genau, positive Emotionen … : 40:01
  • Digitale Demenz: 55:12 
  • Verarbeitungstiefe: 1:04:52 
  • Handschrift ist wichtig: 1:11:02 
  • Multitasking: 1:17:11
  • Goggeln, Animationen, Motorik … : 1:20:20 
  • Fingerspiele, Zahlen … : 1:33:17 
  • Menschen malen, Sozialverhalten: 1:46:42 
  • Playstation, Computer, Digitale Medien … : 1:53:46 
  • Fagen zu Pisa, Sport, Zweisprachigkeit … : 2:05:07 

 

Handelsblatt vom 16.05.2014, Seite 54-57


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