Jun 142014
 

Verkündigung in Indien

Von Paul Gäbler

Evangelische Theologie 1961, Chr. Kaiser Verlag München, Seite 505-519

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In den letzten Jahren und Jahrzehnten, besonders seit der Weltmissionskonferenz in Jerusalem von 1928 [1] ist es in steigendem Maße deutlich geworden, dass die missionarische Begegnung umfassend vielgestaltig ist. Der Fachausdruck der Missionsmethodik, der sich dafür in der angelsächsischen Welt eingebürgert hat, lautet: Comprehensive Approach [2]. Er wurde nach dem zweiten Weltkriege vor allem in Holland aufgegriffen und dort von den Missionstheologen lebhaft erörtert. Durch sie ist das damit zum Ausdruck kommende Anliegen auch in Deutschland zur Diskussion gestellt worden [3]. Es handelt sich dabei um die Erkenntnis, dass ähnlich, wie Gott sich durch Reden und Handeln bezeugt hat, nun auch das Leben der Christen als Antwort auf dieses göttliche Sprechen und Handeln in Wort und Tat sich missionarisch ausdrücken muss. Gegenüber dem Ganzheitscharakter der fremden Religion, die das gesamte Leben ihrer Bekenner umfassend prägt, trägt erst recht das Evangelium Ganzheitscharakter und muss sich umfassend im Leben der Kirche und ihrer Glieder auswirken, mag es sich um das soziale Handeln der Kirche [4], das persönliche Leben oder sonst einen anderen Aspekt handeln. Und das gilt ebenso auch von dem Gesamtbereich der missionarischen Begegnung. „Im alten Asien herrscht der alte Lebensstil nicht mehr unangefochten. Wie eine Lawine bricht der technische, geldwirtschaftliche, individualistische Lebensstil oder die entsprechende Stillosigkeit des Westens herein… Die jungen Kirchen müssen … auf allen Lebensgebieten Wegweiser sein für die Millionen Asiens, die in die neue Zeit geworfen werden, ohne den Weg zur Rettung ihres Lebens zu kennen“ [5].

So umfassend nun auch die missionarische Begegnung sein muss – das Entscheidende bleibt bei ihr die rechte Ausrichtung der unmittelbaren missionarischen Wortverkündigung. Um sie muss in jeder Generation sowohl grundsätzlich wie auch im Blick auf das jeweilige Gegenüber neu gerungen werden. Dafür, dass dies auch heute geschieht, legen mancherlei Bücher Zeugnis ab, die in den letzten Jahren erschienen sind [6]. Die spezielle Frage der missionarischen Verkündigung in Indien, die seit den Tagen des ersten evangelischen Missionars in Indien, Bartholomäus Ziegenbalg [7], immer wieder gründlich durchdacht worden ist, ist – meines Wissens letztmalig – vor über einem Vierteljahrhundert von Carl Ihmels in kritischer Auseinandersetzung mit der damals vorliegenden, ziemlich umfänglichen Literatur sorgfältig bearbeitet worden [8].

I.

Um das missionarische Gegenüber ins Blickfeld zu bekommen, beschränken wir uns auf drei allerdings wesentliche Aspekte, die für die indische Situation kennzeichnend sind: das Wahrheitsverständnis, das Wirklichkeitsverständnis und das Dilemma, das durch die profunden Wandlungen der jüngsten Vergangenheit entstanden ist.

1. Die Frage nach der Wahrheit

Grundsätzlich ist festzustellen, dass es für den Hindu wohl die Ahnung von einer letztgültigen Wahrheit gibt, dass er ihrer aber nur in gebrochener Weise habhaft werden zu können glaubt. Typisch ist etwa die Aussage von Vivekananda (1862-1902): „Für den Hindu wandert der Mensch nicht vom Irrtum zur Wahrheit, sondern von Wahrheit zu Wahrheit, von niederer zu höherer Wahrheit. Für ihn bedeuten alle Religionen, vom niedersten Fetischdienst bis zum höchsten Gedanken des Unbedingten, ebenso viele Versuche der menschlichen Seele, das Unendliche zu begreifen und zu erkennen“ [9]. Hier liegt also eine erstaunliche Relativierung der Wahrheit vor. Uns scheint, dass sich bei näherer Beschäftigung mit der indischen Welt drei charakteristische Aussagen bezüglich des indischen Wahrheitsverständnisses ergeben. Wenn wir schematisieren dürfen, bezeichnen wir das sich dabei ergebende Wahrheitsverständnis als polymorph, polymer und polyhod und verdeutlichen es durch je ein typisches Gleichnis Ramakrishnas (1834-86).

a) „Zwei Menschen stritten sich heftig über die Farbe des Chamäleons. Der eine sagte: ,Das Chamäleon auf diesem Palmbaum ist von einem schönen Rot‘ Der andere widersprach ihm und sagte: ,Du irrst, das Chamäleon ist nicht rot, sondern blau.‘ Da keiner seine Meinung beweisen konnte, gingen sie zusammen zu einem Menschen, der unter jenem Baume lebte und lange beobachtet hatte, wie das Chamäleon beständig seine Farbe wechselte. Einer der Streitenden sagte: ,Ist nicht das Chamäleon auf jenem Baum rot?‘ Der Mann entgegnete: ,Ja, Herr!‘ Der andere sagte: ,Was? Wie ist das möglich? Bestimmt ist es nicht rot, sondern blau!‘ Der Mann gab demütig zur Antwort: ,Ja Herr, es ist blau.‘ Er wusste, dass das Chamäleon beständig die Farbe wechselt; deshalb beantwortete er beide Fragen mit ,Ja‘.

So ist auch das Saccidananda [10] verschieden gestaltet. Der Fromme, der es nur in einer Gestalt sah, kann sagen: Alle diese Formen sind die eines Gottes; denn vielgestaltig ist Gott“ [11]. Dieser polymorphe Wahrheitsbegriff findet im Bereich des Hinduismus seinen charakteristischen Ausdruck in der Lehre von den Avatāra. Die klassische Stelle hierfür ist Bhagavadgita IV 6: „Zwar ungeboren, ewig auch und aller Wesen Herr bin ich, Und doch entsteh‘ ich oftmals neu durch meines Wesens Wunderkraft. Denn immer, wenn die Frömmigkeit hinschwinden will, o Bāhrata, Ruchlosigkeit ihr Haupt erhebt, dann schaffe ich mich selber neu.

Zum Schutz der guten Menschen hier und zu der Bösen Untergang, Die Frömmigkeit zu fest’gen neu, entsteh‘ in jedem Alter ich“ [12].

Bei diesen Avatāra (göttlichen Herabsteigungen), deren Zahl zehn beträgt, handelt es sich um eine göttliche Kondeszendenz, weniger um eine eigentliche Inkarnation. Im Einzelnen unterscheidet man die Avatāra Vishnus als Fisch, Schildkröte, Eber, Mannlöwe, Zwerg, Parashurāma (Rāma mit dem Beil), Rāmacandra, auch kurz Rama genannt, Krishna, Buddha, Kalkȋ (steht als eine den Weltuntergang bewirkende und letztes Gericht haltende „Gestalt“ noch aus). Angesichts der charakteristischen Periodizität und Multiplizität dieser göttlichen Selbstoffenbarungen sowie der Tatsache, dass diese Avatāra weder wahrer Mensch noch wahrer Gott noch wahrhaft geschichtlich sind [13], sind sie mythische Erscheinungen, die den polymorphen Charakter des hinduistischen Wahrheitsverständnisses verdeutlichen. Näher auf den Avatāra-Gedanken einzugehen, erübrigt sich hier. [14]

Im diametralen Gegensatz zu dieser Auffassung steht das monomorphe Wahrheitsverständnis des Evangeliums [15]. Denn Christus ist die ausschließliche Wahrheit, und seine Menschwerdung trägt den Charakter des eph hapax.

b) „Vier Blinde wollten einen Elefanten kennen lernen. Der eine, der seine Beine berührte, sagte: ,Der Elefant ist wie eine Säule.“ Der zweite, der seinen Rüssel anfasste, sagte: ,Der Elefant gleicht einer dicken Keule.‘ Der dritte berührte den Bauch, und der Elefant schien ihm ein großer Kessel. Der vierte, der die Ohren befühlte, folgerte daraus, dass er einer Futterschwinge ähnlich sei. Sie begannen, über die Gestalt des von ihnen berührten Tieres zu streiten. Als einer, der vorüberging, den Streit hörte, fragte er: ,Worüber streitet ihr denn?‘ Sie trugen ihm den Fall vor und baten ihn, ihren Streit zu schlichten. Er sprach: ,Keiner von euch kennt den wirklichen Elefanten. Als ein Ganzes gleicht er weder einer Säule noch einem Kessel, noch einer Futterschwinge, noch einer Keule. Doch seine Beine sind wie Säulen, sein Bauch ist wie ein großer Kessel, seine Ohren gleichen einer Futterschwinge und sein Rüssel einer dicken Keule. Der Elefant besteht aus allen diesen.‘

Ganz ebenso streiten die Menschen über Religion, da jeder die Gottheit unter einem irgendwie anderen Aspekt wahrnimmt“ [16]. Hier tritt uns der polymere Charakter des indischen Wahrheitsverständnisses entgegen. Wohl ahnt man etwas von einer letzten Wahrheit. Aber man ist schon froh, wenn man sich einer Teilwahrheit gegenübersieht – falls es wirklich so etwas wie eine Teilwahrheit gibt. Alles, was im Strome der Zeit mit dem Anspruch auf Wahrheit auftritt, erkennt man höchstens – und das allerdings mit oft erstaunlicher Bereitwilligkeit – als Teilwahrheit an und akzeptiert es als solche. Der Inder erweist sich damit als Eklektiker und Synkretist. In der profanen Sphäre ist ihm zwar der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge geläufig; in der religiösen jedoch übersieht er nach unserem Verständnis etwas ganz Entscheidendes, dass es nämlich auch dort neben der Wahrheit Irrtum und Lüge gibt.

Demgegenüber ist der Wahrheitsanspruch des Evangeliums monomer. Das Evangelium kennt keine Teilwahrheiten, sondern die Wahrheit nur als ein ungeteiltes und unteilbares Ganzes. Christus ist die Wahrheit (Joh. 14,8) und bringt die Wahrheit (Jon. 18,37). Allerdings muss sofort hinzugesetzt werden, dass die begriffliche Erfassung und Darstellung der Wahrheit oft nicht in einem einzigen Ausdruck möglich ist. Denn sie trägt häufig eine polare Spannung in sich und kann dann nur dialektisch ausgedrückt werden. Die monomere Wahrheit ist dann lediglich in der begrifflichen Aussage diamer. Weiter: Die christliche Wahrheit ist letztlich nur dem Glauben zugänglich. Dieser lebt in Etappen; und so kommt der Glaubende oft nur bis zu den Vor-orten der Wahrheit. Wenn man schon von einer Gemeinsamkeit reden soll, dann liegt sie im „stückweisen“: der Hindu weiß von Teilwahrheiten, der Christ jedoch nur von einer unteilbaren Wahrheit, die er stückweise erkennt, „dann aber von Angesicht zu Angesicht“ (1. Kor. 13,12).

c) „Ein großer Teich besitzt mehrere Ghats (Landestellen mit Stufen). Wer auch immer eines dieser Ghats benutzt, um zu baden oder seinen Krug zu füllen, gelangt zum Wasser, und es ist zwecklos zu streiten und zu behaupten, das eigene Ghat sei besser als das eines anderen.

So gibt es auch viele Ghats, die zum Quellwasser der Ewigen Wonne, führen. Jede Religion in der Welt ist eines dieser Ghats. Gehe unbeirrt mit aufrichtigem und ernstem Sinn durch eines dieser Ghats, und du wirst zu den Wassern Ewiger Wonne gelangen. Behaupte aber nicht, deine Religion sei besser als die eines anderen“ [17]. Bekannter als dieses Gleichnis ist jenes, dass – wie behauptet wird – alle Flüsse im Ozean münden. Ramakrishna hat aber wohl dieses Bild nicht gebraucht, weil erwiesenermaßen nicht wenige Flüsse in der Wüste versickern. Die Voraussetzung zu diesem polyhoden Verständnis der Wahrheit ist die Meinung, dass jegliches Wahrheitsstreben auch bei der Wahrheit landet. Und doch bewegt sich solche Suche oft genug in der verkehrten Richtung und gelangt zum Irrtum. Gibt es nicht blinde Blindenleiter und falsche Propheten?

Demgegenüber tritt das Evangelium mit einem monohoden Wahrheitsanspruch auf: Es gibt nur einen einzigen Weg, und dieser Weg ist Christus (Apg. 4,12 u. ö.). Und man muss fortfahren: Zum Neuen Testament führt allein das Alte Testament, und dieses ist unauswechselbar und kann nicht durch heilige Schriften anderer Völker ersetzt oder ergänzt werden.

2. Die Frage nach der Wirklichkeit

Die Wirklichkeitsfrage hängt eng mit der Wahrheitsfrage zusammen und ist für das Verständnis des indischen Menschen und damit für die christliche Verkündigung an ihm nicht minder bedeutsam.

a) Was die Seinswirklichkeit betrifft, so ist für den indischen Geist nur das wirklich, was nicht bzw. nicht mehr dem Wandel, Werden und Vergehen unterliegt. Da die Welt veränderlich und vergänglich ist, muss sie, als nicht-wirklich und trügerisch, als Gaukelspiel, als Illusion, Māyā [18] betrachtet werden. Das Wirkliche kann deshalb nur außerhalb der Welt, im Transzendeten, gefunden werden. Wirklich ist deshalb nur das Brahman, das Göttliche, das eigenschaftslose, vollkommene, in sich selbst ruhende, nicht nach außen wirkende Sein, das a-personale Es. Diesem Brahman eignet Sat (absolutes Sein, wirkliche Realität), Cit (Intelligenz, Wissen) und Ānanda (Seligkeit, Selbstgenügsamkeit). H. W. Schomerus bringt es auf die Formel: „Der indische Wirklichkeitsbegriff ist also … formal akosmistisch und inhaltlich transzendentalistisch und, sofern man die Existenz der Welt nicht völlig zu leugnen wagt, theopanistisch orientiert“ [19]. Was jedoch das Wirklichkeitsverständnis des Evangeliums betrifft, so ist zwar für den Christen Gott ähnlich „wirklich“ wie für den Hindu das Brahman. Aber Gott ist für uns alles andere als das Produkt spekulativer Bemühungen. Gott ist wirklich, weil er wirkt. Er tritt uns gegenüber, indem er sich uns aufschließt und „hat am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn“ (Hebr. 1,2). Durch diesen scheint Gottes Wirklichkeit bis in den dunkelsten Winkel der Welt. Gott ist wirklich, weil er unsere immanente Welt erschafft und an ihr handelt und sie erhält. Diese Welt ist keine Illusion, sondern Schöpfung eines Leben ausströmenden Gottes.

b) Charakteristisch für das Wirklichkeitsverständnis des Inders ist ferner seine Anschauung von der Zeit. Der indische Zeitbegriff ist, ähnlich wie der Seinsbegriff, geprägt von dem Kreislauf des Werdens und Vergehens. Dieser führt nach indischer Anschauung das individuelle Leben der Menschen kraft des Karmagesetzes durch eine endlose Kette von Wiedergeburten und bestimmt auch den dauernden Rhythmus von Weltentstehung, Weltbestand, Weltuntergang und Weltruhe. Der Inder hat demnach ein zyklisches Zeitverständnis, das etwa dem von Rosenkranz geschilderten Zeitbewusstsein der Chinesen entspricht [20].

Demgegenüber ist das christliche Zeitverständnis völlig andersartig. Wir müssen uns, wie Heinrich Frick betont, vergegenwärtigen, „dass Offenbarung uns überhaupt erst die Wirklichkeit der Zeit erschließt“ [21]. Cullmann [22] erläutert dies nach zwei Seiten. Einerseits findet er in der Bibel eine „lineare Zeitauffassung“. Denn das Heil ist „gebunden an ein fortlaufendes, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassendes Zeitgeschehen“, da „Offenbarung und Heil nach urchristlicher Anschauung wirklich in der fortlaufenden Zeit in zusammenhängender Weise ‚geschehen‘“ [23]. Andrerseits „ist für diese heilsgeschichtliche Zeitbewertung charakteristisch die Bezogenheit aller Punkte dieser Heilslinie auf die eine geschichtliche Tatsache der Mitte, die gerade in ihrer banalen Einmaligkeit heilsentscheidend ist: Tod und Auferstehung Jesu Christi“ [24]. Hierbei handelt es sich um das eph hapax: „,banal einmalig historisch‘ und ,für das Heil aller Menschen und aller Zeiten entscheidend einmalig‘, also ,ein Mal‘ und ,ein für alle Mal‘“ [25].

c) Das Wirklichkeitsverständnis des Inders erschließt sich schließlich auch aus seiner Stellung zur Geschichte. Indien ist in besonderer Weise dem Mythos verhaftet. Es besteht Einmütigkeit darüber, dass der mythische Mensch bemüht ist, zeitlose bzw. überzeitliche Wahrheiten zur Darstellung zu bringen, und infolgedessen gegenüber historischen Tatsachen indifferent ist. Das fällt im Raum des indischen Menschen besonders stark in die Augen. Jeder Kenner der Verhältnisse weiß, dass der Inder von Haus aus an  geschichtlichen Ereignissen  und  geschichtlichen  Persönlichkeiten im Grunde nur insoweit interessiert ist, als sie transparent zu Kündern ewiger Wahrheiten werden. Es „ist bezeichnend indisch-hinduistisch: die geschichtlichen Tatsachen werden in innerseelische Zustände aufgelöst“ [26]. Die historischen und vollends chronologischen Zusammenhänge und Einzelheiten sind dem Inder eigentlich völlig gleichgültig und nebensächlich. Die Folge ist, dass der Inder „keine Geschichte in unserem Sinne“ kennt, „keine Memoirendichtung, keine Biographien“ [27]. „Für die Hindu verschwimmen Geschichte und Märchen, Wirklichkeit und Dichtung völlig ineinander“ [28]. Erst in letzter Zeit bahnt sich hier ein Wandel an, von dem noch gleich zu reden sein wird. Ganz anders bei uns. Der christliche Glaube richtet sich auf den in der Wirklichkeit der Geschichte Mensch gewordenen Gottessohn. Christus formt und erlöst die Menschen durch alle Zeiten hindurch, d. h. die Wirklichkeit der Geschichte wird zum Raum seiner Wirksamkeit. Das bedeutet, dass der Mensch in der Welt immer wieder erneut von seinem Wort angeredet und damit seine Geschichte gestaltet wird. Wohl nirgends so sehr wie in Mission und Kirche weiß der Christ von der geschichtewandelnden Wirklichkeit Christi. Der geschichtliche Herr bricht in die Geschichte des einzelnen wie auch in die der Völker und Kontinente ein.

Von dem Gesagten her wird auch einer der Gründe sichtbar, warum der Hindu Christus neben Krishna und zahllosen anderen Gottheiten in seinen Götterhimmel einreiht und ihnen allen zusammen göttliche Verehrung zollt – auf Grund seiner mythischen Einstellung abstrahiert er von der geschichtlichen Wirklichkeit der Inkarnation Christi und dessen Wirken und erblickt in ihm einen Avatāra, eine göttliche Herabsteigung mythischer Art.

3. Das indische Dilemma

Zum Verständnis des missionarischen Gegenübers in Indien konnten nur zwei allerdings wesentliche Aspekte in aller Kürze herausgestellt werden. Es muß nun aber sofort hinzugefügt werden, dass sie – wie auch viele andere religiöse Grundüberzeugungen der Inder – im Laufe der letzten Zeit in ungeahnter Weise erschüttert, wenn nicht in Frage gestellt worden sind. Denn schon seit Jahrzehnten hat sich nichts weniger als ein Strukturwandel des indischen Menschen vorbereitet, ein Wandel, der vornehmlich seit den letzten Jahren in beschleunigtem Maße wirksam wird und zu gewaltigen Umwälzungen führt. Es handelt sich dabei um einen Vorgang von geschichtlichen Ausmaßen. Die ersten Anfänge dieser Entwicklung liegen bereits einige Jahrhunderte zurück. Von der Zeit an, da England und andere Völker des Abendlandes auf indischem Boden Fuß fassten, Niederlassungen gründeten, Schulen einrichteten und immer größere Teile des Landes in eine Kolonie verwandelten, begannen neue Einflüsse wirksam zu werden. Diese waren nicht nur äußerer Art, sondern sie führten auch zu inneren Wandlungen. Denn fast unbemerkt begannen ja in wachsendem Maße neue Gedanken und Weltanschauungen Fuß zu fassen, sich auszubreiten und gestaltende Kraft zu gewinnen. Vor allem gingen mit der fortschreitenden Ausbreitung der Missionsarbeit direkte und indirekte Wirkungen vom Evangelium aus.

Bei diesem Entwicklungsprozess verstand es Indien, kraft seiner Absorptionsfähigkeit viele Ideen aufzunehmen und dabei vielfach umzumünzen und zu indisieren. Diese Assimilationskraft wurde auch weithin dem Evangelium gegenüber angewandt. Aber es stellte sich heraus, dass auch das eigene hinduistische Gedankengut überprüft und neu durchdacht werden musste, um es den neuen Ansichten anzupassen. Das geschah teilweise vermittels einer neuen Interpretation. Man kann das, was sich innerhalb des Hinduismus vollzog, als einen grandiosen Entmythologisierungsversuch bezeichnen und es beispielsweise an dem sich wandelnden Verständnis der heiligen Schriften und deren Bewertung oder des Bilderdienstes demonstrieren. Bei alledem blieb der Inder mit Entschlossenheit Hindu, hielt an den Grundlagen seiner Religion fest und legte Wert darauf, seine Neuinterpretation als orthodox zu erweisen.

Seit den letzten Jahrzehnten bahnt sich daneben und darüber hinaus eine zweite Entwicklungsstufe an, die sehr viel weiter führt, wenn sie nicht überhaupt etwas Neues schafft. Ihre Auswirkungen werden im neuen indischen Staatswesen und an vielen modernen Indern sichtbar. Damit ist über Nacht etwas möglich geworden, was vor gar nicht langer Zeit selbst intime Kenner inner-indischer Verhältnisse kaum für möglich gehalten hätten: ein neuer Staat, der sich als weltoffen und tatkräftig erweist und eine Rolle im geschichtlichen Geschehen der Gegenwart spielt, die man Indien weniger als irgend einem anderen Staat im asiatischen Bereich zugetraut hätte. Viele Reisende aus dem Westen bezeugen es: Dieses Indien ist ein ganz neues, verwandeltes Indien. Die Frage drängt sich auf: Was ist da geschehen?

Noch vor einem Vierteljahrhundert kam ein so sorgfältiger Beobachter wie Ihmels anhand der Spenglerschen Entwicklungsstadien zu dem Schluss, dass Indien sich in einem Zustand der Vergreisung befände [29]. Aber er fügte bereits damals hinzu, dass auch solch ein Volk noch einmal in einen neuen Prozess des Werdens hineingezogen werden könne: „Große Katastrophen, Zusammenstöße mit anderen Kulturen, Änderungen der gesamten Lebensverhältnisse usw. können ein neues Volkstum schaffen und so den Prozess des Werdens wieder eröffnen.“ „Die Inder sind ein Fellachenvolk, das durch den Zusammenstoß mit dem Europäertum aus seinem Todeszustand aufgeschreckt und in den Prozess des Neuwerdens hineingezogen ist“ [30]. Heute kann jedermann diese Wandlung mit Händen greifen. Bedeutsam ist aber auch die andere Bemerkung von Ihmels im Blick auf Indien: „Solange das Seelentum das gleiche bleibt, ist ein neuer Ansatz undenkbar“ [31]. In der Tat, zumindest führende Inder dieser Epoche repräsentieren einen neuen indischen Menschen, dessen Seelentum eine Wandlung durchgemacht hat – vermutlich sogar sehr viel mehr Inder, als man ahnen kann. Heutzutage tut und denkt der Inder aus einem ihm noch kaum bewusst gewordenen, aber nichtsdestoweniger veränderten Seelengrund heraus Dinge, die er weltanschaulich noch gar nicht so schnell einordnen, geschweige denn innerlich verarbeiten kann. Denn vieles von dem Tun des modernen Inders läuft seinen geheiligten Glaubenssätzen stracks zuwider. Das alte hinduistische Fundament ist in wesentlichen Stücken preisgegeben worden zugunsten – wie gesagt, meist wohl unbewusst – einer neuen Wertung der Welt, der Wirklichkeit, des Lebens und auch der Vorstellung vom Göttlichen. Die Welt wird nicht mehr als Illusion gewertet, sondern als eine harte, aber auch freudige Wirklichkeit. Der Mensch ist zu Dienst und Aufgabe gerufen, selbst an den Kastenlosen. Damit ist dem Kastenprinzip und der Karmalehre das Rückgrat gebrochen. Und für ein unbeteiligtes göttliches Es ist im Grunde auch kein Platz mehr. Teilweise mag dies alles auch mit ein Resultat des weltweiten Säkularisierungsprozesses sein; und es kann auch nicht genug betont werden, dass neben all diesem und unbeschadet alles dessen, was eben skizziert wurde, die alte Orthodoxie noch sehr aktiv auf dem Plane ist. Aber dass ein gewaltiger Dammbruch erfolgt ist, liegt klar zu Tage.

Pandit Jawaharlal Nehru hat in seiner Autobiographie, die er vor etwa fünfundzwanzig Jahren im Gefängnis niedergeschrieben hat, ein freimütiges Selbstbekenntnis abgelegt. Man kann es nicht ohne Ergriffenheit lesen, weil es in wenigen, eindrucksvollen Worten den Vorgang schildert, von dem eben die Rede war, und dessen Not deutlich macht: „Ich bin zu einer merkwürdigen Mischung des Ostens und Westens geworden, nirgends am richtigen Ort, nirgends zu Hause. Vielleicht sind meine Denkweise und Lebensauffassung dem Abendländischen verwandter als dem Östlichen, aber Indien haftet mir, wie dies bei allen seinen Kindern der Fall ist, in zahllosen Eigentümlichkeiten an. In meinem Unterbewusstsein sammeln sich Erinnerungen von vielen Generationen eines uralten Brahmanengeschlechtes. Ich kann mich weder vom Erbe der Vergangenheit noch von meinen jüngsten Errungenschaften befreien. Beide sind Teile von mir, und obwohl sie mir sowohl im Osten wie im Westen helfen, erwecken sie ein Gefühl geistiger Einsamkeit, nicht nur bei der Ausübung öffentlicher Tätigkeiten, sondern im Leben selbst. Ich bin ein Fremder und Fremdling im Westen. Aber manchmal habe ich auch in meiner eigenen Heimat das Gefühl, ein Verbannter zu sein“ [32].

Das ist das Dilemma: ein Volk zwischen Alt und Neu, zwischen Ost und West, zwischen Gott und Welt, zwischen Mythos und Logik.

II.

Was nun die Frage der eigentlichen missionarischen Verkündigung in diesem Zwiespalt betrifft, so bedarf es zunächst einer grundsätzlichen Überlegung, auf welche Weise bzw. in welch einem Geiste sie zu erfolgen hat. Das soll anschließend an einigen Beispielen erläutert werden.

1.

Wir beginnen mit zwei Irrwegen der missionarischen Verkündigung. Den ersten möchte ich als den der negativen Antithese bezeichnen. Er beherrschte vor dem ersten Weltkriege und im Jahrzehnt darnach noch weithin das Feld. Ein typisches Erzeugnis dieser Methode war das sog. Bazar-Buch, das auf der Tamil-Sprach-schule in Südindien als Textbuch diente. Dies Buch bestand aus einer Sammlung von missionarischen Abhandlungen über den Hinduismus. Die missionarische Verkündigung geschah in der Weise, dass beispielsweise die Badefeste, Tempeldienst und Idolatrie zunächst dargestellt und dann ad absurdum geführt wurden. Dabei wurde mit Ironie und Spott nicht gespart. Das Unhygienische des Badens im Tempelteich, die Torheit des Götzendienstes – das waren Teile der Beweisführung. Schließlich folgte eine Darstellung der entsprechenden Stücke der christlichen Botschaft. – Eine Kritik dieser Methode dürfte sich erübrigen. Immerhin gehörte nicht nur eine intime Kenntnis der Religion des Hinduismus und seiner Praxis dazu, um die jene alten Missionare fast zu beneiden waren, sondern auch eine gute Portion von Schlagfertigkeit und Überzeugungskraft. Denn Heidenpredigten dieser Art pflegten den heftigsten Protest der Zuhörer und nicht selten auch Radauszenen und Steinwürfe hervorzurufen. Man muss sich nur wundern, dass trotzdem die Verkündigung nicht erfolglos blieb.

Der zweite Irrweg wäre der der Synthese. Er ist das extreme Gegenstück des ersten Weges und wurde vor allem in den dreißiger Jahren von vielen beschritten. Man hatte erkannt, dass das, was man früher bei der Heidenpredigt bekämpft hatte, teilweise von den ernstzunehmenden Hindus selber abgelehnt wurde. Man entdeckte vor allem ihren tiefen religiösen Ernst, die Unruhe des Herzens, die Sehnsucht nach dem wahren Gott, die Bereitschaft zu Opfer und Selbsthingabe. In Indien war es vor allem J. N. Farquhar (1861 bis 1929), ein Missionar der Londoner Mission, später Professor für vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Manchester, der mit seinem Buche „The Crown of Hinduism“ (1913) eine Synthese zwischen dem Besten im Hinduismus und dem Evangelium herzustellen versuchte. Er dachte sich das Ganze in der Gestalt eines Unter-und Oberbaues, wobei das Evangelium als die Krönung der tiefsten Aspirationen des Hinduismus vorgestellt wurde. – Es liegt kein Anlass vor, über diesen Versuch geringschätzig zu urteilen. Professor Farquhar selbst war eine anima candida, eine wirklich christliche Persönlichkeit, bei der sich selbstlose Bescheidenheit und tiefe Gelehrsamkeit in eindrucksvoller Weise verbanden. So sehr wir seinen Weg, der von vielen begangen worden ist, als Irrweg bezeichnen müssen, so wurde dadurch eine Periode eingeleitet, die an die Stelle des Mißtrauens gegenseitiges Vertrauen treten, ließ. Es entstand eine ganz neue Atmosphäre. Aber es bedarf wohl kaum der ausdrücklichen Feststellung, dass auf diesem Wege das Evangelium nun doch verfälscht wurde.

Diesen Fehllösungen gegenüber muss die missionarische Verkündigung den Weg der positive Antithese gehen. Damit werden die beiden Anliegen zum Ausdruck gebracht, die bei der Ausrichtung der Botschaft verkündigt werden müssen: Das Nein Gottes zu den selbstgewählten Wegen der Menschen, auch den bestgemeinten, und zugleich das Ja Gottes zu dem Menschen selbst, dem suchenden, irrenden, verblendeten, trotzigen, verzweifelten Sünder, den Gott in Gericht und Gnade zu sich zieht. Es kommt in dieser Formulierung weiter zum Ausdruck, dass die Verkündigung den indischen Menschen so, wie er ist, vor Augen haben muss, um dann in antithetischer Weise das Evangelium als Gottes unermessliche Gabe in seinem Nein und Ja zur Entfaltung zu bringen.

2.

Wenn über das Grundsätzliche Klarheit besteht, so ergibt sich für die praktische Verkündigung des Evangeliums eine Fülle von Möglichkeiten, mag es sich um ein Einzelgespräch, ein Rundgespräch, eine Ansprache, die Ausarbeitung von Flugblättern oder sonstigem Schrifttum handeln. Es sei hier nur an die behutsamen und eindringlichen Ausführungen von H. W. Schomerus erinnert, die er in dem Kapitel „Die Bedeutung der indischen Erlösungslehren für die Evangeliumsverkündigung in Indien“ vor allem im Blick auf die Predigt von der Sünde, der Endhoffnung, der Erlösung und dem Erlöser macht [33]. Ich will hier drei Begriffe herausgreifen, die P. D. Devanandan bei einem Vortrag in Bangkok im Dezember 1949 anlässlich der christlichen Ostasienkonferenz als besonders wichtig für die missionarische Verkündigung ansieht [34]: Satyāgraha, Ahimsa und Ramrājya. Es sind alles Ausdrücke, die durch Mahatma Gandhi Prominenz erhalten haben.

Was heißt Satyāgraha? [35] Das Wort bedeutet das Sichhalten an die Wahrheit. „Ein Satyagrihi ist also ein Mensch, der unverrückbar an der Wahrheit festhält, … einer, dem die Wahrheit über alles geht“ [36]. Wenn wir uns an das oben bezüglich des Wahrheitsverständnisses Gesagte erinnern, so wird klar, wo die positiven Antithesen liegen: anzuerkennen ist ihr Mühen um Wahrheit, doch ist ihnen die Wahrheit, Christus, noch deutlich zu machen. Aber empfindet der Inder sein eigenes Wahrheitsverständnis als nicht ausreichend? Wo liegt der Anknüpfungspunkt? Der Inder ist an dieser Stelle doch im allgemeinen recht selbstsicher. Es ist bedeutsam, dass gerade Gandhi von sich selber gesagt hat: „Ich bin nur ein Sucher der Wahrheit. Ich glaube auf dem rechten Wege zu sein. Ich glaube mich unablässig zu bemühen, sie zu finden. Aber ich gebe zu, dass ich sie bis jetzt noch nicht gefunden habe“ [37]. Er fährt fort: „Die Wahrheit finden heißt sich selber verwirklichen, sein Schicksal erfüllen, mit anderen Worten: vollkommen werden. Ich bin mir meiner Unvollkommenheiten schmerzlich bewusst, und in dieser Erkenntnis liegt alle Kraft, über die ich verfüge; denn es ist selten, dass ein Mensch seine Grenzen erkennt.“ Dieser Ausspruch zeugt von Gandhis Bescheidenheit und Wahrhaftigkeit; aber diese Einsicht ist noch weit von der biblischen Sündenerkenntnis entfernt Die missionarische Verkündigung muss derartige Aussprüche vor Augen haben, um die positive Antithese des Evangeliums herauszustellen mit der Botschaft von Gottes Gericht und Gnade. Dabei wäre dann zu bedenken, was wir als das biblische Verständnis von der Wahrheit ausgeführt haben. Von hier aus ergibt sich dann eine neue Deutung des Wortes Satyāgraha und ein neues Bild des Satyagrihi, nämlich des christlichen Inders: dieser ist nach der Wahrheit unterwegs und findet sie erst in Christus, weil sie ihn in Anspruch genommen hat.

Ein weiterer Begriff, der sich der missionarischen Verkündigung darbietet, ist das Wort Ahimsa [38]. Im Abendland ist dieser Ausdruck eigentlich nur als politischer Terminus bekannt geworden, als das Schlagwort der Gewaltlosigkeit, die für Gandhis politisches Handeln maßgebend war. So wie Gandhi dieses Wort verstanden hat und der Inder es heute noch versteht, steckt darin ein Stück Lebensphilosophie. Ursprünglich gebrauchten nur die Buddhisten und Jainas den Ausdruck Ahimsa und wollten damit sagen, dass man kein Lebewesen verletzen oder schädigen dürfe. Ahimsa bedeutete für sie z.B. das Verbot des Pflügens, um das ungewollte Töten von Würmern zu verhindern; die Benutzung eines Besens beim Gehen, um vor jedem Schritt den Weg zu säubern und Kleinsttiere zu entfernen, um sie vor dem Zertreten werden zu bewahren; Maßnahmen, um zu verhüten, dass Insekten und Motten ins brennende Licht fliegen und sich verbrennen und dergleichen mehr. Gandhi füllte nun den Ausdruck mit einem neuen vertieften Inhalt: Ahimsa als Prinzip des Handelns fordert vom einzelnen, dass er sich alles dessen enthält, womit er den anderen schädigen, betrüben und kränken könnte, und dass er ihm statt dessen Liebe erweist, Anteilnahme bezeigt, sich um ihn sorgt, für ihn eintritt. Gandhi macht zugleich deutlich, dass es sich dabei nicht um eine schwächliche, sondern um sittlich verantwortungsvolle Liebesgesinnung handelt, die Widerstand und Kampf gegen das Böse mit einschließt. So kann man also sagen, dass Ahimsa nach Gandhis Verständnis beides umfasst: „Es verabscheut die böse Tat und dissoziiert sich von ihr, bewahrt aber dem Täter die Gesinnung der Liebe“ [39]. – Dem Missionar ist demnach mit dem Wort Ahimsa ein terminus in die Hand gegeben, der für die Ausrichtung der Botschaft des Evangeliums hervorragend geeignet ist. Es erhebt sich nun die Frage, wo der Anknüpfungspunkt bei der Verwendung dieses Begriffes liegt. Er liegt in einem Doppelten. Zunächst in der Erkenntnis Gandhis, dass der natürliche Mensch diesem Ideal nicht gerecht zu werden vermag: „Nach allem zu urteilen, ist mein Streben nach Ahimsa, wie aufrichtig es gewesen sein möge, doch immer noch unvollkommen und inadäquat geblieben“ [40]. Freilich fehlt hier die Tiefe der biblischen Schau. Gandhi gleicht Faust, der durch strebendes Bemühen dem Ideal immer näher zu kommen vermeint; ihm fehlt die Einsicht in die Tiefe der Gebrochenheit und Verfallenheit der menschlichen Existenz. Der zweite Anknüpfungspunkt: Gandhi wendet den Begriff Ahimsa nicht auf Gott an. Für ihn war Gott die Wahrheit, oder wie er es lieber ausdrückte: „Die Wahrheit ist Gott“ [41]. dass aber Gott auch die Liebe ist, gab er zwar theoretisch zu, vermied aber diese Aussage, weil ihm Liebe ein zu vieldeutiger Begriff zu sein schien. So liegt auch hier ein Anknüpfungspunkt vor. Wenn man also vom Gedanken der Ahimsa her in positiver Antithese das biblische Verständnis der Liebe entwickeln wollte, so wäre zu reden von Gott als der Liebe, dem Heilsratschluß Gottes, dem Liebeshandeln Jesu, dem Unvermögen des natürlichen Menschen zu wahrer Liebe gegen Gott und Mitmensch, dem Liebesgebot, den Möglichkeiten zu Gesinnung und Tat der Liebe usf. Es handelt sich also um eine Vielgestaltigkeit der Liebe, die von der einen Gestalt der Liebe, nämlich von Christus her, dynamisch entfaltet wird.

Ein dritter Ausdruck, der Beachtung verdient, ist Ramrājya, eig. Königreich Ramas, Königreich Gottes. Das damit verbundene Ideal trägt nahezu theokratische Züge. „Ramrājya war eine Gesellschaftsordnung, in welcher alle politischen und ökonomischen Beziehungen der Menschen die letzte Souveränität Gottes anerkannten“ [42]. Freilich klingt es fast schwärmerisch, wenn Gandhi erklärte: „Svarāj (Selbstregierung) ist gleichbedeutend mit Ramrāj, der Errichtung des Königreichs der Gerechtigkeit auf Erden“ [43]. Später hat Gandhi nicht mehr viel davon geredet, als er aktiv in das politische Leben eingriff und es mit den Realitäten des politischen Lebens unmittelbar zu tun bekam. Ramrājyam – der Inder weiß, dass das nur ein Traum ist, dass sich solch ein staatliches Gebilde von Menschen nicht errichten lässt. Aber gerade da ergibt sich der Anknüpfungspunkt. Das Gottesreich, von dem das Evangelium spricht – und darin liegt die positive Antithese -, ist kein Traum, sondern eine Wirklichkeit; es ist nicht eine menschliche Schöpfung, sondern die Wirkung göttlichen Handelns; es ist nicht beschränkt auf ein einzelnes Volk, sondern es ist universal. Und es wird nicht gewirkt durch Rama, sondern durch Gott. Die junge indische Republik hat in der kurzen Zeit ihres Bestehens Hervorragendes geschafft; aber gerade ihre besten Söhne leiden unter dem, worin sie versagt hat; Mißwirtschaft und Bestechlichkeit sind noch nicht überwunden. Sollte da nicht der Gedanke des Ramrājya ein offenes Ohr finden?
Die Wandlungen, die sich in Indien im Zuge seiner Staatswerdung vollziehen, gehen Hand in Hand mit den Wandlungen auf dem Gebiet der Religion. Die unmittelbare missionarische Verkündigung kann heute weithin nicht mehr durch den westlichen Missionar geschehen, sondern allein durch die Glieder der jungen Kirchen.

Sie sind in allererster Linie gerufen, die Frage der rechten Ausrichtung dieses Dienstes aufs neue nach allen Seiten zu durchdenken. Dieser zentralen Aufgabe kann sich aber auch die Mission nicht entziehen, wenn anders der Missionar aus dem Abendlande, der von diesen jungen Kirchen zur Mitarbeit gerufen wird, nicht weniger als der indische Christ ein Botschafter Jesu Christi ist.

H. Kraemer macht darauf aufmerksam, dass der Weg der missionarischen Verkündigung von dem „approach“ des Außenseiters zur Kommunikation in Solidarität verlaufen muss, „indem man seinen Standpunkt in der Welt und als Teil der Welt des anderen einnimmt, nicht im Gegensatz zu seiner Welt, wie einfühlend dies auch immer gedacht wurde“ [44]. Das ist das Bedeutsame: Mission wird zur Kommunikation. Es gilt, sich in den anderen hineinzufühlen und ihn so genau wie irgend möglich kennen zulernen. Das mag der Weg sein: Gegenüber – Begegnung – Gemeinschaft, und alles im Verstehen.  


Anmerkungen

Überarbeiteter Beitrag aus der unveröffentlicht gebliebenen Festschrift zum 70. Geburtstag von Missionsdirektor Professor Dr. Carl Ihmels, Leipzig, 1958.

[1] Martin Schlunk (Hrsg.): Von den Höhen des Ölbergs. Bericht der deutschen Abordnung über die Missionstagung in Jerusalem. 1928.

[2] E. Jansen-Schoonhoven: Comprehensive Approach. RGG3 I (1957), Sp. 1857 f.

[3] Ders.: Wort und Tat im Zeugendienst, „Comprehensive Approach“ als Missionsmethode, EMZ 1953, S. 138-147; J. C. Hoeckendijk: Junge Kirche als dienende Kirche, EMZ 1949, Seite 1-6.

[4] Heinz Dietrich Wendland: Missionarische Verkündigung und soziales Handeln der Kirche, EMZ 1957, Seite 141-149; ders.: Die soziale Verantwortung der Ökumenischen Bewegung, Ökumenische Rundschau 1958, Seite 105-117.

[5] E. Jansen-Schoonhoven: Wort und Tat … (Anm. 3), Seite 143.

[6] z.B. Kurt Beck: Die Überwindung heidnisch-dämonischer Gottheiten durch die christlich-missionarische Botschaft. 19532; Walbert Bühlmann, OFM: Die Predigtweise in Afrika. Beckenried 1958; Walter Holsten: Das Kerygma und der Mensch. Einführung in die Religions- und Missionswissenschaft. 1953; Hendrik Kraemer: Die Kommunikation des christlichen Glaubens. Zürich 1958; ders.: Religion und christlicher Glaube. 1959; Hans Schaerer: Die missionarische Verkündigung auf dem Missionsfelde. Basel 1946; Hans Jochen Margull: Theologie der missionarischen Verkündigung. Evangelisation als ökumenisches Problem. 1959; Georg F. Vicedom: Missio Dei. Einführung in eine Theologie der Mission. 1958; Heinrich Wyder: Die Heidenpredigt. Ihr Gegenüber, ihr Ziel, ihr Inhalt und ihre Ausdrucksweise. Eine praktisch-theologische Untersuchung im Rückblick auf die missionarische Begegnung in China. 1954 (Beiträge zur Missionswissenschaft und evangelischen Religionskunde, Heft 4).

[7] Erich Beyreuther: Die Missionspredigt Ziegenbalgs, EMZ 1956, Seite 19-36.

[8] Carl Ihmels: Unsere Botschaft im heutigen Indien. In: M. Schlunk (Hrsg.): Botschafter an Christi Statt. Vom Wesen und Werk deutscher Missionsarbeit. 1932, Seite 219-239. – Die beiden Aufsätze von Heinrich Meyer unter der gleichen Überschrift „Das Evangelium in der Begegnung mit dem Mythus in Indien“ in EMZ 1953, Seite 65-76 und in ThLZ 1954, Sp. 273-282 stellen ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Frage der missionarischen Verkündigung in Indien dar.

[9] Deutsch bei Friso Melzer: Indische Weisheit und Christliche Erkenntnis, o. J. (1948), Seite 39 f.

[10] „Saccidānanda = Sein-Geist-Wonne, das Wesen des höchsten Geistes, des Brahman, als die einzig von ihm auszusprechenden Weisen“ (Emma v. Peletz. St., vgl. Anm. 11).

[11] Emma v. Pelet: Worte des Ramakrishna, Zürich u. Leipzig o. J. (1930), Spruch 145.

[12] Zitiert nach der Übersetzung von Leopold v. Schroeder: Bhagavadgita. Des Erhabenen Sang. 1922, Seite 22.

[13] Vgl. Gustav Stählin: Avatar and Incarnation. In: The Way of Christ, 1938 (Jhg. I), Seite 11-22.

[14] Vgl. Friso Melzer: „Das Wort ward Fleisch“ (Joh. 1,14). Von der Begegnung der Christus-Botschaft mit dem Avatara-Glauben des Hinduismus, EMZ 1942, Seite 295-307; ders.: Der Avatara. In: Christus und die indischen Erlösungswege. o. J. (1949), Seite 43-56; ders.: Indische Weisheit … (Anm. 9), S. 228 f.

[15] Vgl. auch Behm: Art. fit, ThW NT IV (1940), Seite 757 ff.

[16] Ramakrishna lt. Eva v. Pelet, a. a. O. Spruch 144.

[17] A.a.O. Spruch 148.

[18] Vgl. die begriffsgeschichtliche Untersuchung von Paul David Devanandan: The Concept of Māyā. An essay in historical survey of the Hindu theory of the world, with special reference to the Vedānta, London 1950, und meine Besprechung unter der Überschrift: The Hindu Theory of the World, IRM 1951, Seite 474-476.

[19] H. W. Schomerus: Indien und das Christentum, Bd. III, 1933, Seite 8.

[20] G. Rosenkranz: Fernöstliches und christliches Zeit- und Geschichtsverständnis, EMZ 1950, Seite 8 ff.

[21] H. Frick: Ideogram, Mythologie und das Wort. In: Rudolf Otto Festgruß. Marburger Theologische Studien, Heft 3, 1931, Seite 14.

[22] Oscar Cullmann: Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit-und Geschichtsauffassung. Zürich 1946. – Vgl. auch G. Rosenkranz a. a. O., Seite 42-50.

[23] Oscar Cullmann: a. a. O., Seite 27; im Einzelnen ausgeführt Seite 31 bis 103.

[24] A. a. O., Seite 27.

[25] A. a. O, Seite 108.

[26] Friso Melzer: Indische Weisheit… (vgl. Anm. 9) Seite 253 (unter Bezugnahme auf Ramdas gesagt).

[27] Betty Heimann: Studien zur Eigenart indischen Denkens. 1930, Seite 201.

[28] Johannes Hertel: Indische Märchen. 1919, Seite 10.

[29] Carl Ihmels: Wie gelangen wir zu einer gerechten Beurteilung indischen Menschentums? In: Lutherisches Missionsjahrbuch für das Jahr 1934, Seite 10-25.

[30] A. a. O., Seite 21.

[31] Ebenda

[32] Jawaharlal Nehru: Indiens Weg zur Freiheit (Titel des englischen Originals: J. Nehru: An Autobiography). Zürich 1948, Seite 593.

[33] H. W. Schomerus: Indische Erlösungslehren. Ihre Bedeutung für das Verständnis des Christentums und für die Missionspredigt. 1919, Seite 169-221.

[34] P. d. Devanandan: The Christian Message in Relation to the Cultural Heritage of Eastern Asia. In: The Christian Prospect in Eastern Asia. Papers and Minutes of the Eastern Asia Christian Conference, Bangkok December 3 – 11, 1949. New York 1950, Seite 71-77.

[35] W. E. Mühlmann: Mahatma Gandhi. Der Mann, sein Werk und seine Wirkung. 1950, Seite 98-103.

[36] A. a. O., Seite 99.

[37] Ebenda.

[ 38] a. a. O., Seite 104-108.

[39] A. a. O., Seite 105.

[40] A. a. O., Seite 107.

[41] A. a. O., Seite 102.

[42] p. d. Devanadana. a. O. Seite 75.

[43] Zitiert von Mühlman a. a. O. Seite 127.

[44] Hendrik Kraemer: Die Kommunikation des christlichen Glaubens. Zürich 1958, Seite 47.


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