Jul 262014
 

Notizen aus Bethlehem 2010

Von Giselher Hickel

Ich bin im Auftrag des Berliner Missionswerkes als ein ökumenischer Freiwilliger für das Programm „Ökumenischer Friedensdienst in Palästina und Israel“ – „Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel (EAPPI)“ des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) – World Council of Churches (WCC) tätig. Dieser Text gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Entsenders oder des ÖRK sind. 


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Notizen aus Bethlehem I, 30. März 2010 

Seit Mitte März bin ich in Palästina. Für drei Monate werde ich voraussichtlich Mitarbeiter eines Programms des Ökumenischen Rates der Kirchen sein: Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel (EAPPI; Ökumenisches Begleitprogramm in Palästina und Israel). 2002haben die Kirchen in Jerusalem, vermittelt durch den ÖRK, an die Kirchen in aller Welt appelliert, ihre Solidarität mit den christlichen Kirchen in dem militärischer besetzten Palästina und in Israel sichtbar zu machen. Das EAPPI ist die Antwort darauf. Mehr als 500 Vertreterinnen und Vertreter aus Kirchen in 16 Ländern sind bisher, gewöhnlich für jeweils drei Monate, im Einsatz gewesen. Ich gehöre zur 35. Gruppe.

Das Programm hat im wesentlichen zwei Aspekte: Zum einen geht es um die Präsenz in den seit 1967 von Israel okkupierten palästinensischen Gebieten. Dies ist ein Zeugnis von Solidarität mit den unter der Besetzung leidenden Menschen, es verbessert ihre Sicherheitslage und ermutigt die Betroffenen. Zugleich schafft das Programm, das ist der zweite Aspekt, internationale Öffentlichkeit. Die Erfahrungsberichte der Teilnehmenden sind dafür der wichtigste Beitrag. In diesem Sinne verstehe ich auch mein Berichten nicht nur als private Korrespondenz, sondern als Teil meiner Aufgabe. Inhalte oder Wortlaut der Rundbriefe können gern weitergegeben zu werden.

Es ist ein Programm -das ist mir wichtig – für Palästina und für Israel. In den Richtlinien heißt es: „Wir ergreifen nicht Partei in dem Konflikt und diskriminieren niemanden, aber wir sind nicht neutral hinsichtlich der Prinzipien der Menschenrechte und des Völkerrechtes. Wir stehen den Armen, den Unterdrückten und den Ausgegrenzten treu zur Seite. Wir wollen allen Parteien in diesem Konflikt fair und unverfälscht in Wort und Tat dienen.“ Die sechs Einsatzorte liegen in der Westbank und in Ostjerusalem. Die intensive Zusammenarbeit mit Vertretern der israelischen Zivilgesellschaft ist ein wichtiger Teil unser Arbeit. Mein Einsatzort ist Bethlehem. Ich erhebe nicht den Anspruch, ausgewogene und umfassende Kenntnisse über den Nah-Ost-Konflikt zu vermitteln. Was ich berichte, habe ich jedoch mit eigenen Augen und Ohren gehört und gesehen.

Pardon für die lange Einleitung. Ich hielt sie für notwendig, bevor ich zwei Erlebnisse aus den ersten zwei Wochen meiner Arbeit schildere.

Al Ma’sara ist ein Dorf nahe Bethlehem. Am Freitag (19.3.) nach dem moslemischen Mittagsgebet in der Moschee formiert sich ein kleiner aber lebhafter Demonstrationszug. Eine gewisse Routine ist spürbar. Dreißig Jahre bereits währt der Kampf um die Gemarkungen des Dorfes. Anfangs waren es Siedler, die die Felder in Besitz nehmen wollten. Damals half noch ein Gerichtsurteil zugunsten des Dorfes. Palästinensische Bauern und israelische Siedler haben inzwischen einen modus vivendi erreicht. Einige Dorfbewohner haben in der Siedlung sogar Arbeit gefunden. Doch nun soll ein Großteil der Felder dem Bau der Mauer zum Opfer fallen, die Bethlehem immer mehr vom palästinensischen Umland abzuschneiden droht. Sicherheitsfragen, mit denen der Mauerbau offiziell begründet wird – obwohl die Mauer an dieser Stelle ca. 10 km von der Grenze zu Israel entfernt auf palästinensischem Boden gebaut werden soll –, rangieren vor zivilen Gerichtsurteilen.

An jedem Freitag sind jetzt Dorfbewohner, von israelischen und internationalen Unterstützern begleitet, auf den Beinen, um gegen die völkerrechtswidrige Konfiszierung der Felder zugunsten der monströsen Mauer zu protestieren. In den kurzen Ansprachen zum Auftakt höre ich aus den arabischen Sätzen mehrfach den Namen Gandhi heraus. Gewaltlosigkeit ist das erste Gebot für die Teilnahme an der Aktion.

Nach ca. 1000 Metern ist die Dorfstraße blockiert. Eine Stacheldrahtrolle stoppt den Zug und dahinter eine Abteilung schwer bewaffneter Soldaten. Auge in Auge stehen sie sich gegenüber, fahnenschwenkend, Losungen skandierend die einen, unbewegt, stumm die anderen. Reden werden gehalten, diesmal in Arabisch, Hebräisch und Englisch, direkt an die Soldaten gerichtet: „Wisst Ihr, was Ihr hier tut? Ist euch klar, dass Ihr dabei seid, die Existenz von Bäuerinnen und Bauern zu zerstören? Ihr vertreibt sie von dem Land, auf dem sie seid Generationen leben und arbeiten. Ihr tut Menschen Gewalt an, die Eure Väter und Mütter sein könnten, Kindern, die Eure Söhne und Töchter sein könnten …“ Natürlich bleiben die Fragen unbeantwortet, aber immerhin werden keine Schockgranaten geworfen, kein Tränengas und keine Gummigeschosse eingesetzt, wie in der Vergangenheit mitunter. Auch dann nicht, als eine Schafherde im Rücken der Demonstranten auftaucht. Ist das gute Regie oder Zufall? Der Schäfer macht keine Anstalten, die Herde umkehren zu lassen. Demonstanten greifen beherzt in den Stacheldraht und heben ihn so weit empor, dass die Herde passieren kann. Die Soldaten treten zur Seite. Die Befestigung der Stacheldrahtrolle hat sich gelockert. Entschlossen ziehen Demonstranten sie zur Seite. Wir halten den Atem an. Der Weg ist frei. Bewegung auf der anderen Seite, unsichere Blicke zum Kommandanten, hastige Telefonate.

Doch statt vorzurücken setzen sich die in der ersten Reihe Stehenden auf dem Asphalt nieder. Schließlich überschreiten zwei Soldaten die unsichtbare Grenze zwischen den Fronten und holen den Draht zurück in die ursprüngliche Position.

Die Aktion ist beendet. Die Anspannung löst sich. Wir gehen auf der Dorfstraße zurück. Eine zweite Schafherde zieht vorüber – offenbar also doch keine Regie, sondern Alltag. Diesmal öffnen die Soldaten selbst die verlassene Absperrung.

Eine Pressevertreter hält Marwan, einem der Organisatoren, das Mikrofon hin: „Können Sie erklären, warum die Demonstranten nicht die Chance ergriffen haben, weiterzuziehen, als der Weg frei war?“ Marwan: „Wir wollten keine Gewalt. Wären wir weitergegangen, hätten wir die Soldaten gezwungen, Gewalt einzusetzen. Es sollte bis zum Ende ein friedlicher Protest bleiben. Das haben wir geschafft. Nächste Woche werden wir wieder hier sein.“ Wir, die ökumenischen Begleiter, auch.

Nachtrag: HAARETZ (angesehene liberale iraelische Tageszeitung) vom 26.3.2010, S.2 engl. Ausgabe: „… Omar A’laa al-din, 25, aus Ma’sara, einem Dorf in der Westbank, wurde vor zwei Tagen aus dem Gefängnis entlassen. Gestern, 10 Tage nach einem Zwischenfall mit der Grenzpolizei, waren die Blutergüsse auf seinem Rücken und seinen Beinen deutlich sichtbar. Es fällt ihm schwer zu laufen und zu sitzen, und infolge von Schlägen gegen den Kopf ist sein Sehvermögen beeinträchtigt. … Der Sprecher der IDF (Israelische Defence Force; G.H.) sagt, A’laa al-din versuchte, Angehörige der Grenzpolizei bei einer regulären Inspektion anzugreifen. A’laa al-din, der an der Hebron-Universität Englisch und Französisch studiert, kam am 15. März mit dem Bus von Bethlehem zurück. Am Container-Checkpoint südlich von Abu Dus stiegen zwei Angehörige der Grenzpolizei ein. Einer von ihnen nahm A’laa al-dins Identitätskarte. Als er sah, dass er aus Ma’sara kommt, deren Einwohner jede Woche gegen den Trennungs-Zaun auf ihrem Boden demonstrieren, befahl er ihm auszusteigen …“ 

Ein zweite Geschichte: Palmsonntag. Das mittägliche Straßenbild in Bethlehem, eine Stadt mit einem hohen Bevölkerungsanteil von Christen, ist durch christliche Gottesdienstgänger geprägt. Besonders die Kinder in ihren Sonntagskleidern und -anzügen, aber nicht nur sie, tragen stolz Palmzweige und Blumengebinde in den Händen. Die Stadt macht, mit deutschen Augen betrachtet, einen fast volkskirchlichen Eindruck.

Auf dem Mangersquare, dem Hauptplatz vor der Geburtskirche, sammelt sich eine Gruppe von ca. 50 Menschen. Sonntäglich gekleidete Christen mischen sich mit Moslems, israelischen und internationalen Friedensaktivisten. Ein Protestmarsch für „Gottesdienst-und Bewegungsfreiheit“ ist angesetzt. Zur etwa gleichen Zeit bewegt sich im wenige Kilometer entfernten Ostjerusalem die Prozession vom Ölberg durch das Kidrontal hinauf zur Altstadt von Jerusalem, unter dem Schmuck der Palmwedel, in ihrer Mitte ein reiterloser Esel – ein Volksfest für die Kirchen und ihre Gläubigen in ganz Palästina und Israel, belebt durch Pilger und Gäste aus aller Welt.

Die Christen aus Bethlehem und von der Westbank können nicht dabeisein. Wegen des jüdischen Pesachfestes ist die Westbank gesperrt. Nur wenige Ausnahmegenehmigungen werden erteilt. Zu Karfreitag und Ostern wird es nicht anders sein. Ebenso ergeht es den Moslems permanent, wenn sie an heiliger Stätte in Jerusalem beten möchten.

Im Bethlehemer Prozessionszug sind zwei Esel mit dabei. Ein kleiner Junge sitzt auf einem und winkt wichtig mit seinem Palmenzweig. Ein Ponny, biblisch unkorrekt aber lustig ansehen, gehört auch dazu. Ein großes Fahnentuch in den palästinensichen Farben wird mitgeführt, Transparente, die die Freiheit der Religionsausübung und das Ende der Okkupation fordern, aus Lautsprechern schallt Kirchenmusik. Der Protestmarsch wendet sich gen Jerusalem. Das heißt er schlägt die Richtung auf die neun Meter hohe Mauer und den festungsartig ausgebauten Grenzübergang Nr. 300 ein, eine der wichtigsten Verbindungen zwischen Westbank und Jerusalem, durch den sich normalerweise im Morgengrauen ca. 3.000 Arbeiter auf dem Weg an ihre Arbeitsplätze drängen, und durch den sich die Touristenbusse mit Reisegruppen auf ihrem Abstecher zur Geburtskirche in Bethlehem schieben.

Jetzt bewegt sich der Zug bereits im Schatten der Mauer, nimmt nicht den Weg zum engen Durchgang für Fußgänger, sondern zum 6 Meter hohen eisernen Tor für Pkw und Busse. Rufe, werden laut: „Wir gehen hinauf nach Jerusalem!“ Und siehe da, das Tor steht halb geöffnet. Ein Hochgefühl greift um sich. Viele in der inzwischen auf ca. 150 Demonstranten angewachsenen Menge haben vermutlich ihren Platz auf Israels schwarzer Liste und damit keine Chance, eine Genehmigung für Jerusalem zu erhalten. Doch jetzt ist das Tor auf Pkw-Breite offen. „Willkommen in Jerusalem“ heißt die hebräische, arabische und englische Aufschrift. Die Demonstration rückt zögernd voran. Der Grenzbeamte muss so erschrocken sein, dass er den falschen Knopf drückt. Statt zu schließen, öffnet sich das Tor wie von unsichtbarer Hand in seiner ganzen Weite, um sich erst nach einem langen Augenblick hinter ca. 100 Palmsonntags-Grenzgängern zu schließen. 

Ca. 30 bleiben zurück auf palästinensischer Seite, auch ich, der ich als ökumenischer Begleiter Abstand zu wahren gehalten bin. Einer meiner Kollegen ging mit nach Jerusalem. Er weiß später von einer freudigstolzen Stimmung zu berichten. Den Grenzbeamten gelang es aufgrund des Andranges nicht, die zweite Sperre zu schließen. Dennoch: Niemand nutzte die Gelegenheit, tatsächlich in das nahe Jerusalem zu entweichen. Das hätte Gewalt provoziert. Man redete mit den Grenzsoldaten. Die Inhaber israelischer Visa konnten problemlos passieren, so auch mein Kollege. Später erfahren wir von 11 Verhaftungen, Verhören, Gefängniseinweisungen, darunter Abbas Zaki, hochrangiger Fatah-Politiker. 

Auch hier ein Nachtrag: Am nächsten Morgen beziehen wir unseren Posten am Drehkreuz für Fußgänger desselben Grenzübergangs. Auch wenn die Westbank geschlossen ist, es gibt Studenten, medizinisches Personal, und vor allem Kranke, die Ausnahmegenehmigungen haben, dazu Mitarbeiter internationaler Einrichtungen und Touristen. Doch an diesem und am nächsten Morgen finden wir alle Zugänge geschlossen. Wir telefonieren mit der dafür eingerichteten Hotline der Armee. Antwort: Bis auf unbestimmte Zeit bleibt dieser Grenzübergang „aus Sicherheitsgründen“ geschlossen. Kollektivstrafe für die Einwohner Bethlehems.