Jul 022014
 

Warum Angela Merkel schlechte Mütterlichkeit verkörpert und weshalb Prominente niedergemacht werden. Ein Gespräch mit dem Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz über Politik und Narzissmus.

Ein Interview von Marc Brost und Merlind Theile

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DIE ZEIT: Herr Maaz, woher kommt eigentlich die Neigung der Öffentlichkeit, Prominente erst hochzujubeln und sie dann niederzumachen?

Hans-Joachim Maaz: Das hat mit unserem eigenen narzisstischen Mangel zu tun. Wenn man sich selbst nicht so gut findet, sucht man sich Idole, im Showbusiness, im Sport, in der Politik, um die eigene Schwäche ausgleichen zu können. Weil das aber eine Illusion ist, kommt es genauso rasch zur Entwertung, wenn das Idol nicht mehr funktioniert, wenn es eine Schwäche zeigt oder einen Fehler macht. Dann wird diese Person weggeworfen wie Abfall. Unser Drang, mit dem Zeigefinger auf Menschen wie zum Beispiel Uli Hoeneß oder Christian Wulff zu zeigen, hat etwas Projektives. Es lenkt von uns selbst ab.

ZEIT: Gibt es etwas, das Hoeneß und Wulff verbindet?

Maaz: Einerseits die Hetzjagd, die gegen sie betrieben wurde. Beiden wurde etwas vorgeworfen, was nicht in Ordnung schien. Aber die Berichterstattung darüber hat dann teilweise das Maß verloren, zumal Wulff am Ende sogar freigesprochen wurde. Andererseits leiden er und Hoeneß sicherlich auch selbst an einer narzisstischen Problematik. Wulff brauchte das Amt des Bundespräsidenten offensichtlich, um sich aufzuwerten. Und Hoeneß hat seine Wettgeschäfte derart zügellos betrieben, dass man auch bei ihm von einer Störung ausgehen muss.

ZEIT: Woran erkennt man einen Narzissten?

Maaz: Ein Mensch mit einer narzisstischen Störung muss immer großartig sein, sich besonders darstellen, um seine eigentliche innere Unsicherheit und seinen Selbstwertmangel zu verbergen. Aber das ist nicht die einzige Form des gestörten Narzissmus. Es gibt auch den ewig nörgelnden, zweifelnden Typ. Der hat als Kind gelernt, dass sich die Eltern nur kümmern, wenn er krank, hilfsbedürftig, tollpatschig ist. So wird ein Verhalten der Schwäche konditioniert. Ich komme aus Ostdeutschland – dort haben wir diese Jammerkultur sehr gepflegt.

ZEIT: Inwieweit beeinflusst die narzisstische Störung die Politik?

Maaz: Wenn ich als Mensch mit einem narzisstischen Mangel behaftet bin, dann muss ich Möglichkeiten der Kompensation suchen. Und in einer Leistungsgesellschaft ist das eben die besondere Leistung. Dazu gehören auch Einfluss und Macht. Eine Führungsfunktion ist da natürlich großes Futter für den narzisstischen Mangel. Wenn ich Macht ausübe, kann ich das Gefühl haben: Ich bin doch toll! Was ich jetzt bewirken kann! Das kann man auch sehr gut rationalisieren: Wenn man Politik macht, tut man ja etwas fürs Volk, man macht etwas für die Menschen, wie unsere Kanzlerin immer sagt. Das stimmt ja, aber in der Phrase verbirgt sich auch das Geltungsbedürfnis. Und in erster Linie dient so ein politisches Amt der eigenen seelischen Stabilisierung.

ZEIT: Unsere Politiker sind allesamt gestörte Narzissten?

Maaz: Die meisten Politiker treten in einer Art und Weise auf, die ganz klar narzisstisch geprägt ist. Im persönlichen Gespräch sind viele durchaus sorgenvoller, nachdenklicher, selbstkritischer, geben aber auch zu erkennen, dass sie solche Aussagen nicht veröffentlichen dürfen, weil sie dann sozusagen die Parteiinteressen verraten oder als nicht mehr wählbar gelten. Das sagt natürlich auch etwas über die Unmündigkeit der Wähler, die nur jemanden wählen können, der souverän und stark und selbstbewusst wirkt, so als könnte er ihr Leid tatsächlich lindern. Da werden elterliche Defizite als Hoffnung auf die Politiker projiziert.

ZEIT: Gleichzeitig beklagen sich sehr viele Politiker darüber, dass Politik in der Berichterstattung auf Intrigen und Machtkämpfe reduziert werde.

Maaz: Das ist sicher eine Schutzbehauptung. Tatsächlich nutzt die Skandalisierung den Politikern ja auch, weil sie von fehlenden politischen Inhalten ablenkt.

ZEIT: Wie passt die Bundeskanzlerin in Ihr Schema?

Maaz: Für meine Begriffe haben wir es da mit einer Mutterübertragung zu tun. Wir Männer haben ja fast alle eine unerfüllte Muttersehnsucht. Aber dass Angela Merkel an die Macht gekommen ist, liegt aus meiner Sicht daran, dass sie gerade so wenig mütterlich ist.

ZEIT: Das müssen Sie erklären.

Maaz: Merkel verkörpert wenig gute Mütterlichkeit, damit ist das eigene mangelhafte Mutterbild geschützt.

ZEIT: Was heißt denn gut mütterlich?

Maaz: Man erlebt gute Mütterlichkeit, wenn man sich verstanden, angenommen, bestätigt und in seiner Not gesehen fühlt. Kurzum: wenn man wirklich geliebt wird. Aber die meisten von uns müssen stattdessen nur die Erwartungen und Bedürfnisse der Mutter erfüllen. Wir würden also eine Frau an der Spitze gar nicht aushalten, die diese guten mütterlichen Eigenschaften hätte, weil uns das unseren eigenen Mangel schmerzhaft bewusst machen würde. Also haben wir eine „Ersatzmutter“ gewählt, die garantiert, dass wir nicht an unseren Muttermangel erinnert werden.

ZEIT: Und warum ist Merkels Spitzname dann ausgerechnet „Mutti“?

Maaz: Das ist doch Ironie, albern, eine versteckte Abwertung. Weil Merkel so unmütterlich ist, eignet sie sich für die etwas lächerliche Projektion.

ZEIT: Narzisstisch wirkt Merkel auf uns jedenfalls nicht, im Gegenteil. Sie gilt als bescheiden und unprätentiös. Wie passt das zu Ihrer Annahme, man müsse schwer narzisstisch gestört sein, um in der Politik Karriere zu machen?

Maaz: Merkel hat eine typische Ost-Sozialisation. Das äußere Bild, Kleidung und das Auftreten waren nicht so wichtig. Es galt, sich anzupassen, abzuwarten, vorsichtig zu sein. Das hat Merkel erfolgreich gelernt. Aber ein umfassendes Urteil über ihre Psyche kann ich natürlich nicht fällen, ich kenne sie ja nicht persönlich. Ich weiß nur, dass ich keinen Tag Bundeskanzler sein könnte, ich würde vergehen an Ängsten und Sorgen, was ich alles nicht verstehen und falsch machen könnte. Man muss sich da ganz schön ein-engen, um überhaupt handeln zu können. Die Gefahr ist groß, dass man sich selbst verkennt, dass man wirklich glaubt, es gäbe keine bessere Entscheidung. Denken Sie an das von Merkel geprägte Wort „alternativlos“. Was für ein dummes Wort! Es ist nie irgendetwas alternativlos. Es gibt immer Alternativen, so ist das Leben.

ZEIT: Machen Frauen anders Politik als Männer?

Maaz: Wäre schön.

ZEIT: Ist aber nicht so?

Maaz: In meinen Augen ist es keine gute mütterliche Politik, etwa die Nato einfach weiter nach Osten verlegen zu wollen, wie es unsere Verteidigungsministerin vorschlägt. Eine gute mütterliche Politik wäre bestrebt, nicht anzuheizen, nicht das Macho-Gehabe zu verstärken, sondern zu sagen: Leute, wir müssen reden, wir müssen meinetwegen auch die Interessen der Russen verstehen und sie nicht einfach nur beschimpfen. Erst wenn man die Motive des Gegenübers versteht, könnte man, glaube ich, auch eine bessere Politik machen.

ZEIT: Und das gilt auch im Umgang mit Wladimir Putin?

Maaz: Als Therapeut weiß ich, wie schwierig es ist, einen Narzissten zu behandeln. Herr Putin will natürlich auch geliebt sein, und er wird zu spüren bekommen, dass das Geliebtwerden durch Stärke, durch machohaftes Gehabe seine Grenzen hat. In der Tiefe wird auch er andere Wünsche haben. Und wenn eine Politikerin mit therapeutischen Kompetenzen mit ihm darüber ins Gespräch käme und so viel Vertrauen entstünde, dass er auch mal seine Ängste, seine Nöte offenbaren könnte, dann wäre das Spiel gewonnen.

ZEIT: Bei einem der Treffen mit Merkel hat Putin lieber seinen Hund ins Zimmer gelassen – wohlwissend, dass Merkel Angst vor Hunden hat.

Maaz: Ja, das war tiefste Psychologie. Aber auch ein Symptom seiner Angst. Putin musste den Hund einführen, weil der für ihn die eigene Angst bändigen und Merkel einschüchtern sollte. Das war sehr geschickt, aber psychologisch gesehen auch ein Zeichen seiner Unsicherheit.

ZEIT: Was würde passieren, wenn Politiker öffentlich zu ihrer Unsicherheit stehen würden? Wenn sie sagen würden: Für dieses oder jenes Problem habe ich jetzt auch keine Lösung?

Maaz: Das hätte eine große Verunsicherung zur Folge und großes Geschrei. Im bisherigen System bedienen sich Politiker und Wähler ja wechselseitig: Die Politiker tun so, als hätten sie alles im Griff, und ein Großteil der Bevölkerung braucht eine scheinbar starke Führung. Wenn die wegfiele, gäbe es tatsächlich eine große gesellschaftliche Krise. Aber als Arzt weiß ich, dass ohne Krise keine wirkliche Veränderung stattfindet.

ZEIT: Kürzlich gab es ja eine politische Kraft, die mal einen anderen Weg versucht hat, die Piraten. Die haben gesagt: Wir haben nicht für jedes Problem eine Lösung, wir wissen es auch nicht besser. Am Anfang haben sie davon profitiert, letztlich sind sie doch gescheitert. Warum?

Maaz: Weil das nicht sehr viele Menschen aushalten. Die wollen geführt werden. Wie sind die Grünen angetreten mit ihrer Basisdemokratie, und was ist aus ihnen geworden? Das ist eine Führungspartei wie alle anderen. Den meisten Wählern geht es nur darum, sich an etwas festbeißen zu können, statt selber Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu fällen.

ZEIT: Sie selbst lehnen Führung an sich nicht ab. Sie differenzieren zwischen guter und schlechter Führung. Wo liegt der Unterschied?

Maaz: Gute Führung ist Kompetenz, aber auch Akzeptanz der Begrenzung. Und schlechte Führung ist autoritär. Dass man sich unbedingt durchsetzen muss, sich immer besser dünkt und andere schlechtmacht. Es gibt keinen Übermenschen, der alles wüsste. Aber viele Politiker benehmen sich so. Denken Sie an den türkischen Premier Recep Tayyip Erdoğan. Dessen Verhalten beweist eine schwere narzisstische Störung: Auf Kritik reagiert er übermäßig affektiv, lässt Internetdienste sperren und so weiter. Wenn man ihm sagen würde, dass er innerseelisch vermutlich ein sehr schwacher, unsicherer, ängstlicher Mensch ist, würde er das natürlich heftig abstreiten, weil er ja gerade das Gegenteil präsentiert.

ZEIT: Gibt es einen Ausweg aus der narzisstischen Störung?

Maaz: Man kann sie nicht heilen, aber man kann lernen, damit umzugehen. Der erste Schritt ist, dass wir darüber sprechen, darüber schreiben, dass Politiker kritisch angefragt werden. Ich will nicht recht haben, ich will aber zum Nachdenken anregen.

ZEIT: In Ihrem Bestseller Die narzisstische Gesellschaft behaupten Sie, dass die überwiegende Mehrheit der Deutschen an einer narzisstischen Störung leide. Wie kommen Sie darauf?

Maaz: Dazu muss ich meinen Hintergrund erklären. Ich bin 1943 geboren, also im Nationalsozialismus, vertrieben aus dem Sudetenland nach Sachsen, im Sozialismus aufgewachsen und im Kapitalismus angekommen. Es hat mich immer interessiert, wie es sein kann, dass die Mehrheit einer Bevölkerung eine offensichtliche Pathologie mitmacht. Wir sind begeistert in den Krieg gezogen und haben akzeptiert, dass ein Volk vernichtet wird. In der DDR waren wir dann angepasst, mussten immer nur jubeln oder kuschen. Und heute machen wir mit beim Wachstumswahn, beim Konsumrausch, immer besser, immer höher, immer weiter. Diese Verhaltensweisen sind allesamt gestört.

ZEIT: Ihrer Meinung nach entsteht die narzisstische Störung in der frühen Kindheit, durch mangelnde Zuwendung der Eltern, vor allem der Mutter. Wir haben eher den Eindruck, Kinder standen mit ihren Bedürfnissen noch nie so sehr im Mittelpunkt wie heute.

Maaz: Das stimmt nicht ganz. Eher stehen die Erwartungen der Gesellschaft an die Kinder im Mittelpunkt. Ich sehe da eine tragische Fehlentwicklung. Wir hören zwar immer mehr von frühkindlicher Bildung, aber das halte ich mit Verlaub für Schwachsinn. Es geht um frühkindliche Bindung, und die hat etwas mit der Beziehung der Eltern zum Kind zu tun. Ein gut gebundenes Kind erfährt, dass es gewollt und geliebt ist, gerade auch mit seinen Grenzen und Schwächen, unabhängig von seinen Leistungen. Mit der Fokussierung auf die frühkindliche Bildung nimmt die Politik eher eine kinderfeindliche Perspektive ein.

ZEIT: Wie haben denn Politiker auf Ihre Thesen reagiert?

Maaz: Gar nicht.

ZEIT: Wie erklären Sie sich das?

Maaz: Wenn man sich mit meinen Thesen auseinandersetzen würde, müsste man sich selbst natürlich auch kritisch hinterfragen, und das tut keiner gern.

ZEIT: Würde unser Gesellschaftssystem ganz ohne Narzissmus überhaupt funktionieren?

Maaz: Es würde anders funktionieren. Wir wären weniger getrieben, weniger süchtig, eher zufrieden und bräuchten nicht so viel, weil wir innerlich ausgeglichener wären.

ZEIT: Woher käme der Antrieb zum Fortschritt?

Maaz: Ich denke, wir Menschen sind immer interessiert, uns zu bilden oder neugierig zu sein, Beziehungen zu erweitern und zu vertiefen. Das äußere Wachstum ist mit Sicherheit endlich, aber das innere Wachstum ist wirklich unbegrenzt.

ZEIT: Ist Narzissmus immer schlecht?

Maaz: Es gibt auch einen gesunden Narzissmus. Wenn ein Mensch von sich sagen kann: So wie ich bin, bin ich in Ordnung. Ich weiß, was ich kann, aber auch, was ich nicht kann – und das ist nicht schlimm. Ein selbstsicherer Mensch wäre froh, auf mögliche Fehler oder Schwächen hingewiesen zu werden. Es würde ihn nicht in seinen Grundfesten erschüttern, sondern ihm helfen, sich besser zu verstehen und zu entwickeln.

ZEIT: Und wie narzisstisch gestört sind Sie selbst?

Maaz: Sehr. (lacht) Aber ich musste auch lernen, dass mich die narzisstischen Muster bei meiner eigenen Arbeit als Psychoanalytiker behindert haben. Ich habe über meine Arbeit gelernt, was mit mir los ist. Und vieles von dem, was ich bei mir und bei anderen gefunden habe, hielt ich für so schlimm, dass ich fand: Darüber kann man nicht schweigen.


Die Zeit vom 24.04.2014