Jul 302014
 

Rückblick auf schwere Tage

Von Missionar Hermann Gäbler 

Evangelisch-lutherisches Missionsblatt, Leipzig 1917, Seite 42 bis 46 und Seite 53 bis 58

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Inhalt


Missionsarbeit zu Beginn des Krieges

Gottes gewaltige Hand hat eingegriffen in die Geschicke der Völker: Europas Mächte sind im Kampfe. Das waren unsere Gedanken, als wir am 1. August 1914 von unserm Erholungsurlaub in Kodaikanal nach Madras zurückkehrten. Schon am 3. August gewann es den Anschein, dass England eingreifen würde. Nachdem dies geschehen war, befanden wir uns als Deutsche im Feindesland. Die erste Maßregel war die Wegnahme aller Schießgewehre. Auch ich musste meine Schrotflinte und mein Tesching abgeben. Eine Bescheinigung dafür aber habe ich nicht erhalten. Die Gewehre werden noch jetzt auf der Polizeistation zu Kilpak (Madras) lagern.

Für die Glieder des Missionskirchenrates galt es nun, sofort Mittel und Wege zu finden, um das Werk vor Schaden zu behüten und neue Hilfsquellen zu erschließen. Wie das Alles im Einzelnen zur Tat wurde, ist den Lesern des Missionsblattes aus früheren Mitteilungen bereits bekannt. Im August schon und noch mehr im September litt ich wiederholt an langwierigen Fieberanfällen. Der endlich herbeigezogene englische Arzt war nicht imstande, die Krankheit genau zu erkennen. Auch die Blutuntersuchung ergab kein bestimmtes Resultat wohl infolge der vorangegangenen Chininkur. Nachdem Propst Meyner von den Bergen zurückgekehrt war, mussten wir beide vor dem Polizeiobersten „Parole“ geben, d.h. ein vorgedrucktes Schriftstück unterzeichnen, in welchem wir versprechen, in keiner Weise und in keiner Hinsicht etwas gegen das englische Reich oder die englisch-indische Regierung zu tun. Diese „Parole“ war aber erst möglich, nachdem ein englischer Missionar die schriftliche Versicherung abgegeben hatte, dass man sich auf unser Wort verlassen könne. 

Meine Tätigkeit in Madras ging mit dem 30. September 1914 zu Ende. Am 1. Oktober bezogen wir das Missionshaus zu Wülupuram (Viluppuram). Für die Übersiedlung dahin hatte ich die Genehmigung der Behörden des Süd-Arkot-Distrikts, in dem Wülupuram eine Kreisstadt ist, erbeten und erhalten. 

Hier war mein erster Eindruck, dass unter den Missionsarbeitern einstimmig große und herzliche Dankbarkeit dafür herrschte, dass die Missionsleitung die erhöhte Gehaltsstaffel bewilligt hatte. Freilich war ihnen diese Wohltat nur einen einzigen Monat zugute gekommen (Juli 1914). Aber sie hatten nicht nur mit großer Bereitwilligkeit auf diese langersehnte Erhöhung wieder verzichtet, sondern waren auch bereit, für ihre Kinder in den Kostschulen ausnahmslos große Opfer zu bringen, und die Kriegszeit durchzuhalten. Niemand ahnte damals, dass der Krieg auch nach zwei Jahren noch wüten würde. Verschiedene Kostschüler haben darum auch das Studium aufgeben müssen.

Die Lebensverhältnisse im Wülupuram-Distrikt sind durch den Krieg sehr stark beeinflusst worden. In den Jahren vor dem Kriege war der Erdnussanbau immer mehr gefördert worden. Etwa zwei Drittel alles Ackerlandes wurde mit dieser Handelspflanze bestellt. Das Brotgetreide dagegen musste zum größeren Teile aus andern Gegenden eingeführt werden. Da der Bau der Erdnuss aber einen großen Gewinn abwarf, hatte die Beschaffung der Lebensmittel aus der Ferne nichts Drückendes für die Bevölkerung; im Gegenteil, die Gesamtbevölkerung erfreute sich eines gewissen Wohlstandes. Dies wurde durch den Krieg sofort anders. Die Preise für die Nüsse sanken auf die Hälfte, weil sofort nach Anfang des Krieges keine Schiffe mehr für den Export von Pondischeri nach Marseille frei waren. Dazu kam noch, dass die Erdnussernte 1914/15 durch die gewaltigen Monsunniederschläge sehr geschädigt wurde. Zur Zeit dieser Ernte, die sonst eine Zeit des Überflusses für Landbesitzer wie Arbeiter gewesen war, trat eine große Notlage ein. Die Arbeiter konnten nicht einmal – so viel erwerben, wie für ihren täglichen Unterhalt nötig war. Die Reispreise waren hoch und sind andauernd im Steigen, weil die Ausfuhr ständig höhere Preise für den Reis bezahlt. Die ganze Bevölkerung ist durch den Krieg empfindlich in Mitleidenschaft gezogen. Im März dieses Jahres, also bald nach der Ernte, wo sonst die Preise am niedrigsten sind, gab es für eine Rupie nur 4 ½ Madras Maß Reis. Das sind Hungersnotpreise. 

Besonders empfindlich wurden die ärmsten unserer Gemeindeglieder getroffen, meist alte, kranke, arbeitsunfähige, völlig einsam dastehende arme Witwen, da jetzt jegliche Unterstützung aus der Missionskasse in Wegfall kam. Das war für uns sehr schwer zu tragen, und hat uns auch finanziell rechte Opfer auferlegt. Aber die Armen sowohl, wie auch die Besitzenden oder Verdienenden haben sich ohne Murren in die Verhältnisse gefunden. Die Gemeindeglieder ließen sich willig finden, für die Zwecke der Armenkasse ebenso viel beizusteuern wie für die Kirchkasse. Diese Extragabe reichte freilich nicht aus, um eine Mehrausgabe am Ende des Jahres zu verhindern. Diese wurde gedeckt durch die Gabe des Nachbarchristbaums, der ja die Tamulenchristen auch in der Kriegszeit nicht vergessen hat. Allen treuen Gebern des Nachbarchristbaums möchte ich darum auch an dieser Stelle meinen und meiner früheren Gemeinden herzlichen Dank aussprechen. Die Arbeit in Wülupuram wurde gleich nach Beginn des Krieges durch Aufhebung einiger Schulen eingeschränkt, deren Fortführung nicht unbedingt nötig war. 

Die evangelistische Betätigung wurde allenthalben unmöglich. Auch der Verkauf von Evangelien, der in Wülupuram besonders gepflegt worden war, flaute so ab, dass es dem Pastor Samuel Pakiam nur noch selten gelang, ein Exemplar abzusetzen. Das Interesse der Leute war ausschließlich den Kriegsereignissen zugewendet. Die Zeitungen wurden in bedeutend vermehrter Auflage gedruckt und gelesen. Als aber die Fronten ihre Stellungen nicht mehr wesentlich änderten, wurde auch das Interesse an den Zeitungen geringer. Nur die Mohammedaner blieben weiterhin recht fleißige Zeitungsleser, denn ihre Blätter brachten in der Regel mehr und frühere Nachrichten als die englische Presse. Im Ganzen aber bestellten viele ihre Zeitungen wieder ab und begnügten sich wie früher mit den mündlichen Mitteilungen ihrer zeitungslesenden Nachbarn. In der Predigt habe ich des Krieges nie anders als eines Strafgerichts unseres Gottes gedacht. Polizeibeamte sind wiederholt Hörer meiner Predigten gewesen. Das Reisen bzw. der Besuch der Außengemeinden wurde mir fast zur Unmöglichkeit, da ein Reisepass nur zögernd und ungern gewährt wurde, oft erst nach 10 bis 14 Tagen.

Auch Pastor Samuel Pakiam sah sich gezwungen, auf die evangelistische Tätigkeit insofern zu verzichten, dass er nicht vor größeren Versammlungen predigte. Er konnte nur noch gelegentlich auf den Veranden von Häusern in kleinerem Kreise sprechen. Die Leute wollten nichts als Nachrichten über den Krieg hören. Er aber war angewiesen, sich möglichst aller politischen Gespräche zu enthalten. Mir war von den Regierungsbeamten, angedeutet worden, dass die Missionsarbeiter und auch die Gemeindeglieder sich jeglicher politischen Kundgebung enthalten müssten, wenn mir meine Freiheit lieb sei. Wir hatten aber immer die Hoffnung, dass uns die Arbeit in Indien während des Krieges gestattet bleiben würde. Als ich aber auch nicht mehr die Erlaubnis erhielt, an den Kirchenratssitzungen in Madras teilzunehmen, weil Madras zum verbotenen Gebiet für Ausländer erklärt wurde, nachdem auch dort die Herstellung von Munition und anderem Kriegsmaterial begonnen hatte, und als die Deutschenhetze in den Blättern immer toller wurde, besonders seit dem Untergange der Lusitania, kamen uns allen Zweifel und veranlassten die für die Geschichte unserer Mission so wichtige Kirchenratssitzung in unserem Hause zu Wülupuram am 16. und 17. Juli 1915. Dass wir nicht zu schwarz gesehen, wurde bestätigt durch die gerade einen Monat später datierte Mitteilung der Regierung, dass wir uns bereit zu halten hätten, Indien innerhalb eines Monats zu verlassen. Nun galt es, schnell möglichst Alles zu verkaufen und für die Reise zu packen. Dass dabei große persönliche Verluste unvermeidlich waren, ist leicht verständlich. Von dieser Zeit ab jagten sich die Erlasse und Bestimmungen über unsere Heimreise. Das Datum derselben wurde aber immer wieder hinausgeschoben, bis es für uns plötzlich wenige Tage vor der ersten Abreise der Golconda in einer Depesche hieß, dass niemand aus dem Süd-Arkot-Distrikt mit diesem Schiffe reisen solle. 

Somit blieben Bruder Heller und ich zunächst noch auf unsern Stationen. Der Jahresabschluss kam heran. Ja, wir durften noch den zweiten Weihnachtsfeiertag gemeinsam in Sidambaram verleben, aber die Internierung Bruder Hellers drohte bereits und wurde in den ersten Tagen des neuen Jahres zur Wirklichkeit. Nunmehr war ich der einzige Missionar deutscher Staatsangehörigkeit in unserer Mission, der noch auf seiner Station weilte. Bruder Heydenreich war zwar in Madras auch noch in Freiheit, aber doch nicht mehr auf seiner Station. Obwohl ich nicht klagen kann, dass ich von den Beamten in irgendeiner Weise unhöflich behandelt worden wäre, war man doch unausgesetzt beobachtet und bewacht, wenn auch später nicht mehr so scharf, wie im ersten Kriegsjahre. Da musste die Polizei zweimal am Tage berichten, ob wir in unserem Hause seien. Die oben erwähnte Kirchenratssitzung hat die Polizeibeamten ganz besonders beschäftigt. Ein Polizist aus Kudelur hat sogar die Schulkinder auf dem Gehöft ausgefragt, und sich genau sagen lassen, in welchem Zimmer die Sitzung stattgefunden habe, ob meine Frau an derselben teilgenommen habe, ob Eingeborene dabei gewesen seien, ob Türen und Fenster dabei geschlossen waren usw. Alle Brüder hatte ich vorschriftsmäßig an- und abgemeldet, und die schwedischen Brüder und Bruder Brutzer brauchten sonst nichts. Erst nachdem der höchste Polizeibeamte des Distrikts persönlich zu mir gekommen war, um sich darüber zu informieren und sich eine englische Übersetzung des Verhandlungsprotokolls auszubitten, die ich ihm auch geliefert habe, beruhigten sich die Gemüter wieder. 

Um die Jahreswende hatte ich noch die Freude, auf Veranlassung des Kirchenrats die Gemeindeglieder in Wülupuram sowohl wie in Kudelur zu einer Versammlung einzuberufen, in der sie sich bereit erklärten, die Gemeindeordnung als für sich bindend anzunehmen. In Kudelur freilich wollte ein Gemeindeglied nicht recht mitmachen, weil er mit Absicht seine Kirchkassenbeiträge mehrere Monate nicht gezahlt hatte. Es war nämlich, wie es scheint, von den Arbeitern der dänischen Mission das Gerücht ausgesprengt worden, dass die dänische Mission in die Arbeit der Leipziger Mission auf den Stationen des Süd-Arkot-Distriktes (Sidambaram, Kudelur, Panruti und Wülupuram) eintreten werde. Da nun die unionistische und zugleich moderne Haltung des in Kudelur lebenden dänischen Missionars genugsam bekannt war, erhob sich in allen meinen Gemeinden ein sehr entschiedener Widerspruch gegen diese angeblich geplante Maßnahme. „Rein Lutherisch“ wollten sie bleiben, nicht nur dem Namen nach, sondern in Wirklichkeit. Das ist mir wiederholt versichert worden. Noch durch meine Frau ließ mir ein Gemeindeglied sagen, dass er lutherisch bleiben würde, möge kommen was da wolle.