Aug 012014
 

Leben – Arbeit – Vermächtnis

Herausgegeben von Lodewijk Blok – Niederlande, Bert Hanekamp – Niederlande – Giselher Hickel – Deutschland, April 2004

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Inhaltsverzeichnis

Wegbegleiter von Dietrich Gutsch trafen sich im Oktober 2001 in Berlin. Es ist eine Broschüre aus Anlass des 70. Geburtstages von Wolf Dietrich Gutsch entstanden.  Herausgegeben von Lodewijk Blok – Niederlande, Bert Hanekamp – Niederlande – Giselher Hickel – Deutschland, April 2004


Einleitung

Von Giselher Hickel

Wir sind etwas spät dran, indem wir jetzt mit einer Textsammlung an einen Menschen erinnern, der seit über zwanzig Jahren tot ist. Die Idee, die Erinnerung an Dietrich Gutsch auf diese Weise wach zu halten, kam bald nach seinem Tode ins Gespräch. Wir verdanken dieser ersten Initiative, dass Texte von ihm und über ihn gesammelt, von Tonbändern und schwer lesbaren Manuskripten abgeschrieben und aufbewahrt wurden. Vor allem Karin Salzwedel hat viel Kraft und Liebe auf diese mühevolle Arbeit, Trauerarbeit im besten Sinne nach Dietrichs frühem Tod, verwandt.

Das Vorhaben wurde zunächst nicht realisiert. Schuld war vor allem das unbestimmte Gefühl, dass die Texte nur sehr unvollkommen wiedergaben, was Dietrich uns bedeutet hatte. Sein Reden, sein Auftreten, sein Beteiligt sein an Gesprächen, Denkprozessen und Verhaltensweisen war viel, viel mehr, als Geschriebenes zum Ausdruck bringen konnte. Hinzu kam, dass es für die meisten seiner Vorträge und Bibelarbeiten lediglich Notizen gab, Stichworte, die Erinnerungen nur bei denen wecken konnten, die ihm zugehört hatten. Später brachten die politischen Umwälzungen es mit sich, dass alles nicht mehr zu gelten schien. Ein Rechtfertigungsdruck wäre ins Spiel gekommen, dem wir uns nicht hätten entziehen können, dem wir uns aber nicht zu beugen gedachten.

Sich rundende Jahrzehnte bieten gelegentlich willkommenen Vorwand. Im Herbst 2001 hätten wir Dietrichs 70. Geburtstag gefeiert. Wir gedachten zugleich seines 20. Todestages. Wir luden zu einer Wochenendtagung ein. Freunde und Gefährtinnen trugen vor, was sie heute, rückblickend auf die Gestalt des einstigen Freundes, bewegte. Die Tagung weckte erneut und mit Nachdruck den Wunsch, Texte von, nun aber auch die Erinnerungen an Dietrich Gutsch einem größeren Kreis zugänglich zu machen.

Nach wie vor war es nicht einfach, Texte zu finden, die den Ansprüchen einer Drucklegung genügen. Die Notizen sind oft sperrig. Man merkt ihnen an, dass der Autor in den Vorträgen, denen sie zugrunde liegen, ziemlich frei gesprochen hat. Immer wieder finden sich zwischen ausformulierten Passagen Stichwortsammlungen, die keiner Ausführung bedurften. Hier war klar, was und wie es zu sagen war. Nicht also allein, dass die Aufzeichnungen nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, sie waren, so wie sie sind, nicht einmal durchgängig zum mündlichen Vortrag geeignet. Dennoch schien es uns wichtig, Gedanken von Dietrich nicht nur in der Spiegelung durch die Erinnerungen anderer festzuhalten, sondern wenigstens an einigen Stellen seiner eigenen Gedankenführung und Argumentationskette zu folgen. 

Wenn wir heute Lesern zumuten, sich mit diesen Gedanken aus den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts auseinanderzusetzen, so bedarf das einer Rechtfertigung, die sich nicht allein auf den Hang beruft, Wertgehaltenes aufzubewahren. Die Frage ist, ob wir heute über das hinaus gelangt sind, wofür Dietrich gestritten hat, bzw. wogegen die ökumenische Bewegung in den 60er und 70er Jahren entschieden Front gemacht hat? Mit einer Mischung aus bewunderndem Erstaunen und zugleich schmerzlichem Bedauern stellt man beim Lesen immer wieder fest, wie aktuell seine Gedanken sind. Zwar gibt es Formulierungen, die wir so heute kaum noch benutzen würden. Zwar sind der Vietnamkrieg, das Apartheid-Regime und die Pinochet-Diktatur Geschichte. Ungültig, unwichtig oder gar unerträglich sind die wichtigsten Anliegen deshalb noch lange nicht. 

Dietrich Gutsch

Dietrich Gutsch

Neben der Aktualität der Texte gibt es natürlich auch ein historisches Interesse, einen so profilierten Denker und Mitgestalter in den DDR-Kirchen wenigstens mit einigen Originaltexten vorzustellen. Es waren nicht sehr viele in den Kirchen jener Jahre, die wie Dietrich darauf bestanden, dass eine andere Welt möglich sei, anders als die Welt, die sich selbst als christlich-abendländisch und rechtstaatlich bezeichnete und selbstherrlich so verstand. Der Glaube an die Alternative war bei ihm nie und nimmer Anpassung, sondern er kam aus der Bekehrung durch das Evangelium, eine Bekehrung des Bekehrten hin zur Welt. Die wäre ohne die Ökumene, ohne die Wahrnehmung der Armut und des Leidens unter sozialem Unrecht nicht möglich gewesen. Eine Schlüsselgeschichte, die in Dietrichs Texten immer und immer wieder auftaucht, erzählt von einer bolivianischen Bäuerin, die beim Verteilen des Essens unter ihre Kinder das Jüngste übergeht. Auf die Frage eines Beobachters, warum sie so unmütterlich handle, antwortet sie, dieses Kind werde ohnehin als erstes sterben. Sie könne den anderen die Nahrung zu entziehen, die dem Säugling doch nicht das Leben retten könnte. Dieser Bericht muss Dietrich tief getroffen haben, und niemals hat er ihn aus dem Gedächtnis verloren. Wenn er davon sprach, kam gelegentlich der Begriff „Hass“ ins Spiel.

Es gehörte viel Courage dazu, in unseren Kirchen in der DDR der 60er/70er Jahre den Glauben an die globale Alternative zu verteidigen und zwar nicht theoretisch, sondern indem man ihn in Beziehung setzte zur Realität der eigenen sozialistischen Gesellschaft. Man wurde theologisch und politisch zum Außenseiter. Darunter hat Dietrich viel mehr gelitten als er sich gewöhnlich hat anmerken lassen. Anderseits ermöglichte dieser Glaube den Dialog mit denjenigen Marxisten, denen es ebenfalls um Veränderung ging. Natürlich dachte Dietrich nicht so schlicht, dass er vorhandene sozialistische Strukturen per se für tauglich zur Rettung der Welt gehalten hätte. Solche Primitivität ist eine Erfindung hiesiger und heutiger ideologischer Propaganda. Sein tägliches Brot war es, solche „realsozialistischen“ Strukturen anzunehmen und darin zu leben, um sie zu öffnen und zu verändern. Wozu sonst die ökumenischen Jugenddienste, wozu die Christliche Friedenskonferenz, wozu der Ökumenischen Jugendrat in Europa. Warum sonst hätten wir uns um Informationen jenseits engstirniger Linientreue gemüht, um ökumenische Kontakte gerungen, um Visa gekämpft? Strittig war die Arbeit in der eigenen Kirche, aber es gab auch mit dem Staatssekretariat für Kirchenfragen, mit dem Ministerium für Staatssicherheit, mit FDJ, Friedensrat, Solidaritätskomitee usw. zermürbende Kontroversen. Das sei ausdrücklich nicht gesagt, um nachträglich ein Blatt von dem Lorbeer des Widerstandes für ihn einzuheimsen. Dietrich stritt vor allem mit den anderen, nicht gegen sie. Das merkten sie, und die Besten achteten ihn deshalb in den Kirchen ebenso wie in den Behörden. Widerstand leistete Dietrich gegen die, die in Ost und in Westen zufrieden waren mit dem gegenwärtigen Zustand der Welt. Widerspruch meldete er immer dann an, wenn in den Kirchen so geredet oder so getan wurde, als sei der „christliche Westen“ das Nonplusultra christlicher Gesellschaftsvorstellung. Widersprechen würde Dietrich heute, davon bin ich überzeugt, denen, die mit dem Sieg des Westens die sozialistische Idee als erledigt und jede Alternative zum Weltkapitalismus für undenkbar ansehen. Dabei geschieht doch heute nur das, wovor er gewarnt hat, und was er zu hindern helfen wollte.

Adressaten des Heftes sind nicht zuerst die unter uns, die sich erinnern wollen, sondern die es nicht aufgegeben haben, eine andere Welt zu suchen – seien sie nun Dietrichs Altersgenossen oder seien sie so jung wie seine Kinder und Enkel.

März 2004


Curriculum Vitae Wolf-Dietrich Gutsch

  • 07.09.1931 In Berlin geboren
  • 1937-1949 Schulbesuch in Berlin – Göhrsdorf – Königs Wusterhausen – Berlin 
  • 1945 Vater im Krieg vermisst 
  • 1946 Teilnahme an einer Rüstzeit in Stuttgart – Entscheidung für Jesus Christus – Ehrenamtlicher Mitarbeiter in der kirchlichen Jugendarbeit – Aufbau von Jungscharkreisen in Karlshorst – Ökumenische Zusammenarbeit mit Gruppen der Römisch-Katholischen Kirche
  • 1947 Konfirmation 
  • 1949-1950 Ausbildung im Seminar für kirchlichen Dienst in Berlin – Weissensee 
  • 1950 Katechetisches Praktikum in Berlin – Oberschöneweide 
  • 1951-1953 Fortsetzung der Ausbildung im Seminar für kirchlichen Dienst Berlin – Zehlendorf 
  • 1953 Eheschließung mit Charlotte geb. Pobloth 
  • 1953-1955 Katechet beim Erziehungsausschuss in Berlin – Lichtenberg 
  • 1954 Sohn Thomas geboren 
  • 1955 Mitarbeiter der Gossner Mission in der DDR für ökumenische Aufbaulager 
  • Erstes ökumenisches Aufbaulager in Berlin – Karlshorst an der Kirche „Zur Frohen Botschaft“ 
  • 1956 Erstes ökumenisches Aufbaulager in der DDR in Zusammenarbeit mit der Jugendabteilung des Ökumenischen Rates der Kirchen und dem Nationalen Aufbauwerk 
  • 1959 Sohn Christoph geboren 
  • 1961 Jugenddelegierter bei der 3. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Neu Delhi – Teilnahme an der 1. Allchristlichen Friedensversammlung 
  • Mitglied des Regionalausschusses der Christlichen Friedenskonferenz in der DDR (CFK) 
  • 1965 Referent für Ökumenische Aufbaulager und Nationalkorrespondent zur Jugendabteilung des Ökumenischen Rates der Kirchen bei der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugend in der DDR 
  • 1966 Sohn Markus geboren 
  • 1967 Jugenddelegierter an der 5. Vollversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) in Pörtschach (Österreich) 
  • 1968 Gründung des Ökumenischen Jugendrates in Europa (EYCE) – Mitglied des Exekutivkomitees 
  • 1969-1975 Vorsitzender der Internationalen Jugendkommission der CFK 
  • seit 1971 Leiter des Ökumenischen Jugenddienstes der Kommission Kirchliche Jugendarbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR 
  • 1968 Gründung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Jugend in der DDR – Mitglied des Ökumenischen Jugendrates in der DDR 
  • 1972-1978 Vorsitzender des Ökumenischen Jugendrates in Europa 
  • 1974 Delegierter an der 7. Vollversammlung der KEK in Engelberg, Schweiz 
  • seit 1975 Internationaler Sekretär der CFK 
  • 07.03.1981 in Berlin verstorben