Aug 012014
 

Deutscher Lehrer in Prag

Von Christoph Rommel

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Als ich im Januar 1993 nach Prag kam, hatte ich recht vage Vorstellungen von der Goldenen Stadt. Ich war als Lehrer an das Gymnasium Na Prazacce vermittelt worden. In ihm werden tschechische Schüler von tschechischen und deutschen Lehrern unterrichtet und legen am Schluss das tschechische und das deutsche Abitur ab. Eine Neuheit, die nach der Samtenen Revolution von 1989 zwischen den Regierungen vereinbart worden war. Ein Beitrag zur tschechisch-deutschen Versöhnung.

Die Schule befindet sich im Stadtteil Zizkov und liegt an der Konevova-Straße, benannt nach dem sowjetischen Marschall Marschall Konev, dessen Panzer 1945 Prag befreiten und 1961 den Bau der Berliner Mauer beaufsichtigten. An den Häuserfronten dieser Straße erinnern viele kleine Gedenktafeln an die gefallenen Tschechen des Prager Aufstands gegen die deutsche Besatzung im Mai 1945, der sich damals schnell zu einer Welle der Gewalt gegen die deutschsprachigen Prager auswuchs.

In der Schule wurde ich freundlich aufgenommen vom tschechischen Direktor und seiner perfekt Deutsch sprechenden Stellvertreterin, höflich und interessiert von den tschechischen Schülern. Erst zwei Jahre später hörte ich von einer Journalistin, die eine Sendung über dieses erste deutschsprachige Gymnasium in Prag machte, dass ich durch mein Auftreten und meine zu langen Haare für erhebliche Irritation bei tschechischen Lehrern, Schülern und Eltern gesorgt hätte. Es hat lange gedauert, bis ich bemerkt habe, wie seltsam anders Kommunikation in Tschechien abläuft.

Eine meiner vielen falschen Vorstellungen über Prag betraf meine Wohnsituation. Ich hatte die Idee, für einen Spottpreis eine riesige Altbauwohnung mitten in Prag am Altstädter Ring zu bekommen. Eine Idee die sich sehr bald als Quelle zahlreicher Frustrationen erweisen sollte.

Einen privaten Wohnungsmarkt gab es 1993 nur in Ansätzen, und auch heute ist er kaum entwickelt, das heißt, das Angebot ist nicht entwickelt, die Mieten sind es schon. Viele Häuslebauer der sozialistischen Ära bieten ihr Reihenhaus Leuten aus dem Westen an, um dann selber in den Panelak – die Plattenbauten am Rande Prags – zu ziehen. Die Aussicht auf 3.000 Mark im Monat für ein Reihenhaus ist verlockend. Dafür muss mancher ein Jahr lang arbeiten.

So suchte ich wochenlang, bis mich Roman ansprach, der, in Prag geboren und in Chicago aufgewachsen, jetzt ein bisschen Business in seiner Geburtsstadt machte. Da hatte ich binnen drei Tagen meine Traumwohnung auf einem Hügel oberhalb der Moldau mit Blick bis zum Altstädter Ring.

Bevor ich allerdings eine Wohnung mieten durfte, brauchte ich eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. Das schien mir zunächst widersinnig, denn meine Arbeit konnte nur von einem deutschen Lehrer gemacht werden, und ich wurde aus Deutschland bezahlt. Sollte auch ich mich demselben Verfahren unterwerfen, das für ukrainische Bauarbeiter und vietnamesische Markthändler galt? Ja gerade ich und meinesgleichen wurden offenbar mit einem gewissen Genuss durch die Mühlen der Ämter gedreht, Etliche Be-suche in Prager Amtsstuben lassen mich nun den „Prozess“ von Kafka als normalen tschechischen Behördenalltag verstehen, und Josef K. fühle ich mich seitdem sehr verwandt.

Die Arbeit an einer tschechischen Schule gleicht einer Zeitreise in die 50er Jahre der Bundesrepublik. Die Schülertische sind frontal auf den Lehrertisch hin ausgerichtet, der auf einem Podest steht. Die Schüler erheben sich, wenn der Lehrer die Klasse betritt. Genauer, wenn der Professor die Klasse betritt, die Schüler nennt man Studenten.

Der tschechische Professor doziert im Regelfall, Diskussionen und Meinungsbildung werden nicht erwartet. Schriftliche Arbeiten bestehen im Abfragen von Fakten. Klausuren wie an deutschen Gymnasien sind unbekannt. Dass über die Schule in Deutschland gerne etwas kopfschüttelnd gelächelt wird, weil die Schüler ja doch nur das Diskutieren lernten, bin ich gewohnt. Nach einigen Jahren Arbeit in einem Land, in dem die Technik der Diskussion weitgehend unbekannt ist, weiß ich jetzt zu schätzen, was es bedeutet, dass man in Deutschland seine Meinung zu sagen und anderen zuzuhören gewohnt ist, dass ein Problem ausdiskutiert wird und man sich danach trotzdem freundlich begegnen kann.

In Tschechien scheint es eher Tradition, dass man mit Beziehungen, Bekanntschaften oder einfach mit einem Geldschein seine Interessen realisiert. An die kleinen Korruptionen im Alltag, ohne die man gar nichts erreicht, muss der Fremdling sich erst gewöhnen, die Tschechen zucken nur noch mit den Schultern. Wer auf offene Diskussion drängt, riskiert, überhaupt nicht mehr über Entscheidungen informiert zu werden.

Auf der anderen Seite waren es meine Studenten, und eigentlich nur diese, die sofort verstanden, worum es im deutschen Bildungssystem geht. Sie wussten sehr schnell zu schätzen, dass wir nicht auf dem Nachbeten kanonisiertet Glaubenssätze bestanden, sondern dass wir das Verständnis und die Meinungen der jungen Leute ernst nahmen.

Auf dieser Vertrauensbasis hat es im Unterricht, vor allem im Geschichtsunterricht zur jüngeren Vergangenheit, viele offene, kritische und selbstkritische Gespräche gegeben. Immer wieder begegnete ich – vor allem bei den Älteren – tschechischen Minderwertigkeitskomplexen und Ängsten, immer wieder auch deutschen Missverständnisse, wobei eins aus dem anderen resultiert und sich verstärkt.

Als die tschechisch-deutsche Deklaration Ende 1996 endlich ausgehandelt war, reiste Außenminister Klaus Kinkel zur Paraphierung nach Prag. Er hatte die Idee, nach den Unterschriften mit seinem Amtskollegen Zieleniec, dem „Gymnasium Na Prazacce“ als erstem sichtbaren Zeichen tschechisch-deutscher Zusammenarbeit einen Besuch abzustatten. Der dauerte eine knappe Stunde und wurde vom üblichen Journalistentross begleitet. Die deutschen Fernsehstationen berichteten, die großen deutschen Tageszeitungen erwähnten ausführlich den Besuch. In der tschechischen Presse dagegen kein einziges Wort.

Für die deutschen Missverständnisse kann das folgende Ereignis stehen. Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, die sich mit viel Engagement für die deutsch-tschechische Versöhnung einsetzt, besuchte privat unsere Schule. In ihren abschließenden Worten würdigte sie nicht nur unser Schulprojekt, sondern wies auf die multikulturelle Tradition Prags hin, von der wir uns inspirieren lassen sollten. Ob sie die betretenen Mienen bei den tschechischen Lehrern gesehen hat? Nein, Prag ist nicht multikulturell und war es auch nie. Franz Kafka hat beredt davon Zeugnis abgelegt.

Daher reizte mich Kafka als Lektüre mit meinen tschechischen Schülern. Meine erste Überraschung waren die anfänglich starken Affekte gegen Kafka, der weltfremd, wenn nicht psychisch schwer krank und deshalb kein ernst-zunehmender Autor sei. Bei der Sekundärliteratur über Kafka kündigte ich die Beschäftigung mit dem verdienstvollen tschechischen Germanisten Eduard Goldstücker an. Vereinzeltes Gelächter ertönte aus der Klasse. Einer meiner Studenten erklärte mir, dass jemand, der Goldstücker heiße, kein Tscheche sein könne.

Als einer, der seit mehr als 20 Jahren in Hamburg lebt hatte ich wenig Erfahrung mit den politischen Forderungen der Sudetendeutschen. Wie viele hielt ich diese für einen historisch obsoleten Verein. Dennoch empfand ich Irritation, als ich in die ehemals deutschen Dörfer in Nordböhmen kam. Landwirtschaft gab es dort nicht mehr, vor den Häusern in deutschböhmischer Fachwerksarchitektur stehen heute die Wagen von BMW und Mercedes mit Prager Nummernschild.

Dies sind die Wochenendhäuser der privilegierten und zu Geld gekommenen Prager. Ist das Problem der tschechisch-deutschen Verständigung vielleicht nur ein Problem der „billig“ erworbenen Häuschen? Ist es weniger eine Frage der Auseinandersetzung mit der Geschichte von Faschismus und Okkupation? Offenbar halten die meisten Tschechen alle Deutschen für unermesslich reich. Dass die deutsche Regierung in ein Projekt wie das unsere so viel Geld für Lehrer und Unterrichtsmaterialien steckt, wird als Zeichen dafür gewertet, dass wir nicht wissen wohin mit unserem Geld. Dass es sich bei der Finanzierung solch eines bilingualen Gymnasiums für junge, begabte Tschechen um eine Investition handelt, die in der Zukunft politischen und ökonomischen Ertrag bringen soll, scheint kaum jemand verstanden zu haben.

Umgekehrt zeigt sich aber auch ein deutsches Missverständnis über die Perspektiven junger Tschechen. Wir deutschen Lehrer sind selbstverständlich davon ausgegangen, dass unsere Abiturienten auf ein Stipendium an einer deutschen Universität versessen seien. Wir hatten aber große Mühe, Interessenten für Stipendien zu finden.

Wenn ich erzähle, dass meine Frau und ich in vier Jahren in Prag vielleicht neun Tschechen annähernd gut kennengelernt haben – mit vieren von ihnen lebten wir im selben Haus – staunen in Deutschland die Leute: So wenige? Ausländer in Prag, denen wir das erzählen, staunen auch: So viele?

Ihre Verschlossenheit scheint mir typisch für die Menschen in Prag. Ich habe kaum nachbarschaftliche Kontakte der Menschen untereinander wahr-genommen. Selten einmal werden Einladungen in die Wohnungen ausgesprochen. Geburtstage und Jubiläen feiert man in der Kneipe. Wenn ich Tschechen darauf angesprochen habe, meinten sie, da Missgunst und Neid die Ursachen dafür seien, dass wenig Vertrauen gegenüber den Mitmenschen zu finden sei. Junge Prager kennen sich selten in der Innenstadt aus, sie finden ihre Treffpunkte in der Peripherie, in Kneipen und Musikklubs, in denen man dann auf eine authentische Prager Szene stößt. Dort erfährt man auch, dass viele Tschechen nicht zufrieden sind mit denselben Dingen, die Ausländern nicht gefallen.

Was hat die „Samtene Revolution„, die keiner mehr so nennt bewirkt? Es wird einem klar, dass eine große Unsicherheit vor allem unter jungen Leuten in der Frage besteht, was man noch machen kann, um die Verhältnisse zu ändern, und vor allem wie dies geschehen könnte. Die jungen Leute sind begierig, alles zu erfahren und im Schnellverfahren nachzuvollziehen, wovon sie in den letzten Jahrzehnten abgeschnitten waren: Jugendprotest, Rockmusik und Cannabis. Jack Kerouac wird übersetzt, Jim Morrison sowieso, Anarchismus ist sehr angesagt und Protest gegen Minderheitendiskriminierung. Zugleich aber sind Ratlosigkeit im Umgang mit Behördenwillkür und Machtmissbrauch zu bemerken, Resignation gegenüber Korruption und brutaler Bereicherung.

Alle diese Erfahrungen haben meine Auffassung von uns Deutschen ebenso wie meine naiven Vorstellungen vom Land der Tschechen verändert. Wenn ich heute Fernsehbilder aus Prag sehe, spüre ich, dass aus dem ehemals weißen Fleck auf meiner Landkarte schließlich doch ein Stück Zuhause geworden ist.


Hamburger Abendblatt vom 07.12.1998