Aug 032014
 

Von Hellmuth Karasek

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Der 1. August war in Mitteleuropa ein betörend schöner Hochsommertag. Erinnerte er deshalb umso nachdrücklicher an das Datum vor 100 Jahren, an dem der (später so genannte) Erste Weltkrieg ausbrach. Mit unvorstellbaren Opfern, Soldaten wie Zivilisten, mit der Zertrümmerung des alten Europa als Folge, mit dem zerstörerischen Aufbruch der Nationalitätenfrage und ihrer Völkermord-Folgen. Der Zerfall der Türkei und das Erwachen des serbischen Nationalismus hatten den Kriegsgrund geliefert. Die Folgen führten zum Zweiten Weltkrieg – mit neuen unvorstellbaren Höllenszenarien. Viele Historiker sprechen mit Recht von den beiden Weltkriegen als einem 30-jährigen Krieg. Und in der Tat wurden vom 1. August 1914 bis zum 8. Mai 1945 nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt Kriege geführt, die sich 1914 entzündet hatten. Diesmal ist das Erinnerungsinteresse immens groß. 

Zu Recht gab Jörn Leonhard seiner Geschichte des Ersten Weltkriegs den Titel „Die Büchse der Pandora“. Sie öffnet etwas, dessen schreckliche Ausmaße, Folgen und Wirkungen niemand kennt, ja nicht mal erahnen kann. Das Erinnern wird dadurch in der Gegenwart verschärft, dass ausgerechnet jetzt, zum ersten Mal seit 1945, eine der großen Kriegsmächte mit kriegerischen Mitteln, deren Fratze nur notdürftig mit einer Bürgerkriegsrnaske getarnt ist, nämlich Russland im Ukraine-Konflikt, den europäischen Frieden mit mörderischer Gewalt bricht. 

Die Büchse der Pandora – niemand weiß, was aus ihr Furchtbares quillt. Diesmal ist es der Abschuss einer malaysischen Zivilmaschine über dem ukrainischen Kampfgebiet. Er mag als grauenhaftes Versehen des schlecht getarnten Eroberungskrieges Russlands gegen die Ukraine erscheinen, ein Zufall, ein fataler Fehler. Aber die Folgen sind bestialisch. Bis jetzt verweigern die Kämpfenden den Toten die Aufklärung ihres Todes und schändeten sie barbarisch. Wir lernen: Krieg führt immer in die Barbarei, der Lack der Zivilisation erweist sich als dünner als erwartet. 

Wenn wir bisher ohne Panik auf dieses Menetekel blicken, hat das einen Grund, den Christopher Clark (mit den „Schlafwandlern“ einer der großen Historiker) als Erklärung für den langen europäischen Frieden angegeben hat: die Atombombe. Er nennt das Ausbleiben des großen Kriegsbrandes nach 1945 paradoxerweise „die Gnade der Atombombe“. Denn seit sie in unserem Bewusstsein existiert, nicht in Pandoras Büchse verborgen, wissen wir, was sie enthielte: das Ende der Menschheit.

Hamburger Abendblatt vom 02.08.2014
Karasek schreibt jeden Sonnabend im HA 


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