Aug 162014
 

Von Hans-Joachim Neubauer

Pfarrer versus Pfarrer: Klaus Galley und Siegfried Menthel kritisieren den Bundespräsidenten für seine Haltung zum Militär. Es geht um einen christlichen Weg zum Frieden. Und um das Erbe der DDR-Geschichte 

Klaus Galley hat eigentlich keine Zeit. Vorgestern kam er von einer Paddeltour zurück, morgen geht es nach Breslau. Kurzärmeliges Hemd, muskulöse Unterarme, er sieht aus wie Mitte, Ende 60. Fester Händedruck. Auch Siegfried Menthel sieht man sein Alter nicht an: wache Augen, lockere Haltung, die gespannte Ruhe eines Mannes, der es gewohnt ist, vor Publikum zu sprechen. Pfarrer sein hält jung: Galley ist 80, Menthel 70. Zehn Jahre trennen sie, eine Sache verbindet sie. „Das Gebot ,Du sollst nicht töten‘ ist mir als junger Mensch sehr tief in die Seele gefallen“, sagt Menthel.

Seit ein paar Wochen sind Galley und Menthel ein bisschen berühmt. „Bild“, „Spiegel“, „FAZ“, Deutschlandfunk, alle berichten: Zwei ehemalige Pfarrer aus Berlin schreiben einem ehemaligen Pfarrer aus Rostock einen Brief. Alle drei stammen sie aus der früheren DDR. Protestantisches Urgestein. Kaum jemand kennt Galley und Menthel, doch der dritte Mann ist allgegenwärtig: Joachim Gauck repräsentiert Deutschland, das ganze, vereinte Land, das es so erst seit 24 Jahren gibt. Und Gauck hat gesagt, dass sich dieses Deutschland einmischen soll, dass das Militär dazugehört zu diesem Land. „Ich weiß nicht“, sagt Galley und überlegt, „ich weiß einfach nicht, warum Gauck sich genötigt fühlt, darauf hinzuweisen, dass die Bundeswehr in die Mitte der Bevölkerung müsse, dass die Bevölkerung für die Einsätze mehr Verständnis haben müsste.“

Siegfried Menthel sagt: „Wehrdienst wäre für mich unmöglich gewesen.“ Er wäre auch ins Gefängnis gegangen für seine Haltung, sagt er. Als die DDR 1962 die Wehrpflicht einführt, arbeitet Menthel nach dem Abitur in der Industrie, nimmt ein Theologiestudium auf. Danach verweigert er den Dienst an der Waffe; dafür landen später viele hinter Gittern. „Ich hatte Glück“, sagt Menthel. Nicht einmal zu den Bausoldaten muss er. Glück hatte auch Galley. 1962 ist er zu alt für die NVA. Weißer Jahrgang, wie das damals heißt.

Warum schreiben zwei Ex-Pfarrer einem dritten? Im Frühjahr treffen sich die beiden auf einer Konferenz in Mainz wieder. Man kennt einander aus den Friedenstreffen der DDR. „Ein bisschen war das in Mainz eine Veranstaltung mit grauen Haaren“, erinnert sich Galley. „Es waren auch junge Leute da, im Ganzen eher Studenten und vor allem Rentner.“ Ein Veteranentreffen, 25 Jahre danach, wie so vieles in diesem Jahr der Rückblicke ein Vierteljahrhundert „danach“ stattfindet. In Mainz reden 400 Leute über den „konziliaren Prozess“, die drei Konferenzen christlich bewegter Friedensfreunde in der späten DDR.

„Wir haben nach der Wende hier eine Pfarrerinitiative gehabt“, erzählt Menthel, „die darauf abzielte, dass wir Ost-Pfarrer kein Westgehalt wollten, sondern dass mehr Stellen erhalten werden.“ Das sorgt für Unruhe in der EKD-?Synode; die Ost-Pfarrer setzen sich nicht durch. Aber bleiben rebellisch. Irgendwie muss doch der Geist der Siebziger und Achtziger weiterwirken. Zurück in Berlin, treffen sich die beiden bei Galley. Er schreibt eine erste Fassung des Briefes, Menthel die zweite. Später – Berlin ist groß – schicken sie die Versionen und Korrekturen per Mail hin und her, bis sie sich einig sind. Dann geht der Brief an Pfarrerinnen und Pfarrer ihrer Generation: Unterschriften sammeln. Ein unbekannter Kollege kann nicht stillhalten und inszeniert ein Pfarrer-Leak. „Bild“ macht mit der Geschichte auf, bevor der Brief bei Gauck ist. Peinlich.

Menthel ist heute noch sauer: „Wenn man sich für den Frieden engagiert, möchte man auch, dass man bei friedlichen Mitteln bleibt – und die elementaren Höflichkeitsformen wahrt.“ Nach dem „Bild“-Artikel schreibt er ans Bundespräsidialamt, will sich entschuldigen. Ein paar Stunden später wird daraus dann schon im Radio zitiert, erzählt Menthel. Wer den Frieden will, muss mit allem rechnen.

„Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck! Wir Unterzeichneten sind evangelische Pfarrer in Ihrem Alter. Wir haben wie Sie in der ehemaligen DDR gelebt und gearbeitet.“ So beginnt Galleys und Menthels Brief. Die beiden erinnern daran, dass der 1983 begonnene Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in einer Absage an den Einsatz militärischer Gewalt mündete. „Umkehr zum Frieden muss deshalb heute die Mitwirkung an der Überwindung der Institution des Krieges einschließen“, heißt es im Schlussdokument der Ökumenischen Versammlung von 1989: „Im Verzicht auf militärische Gewalt als Mittel der Politik sehen wir einen notwendigen Schritt zur Schaffung einer europäischen und weltweiten Friedensordnung.“

Gauck hat sich dafür ausgesprochen, Militäreinsätze zu ermöglichen, unter anderem in einer Ansprache auf der Münchner Sicherheitskonferenz. „Mit dieser Rede“, heißt es in dem Brief, „verabschieden Sie sich aus dem Konsens von 1989 und empfehlen der Bundesrepublik eine andere Politik als die damals von uns geforderte.“

Der „Konsens von 1989“ gründet in der „Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtigen“ mit dem Titel „Zum Friedensdienst der Kirche“. Darin schreiben die ostdeutschen evangelischen Bischöfe 1965, also vier Jahre vor der Spaltung der EKD, dass die Wehrdienstverweigerung ein „deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebots unseres Herrn“ sei als der Dienst an der Waffe. Das „deutlichere Zeugnis“ wird zur zentralen Botschaft der christlichen Friedensarbeit in der DDR.

Diesen Konsens habe Gauck verlassen, glauben die Briefschreiber. „Wäre jemand anders Bundespräsident, dann hätte der Brief noch ganz anders ausgesehen“, sagt Galley. 66 Unterschriften haben er und Menthel gesammelt, die meisten von Pfarrerinnen und Pfarrern, alle zwischen 70 und 80; bei jüngeren haben die beiden nicht angefragt. Es ist eine Sache für Leute ihres Alters. Die Generation Gauck ringt mit der Geschichte.

In der Szene der christlichen Friedensarbeit der DDR haben die beiden Briefschreiber einen guten Ruf. Bis heute. Menthel stammt aus Eichwalde, einem Berliner Vorort; 32 Jahre lang ist er Pfarrer im Berliner Südosten, betreut die Gemeinden in Schmöckwitz und Müggelheim. Auch Klaus Galley, der Mecklenburger, ist jahrzehntelang Pfarrer in Berlin, bevor er 1999 in Rente geht. Deutschlands politische Kämpfer sind ergraut.

Ist Gauck ein Verräter? „Verraten ist ein starkes Wort“, meint Menthel, „das würde ich nicht sagen.“ Lieber sagt er: „Ich wünschte mir, dass Gauck bekräftigt, was 1948 die erste Weltkirchenkonferenz formuliert hat: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Der Satz ist immer noch wahr.“ Man spricht von Dietrich Bonhoeffer und seiner Rede bei einer internationalen Studentenversammlung auf der dänischen Insel Fanø. Galley zitiert: Nur ein Konzil aller Kirchen könne mit solcher Autorität auftreten, „dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss und dass die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet.“ Das war 1934, in dem Jahr, als Galley zur Welt kommt. Jetzt redet Gauck über die Bundeswehr und die Verantwortung und das Bündnis.

„Ich finde es schade, dass er als früherer Kollege so spricht“, sagt Menthel. Aber den Glauben will er Gauck doch nicht absprechen. „Es geht uns nicht um Kritik um der Kritik willen, sondern darum, an Traditionen anzuknüpfen, die in eine andere Richtung weisen. Unser Gedanke ist eigentlich ein positiver: dass die hoffnungsvolle Pflanze des zivilen Friedensdienstes eifrig begossen wird, damit sie größer werden kann.“ Irgendwo hat er gelesen, dass für den zivilen Friedensdienst ein dreiviertel Prozent des Geldes ausgegeben wird, das für Auslandseinsätze der Bundeswehr gebraucht wird. Da müsse man einen Fokus setzen, sagt er.

Die Zahl steht im Raum: 0,75 Prozent. Der zivile Friedensdienst brauche einfach mehr Geld. Bei uns werden Menschen zu Friedensfachkräften ausgebildet, Menschen, sagt Galley, „die helfen, Konflikte zu entschärfen, die mithelfen, dass Menschen nach gewaltsamen Konflikten wieder zueinanderfinden“. Mediatoren. Friedensbausoldaten quasi, aber zivil. „Wir sind keine Fantasten, die sich einbilden, Gauck oder wir oder Deutschland könnten das Militär abschaffen oder die Kriege.“ Aber Gauck solle seinen Einfluss in die andere Richtung geltend machen.

Wie man das damals eben auch macht, in den Siebzigern und frühen Achtzigern. Man ist nicht einseitig gegen die DDR, wirbt für einen umfassenden, internationalen Pazifismus. Pflugscharen überall! Mit dem Staat arrangiert man sich noch, aber nicht mit der militaristischen Schulerziehung, man engagiert sich für einen zivilen Ersatzdienst, gegen die Aufrüstung einer ganzen Gesellschaft. „Schwerter zu Pflugscharen hatte eine weitere Perspektive“, betont Menthel. „Wir hätten, wenn wir damals in der Bundesrepublik gelebt hätten, genauso geredet.“

Genau darum geht es, wenn man einen Brief an den obersten Deutschen schreibt: Aufstehen, sagen, was das Gewissen vorgibt. Und dann lobt der Protestant Menthel den obersten Katholiken: „Wenn ich sehe, was für ein Feedback der Papst bekommt, merke ich: Die Leute warten darauf, dass Christen sich zu den christlichen Werten öffentlich und deutlich äußern. Das wünschen wir uns auch. Und das war der Ausgangspunkt des konziliaren Prozesses und der ökumenischen Versammlung.“

Die Vorhut des christlichen Pazifismus hat weißes Haar. Ist das die Avantgarde? „Ich finde das nicht avantgardistisch“, sagt Menthel. „Ich vertrete, was ich mein Leben lang vertreten habe.“ Vielleicht war das früher leichter. „Wir haben die in Westberlin beneidet, was die alles durften, was die alles konnten“, erinnert sich Galley: „Und die sagten uns: Wir beneiden euch! Wenn einer von euch hustet, hören alle zu.“

Galley und Menthel haben gehustet. Und alle hören zu. Die alten Pfarrer erzählen von früher. Galleys Gemeinde hatte Kontakt zu Niederländern; man debattierte mit dem Rat des Stadtbezirks über Kriegsspielzeug, ein dezenter Friedenskreis tagte „auf kleiner Flamme“, im Gemeindehaus traf sich eine Gruppe von Frauen. Menthel erinnert sich an Aktionen in der Kreissynode, man schrieb Texte, hektografierte, verteilte, das ging weg wie warme Schrippen. „Dass die ganze Wende friedlich verlief, hat mit diesen Dokumenten ursächlich zu tun.“

Und heute? Es sei nicht alles schlecht, sagen die beiden. „Ich erlebe es als Entspannung, dass ich in die Schule kommen kann, ohne als Feind wahrgenommen zu werden“, sagt Menthel. „Ich erlebe es als Entspannung, dass kommunale und kirchliche Behörden zwanglos zusammenarbeiten, ohne die zwanghafte Distanz von früher. Ich erlebe es als entlastend, wenn ich als Pfarrer ins Krankenhaus gehen kann und als Pfarrer ohne Weiteres einen Besuch machen kann, auch im Gefängnis.“ Es war eben nicht alles besser früher. Zwanglos sich um die Menschen kümmern zu dürfen, das ist viel. Aber nicht alles. Es muss doch noch anderes geben als Auslandseinsätze und Drohnen, anderes als das Alternativlose.

„Meine Zeit geht zu Ende“, sagt Galley und lacht, „meine Zeit bei Ihnen. Sonst vielleicht noch nicht.“ Er steht auf, eine gute Stunde haben sie dagesessen, Klaus Galley und Siegfried Menthel. Man hat sich erinnert und erzählt, und jetzt geht Galley los, hinein in die Stadt, hinaus an den Stadtrand und weiter; morgen geht es nach Breslau. Da wird er sich mit Christen aus den Ländern Mittel- und Osteuropas treffen, aus den Ländern, die einst hinter dem Eisernen Vorhang lagen. Er wird das Land vertreten, das nun da ist, wo früher einmal der Sozialismus real war. „Die ehemalige DDR“, sagt er, „ist auch dabei.“ 

Christ und Welt, Ausgabe 32/2014


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