Sep 202014
 

Über das intellektuelle Erschlaffen im Internet-Zeitalter

Von Manfred Spitzer

Im Februar dieses Jahres wurde in den USA eine Studie an insgesamt 1021 Internet- und Computer-Experten durchgeführt, die gefragt wurden, wie sich digitale Informationstechnik (IT) insgesamt auswirken dürfte. „Im Jahr 2020 werden die Gehirne von Multitasking betreibenden Teenagern und jungen Erwachsenen anders ›verdrahtet‹ sein als die Gehirne der Menschen über 35 Jahre“ wurde zunächst festgestellt. Dann sollten sich die Experten zwischen einer positiven und einer negativen Sicht entscheiden, die wie folgt formuliert waren:

Entweder: „Dies wird insgesamt positive Auswirkungen haben. Sie leiden nicht unter kognitiven Einbußen, während sie rasch mehrere persönliche und berufliche Aufgaben zugleich erledigen. Im Gegenteil, sie lernen mehr und sind eher dazu in der Lage, Antworten auf tiefgreifende Fragen zu finden, zum Teil deswegen, weil sie effektiver suchen und die kollektiv im Internet vorhandenen Informationen besser anzapfen können. In der Summe führen die Veränderungen des Lernverhaltens und Denkens bei den jungen Leuten ganz allgemein zu positiven Auswirkungen.“

Oder: „Dies wird insgesamt böse und traurige Auswirkungen haben. Sie können sich nichts merken, verbringen die meiste Energie damit, kurze soziale Nachrichten auszutauschen, mit Unterhaltung und mit Ablenkung von einer wirklich tiefen Beschäftigung mit Menschen und Erkenntnissen. Die Fähigkeit zum grundlegenden Nachdenken haben sie nicht, die zur wirklichen Gemeinschaft von Angesicht zu Angesicht auch nicht. Sie hängen vielmehr in einer sehr ungesunden Weise vom Internet und mobilen Endgeräten ab, um überhaupt zu funktionieren. In der Summe führen die Veränderungen des Verhaltens und Denkens bei den jungen Leuten ganz allgemein zu negativen Auswirkungen.“

Das Ergebnis war etwa eine 50:50-Verteilung zwischen Optimisten und Pessimisten. Wenn ich also vor den Risiken und Nebenwirkungen des Gebrauchs digitaler IT warne, bin ich nicht allein, sondern befinde mich in bester Gesellschaft.

Der Grundgedanke ist einfach: Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab – so wie Rolltreppen, Fahrstühle und Autos uns körperliche Arbeit abnehmen. Die Folgen mangelnder körperlicher Tätigkeit für Muskeln, Herz und Kreislauf sind bekannt, und wir tun viel, um uns körperlich fit zu halten. Mit unserem Geist verhält es sich ähnlich, nur haben wir das noch nicht begriffen.Was wir früher einfach mit dem Kopf gemacht haben, wird heute von Computern, Smartphones, Organizern und Navis erledigt, was insbesondere für die noch in Entwicklung befindlichen Gehirne von Kindern und Jugendlichen erhebliche Gefahren birgt.

Die hierzu vorliegenden Forschungsergebnisse sind alarmierend: Wer schon als Kleinkind viel Zeit vor Bildschirmmedien verbringt, zeigt in der Grundschule vermehrt Störungen der Sprachentwicklung und Aufmerksamkeitsstörungen. Eine Playstation im Grundschulalter verursacht nachweislich schlechte Noten im Lesen und Schreiben sowie Verhaltensprobleme in der Schule. Ein Computer im Jugendzimmer wirkt sich negativ auf die Schulleistungen aus und kann zur Sucht führen, wie die 500.000 Internet- und Computersüchtigen in Deutschland (Zahlen der Regierung; hinzukommen noch zwei Millionen Risikofälle) zeigen.

Weitere Folgen digitaler Medien sind Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht und Gewaltbereitschaft. Die Entwicklung ist besorgniserregend und erfordert vor allem bei Kindern eine Konsumbeschränkung, um die Gehirnbildung nicht zu beeinträchtigen. Wer 35 Wochenstunden Schule hat, verbringt täglich 3,75 Stunden mit dem Schulstoff. Der durchschnittliche Konsum digitaler Medien liegt dagegen bei 7,5 Stunden täglich. Junge Menschen verbringen also doppelt soviel Zeit mit digitalen Medien wie mit dem gesamten Schulstoff zusammengenommen.

Das menschliche Gehirn besteht aus etwa hundert Milliarden Nervenzellen, die dadurch lernen, dass sich die Verknüpfungen zwischen ihnen gebrauchsabhängig verändern. Dabei wird Gehirngewebe zuweilen wie ein Muskel messbar größer oder dichter. Etwa eine Million Milliarden solcher Verknüpfungen (Synapsen genannt) unterliegen in der permanenten Großbaustelle Gehirn einem beständigen Abbau, Neubau und Umbau: Was nicht gebraucht wird, wird weggeräumt, wenn Neues gelernt wird, entstehen neue Verbindungen. Daraus folgt eines ganz automatisch: Täglich 7,5 Stunden Mediennutzung durch Kinder und Jugendliche kann eines nicht haben: keine Auswirkungen!

Tatsächlich verzeichneten schon vor fünf Jahren Ärzte im hochmodernen Industriestaat Südkorea bei jungen Erwachsenen immer häufiger Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung als Folge von intensiver Nutzung moderner Informationstechnik. Sie nannten das Krankheitsbild digitale Demenz. In der Medizin werden mit Demenz (lat: de – herab; mens –der Geist) ganz allgemein Krankheitsbilder bezeichnet, die mit der Abnahme höherer geistiger Leistungen verbunden sind. Demenz meint also geistigen Abstieg, und wie bei jedem Abstieg dauert dieser umso länger, je höher man damit beginnt: Von einer Stranddüne steigt man sehr rasch bis auf Meereshöhe hinab, vom Mount Everest kann man sehr lange absteigen und sich zugleich auf großer Höhe befinden.

Wie wichtig die Ausgangslage der Gehirnbildung für den Verlauf des geistigen Abstiegs im Alter ist, zeigte eine der bedeutendsten Studien zum Altern, die jemals durchgeführt wurden. Der Arzt und Wissenschaftler David Snowdon von der Kentucky University konnte 678 Nonnen des Ordens der Armen Schulschwestern von Unserer Lieben Frau (School Sisters of Notre Dame) im Alter von 76 bis 107 Jahren davon überzeugen, an einer Längsschnittstudie teilzunehmen, sich jedes Jahr untersuchen und testen zu lassen und nach dem Tod das Gehirn zur wissenschaftlichen Untersuchung zu spenden. Eine der Besonderheiten dieser Studie bestand darin, dass die Teilnehmerinnen alle in jungen Jahren dem Orden beigetreten waren und eine sehr einfache und vor allem sehr ähnliche Lebensweise aufwiesen. Die Archive der Klöster boten Einblicke in den Lebenslauf der Teilnehmerinnen und deren geistige Aktivitäten vor Jahrzehnten. So konnte man zeigen, dass diejenigen Schwestern, die in ihrer im Alter von 22 Jahren geschriebenen Autobiografie mehr positive emotionale Inhalte beschrieben hatten, ein um den Faktor 2,5 verringertes Sterblichkeitsrisiko im Alter aufwiesen.

Schwester Maria beispielsweise, eine Teilnehmerin an der Studie, war bis ins Alter von 84 Jahren als Lehrerin tätig und verstarb mit 101 Jahren an einem Tumorleiden, geistig noch immer sehr rege. Auch die im letzten Jahr vor ihrem Tode gemachten Tests zur Ermittlung der intellektuellen Leistungsfähigkeit zeigten keinerlei krankhaften Auffälligkeiten. In krassem Gegensatz dazu war jedoch ihr Gehirn voller krankhafter Veränderungen, wie sie für Alzheimer-Demenz typisch sind (multiple Alzheimer-Plaques). Dies war kein Einzelfall, vielmehr fand man eine ganze Reihe von Personen, die bis unmittelbar vor ihrem Tod geistig anspruchsvolle Aufgaben lösen konnten, bei der Gehirnsektion aber Zeichen einer bereits vorhandenen Demenzkrankheit (Alzheimer) aufwiesen.

Krankhafte Veränderungen bei Alzheimer-Demenz werden durch geistige Tätigkeit also nicht verhindert. Aber ein gut gebildetes Gehirn kann deutlich kränker sein als ein schwacher Geist, ohne dass man das merkt. Man kann sich die Zusammenhänge genauso vorstellen wie im körperlichen Bereich auch: Ein Gewichtheber, der an Muskelschwund erkrankt, wird über längere Zeit noch kräftiger sein als die meisten anderen Menschen, die nicht an einer Muskelkrankheit leiden. Bei der geistigen Leistungsfähigkeit verhält es sich im Prinzip genauso, nur ist hier der Effekt deutlich größer, denn das Gehirn ist flexibler als jedes andere Organ in unserem Körper. Aufgrund vorhandener Daten lassen sich die langfristigen ökonomischen Kosten von „digitaler Gehirnunbildung“ zumindest in ihrer Größenordnung abschätzen und liegen allein für Deutschland jährlich im zweistelligen Milliardenbereich.

Noch ein Tipp für Weihnachten: Bleiben Sie standhaft, wenn Ihr die Grundschule besuchender Sohn, Enkel oder Neffe ein iPhone, eine Playstation oder gar einen PC zu Weihnachten haben möchte. „Ich bringe es nicht über mich, dir zu schaden“, sollte Ihre Antwort lauten.

Der Autor ist Professor für Psychiatrie, leitet die psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und ist Verfasser des Bestsellers: „Digitale Demenz“.
Handelsblatt vom 14.12.2012 


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