Sep 302014
 
Vor dem Gewitter: In “Der Nachsommer” entwirft
Adalbert Stifter das Bild eines vollkommenen Lebens

Von Andreas Bernhard

Bald wird ein Sturm kommen:
Im „Nachsommer“ scheint das Versprechen der vormodernen Welt noch einmal auf. 

Im schönsten Roman deutscher Sprache passiert so gut wie nichts. Was man „Handlung“ nennt, ließe sich in Adalbert Stifters „Der Nachsommer“, 1857 erschienen, ohne weiteres mit einem einzigen Satz zusammenfassen: Der Ich-Erzähler, ein junger Naturforscher, kommt aus Furcht vor einem Gewitter in einem Landhaus unter, freundet sich bei weiteren Aufenthalten mit dem älteren Besitzer an und heiratet schließlich dessen Ziehtochter. Bis auf wenige Passagen spielt der über siebenhundert Seiten lange Roman an nur drei Schauplätzen: dem Elternhaus des Erzählers in der Stadt, dem Anwesen des Gastgebers und dem nahegelegenen Hof, in dem seine spätere Braut wohnt. Diese Orte jedoch werden von Stifter mit größter Sorgfalt beschrieben: Allein der erste Spaziergang durch das ländliche Anwesen, auf dem der Hausbesitzer, ein ehemaliger Staatsmann, den Besucher in seine vielfältigen Tätigkeiten einweiht, die Rosenzucht, die Restaurierung alter Möbel, die Sammlung von Kunstgegenständen, nimmt achtzig Seiten des Romans ein, und der wichtigste Impuls der Geschichte ist in diesen Anfangskapiteln die Frage, ob in der Umgebung nun ein Gewitter ausbreche oder nicht. 

Gerade die Handlungsarmut und Versenkung im Einzelnen hat dem „Nachsommer“ von Anfang an höhnische Ablehnung eingebracht. Friedrich Hebbels Rezension, sein Verdikt „ein Inventar ist ebenso interessant“ ist berühmt. Später kamen Leser wie Arno Schmidt oder Georg Lukäcs zu einem ähnlich schroffen Urteil, und der Plot-Versessenheit heutiger Literaturkritik, die Romane gerne auf Inhaltsangaben reduziert, muss dieses Buch vollends verdächtig sein. Und doch löst Stifters „Nachsommer“ das Versprechen der Literatur, in eine andere Welt einzutauchen, stärker ein als vielleicht jedes andere Buch. Das Besänftigende der Sprache, die Geschlossenheit des erzählten Kosmos hat viele Leser in einer Weise ergriffen, die es nicht hinnehmen wollte, dass das Dargestellte nur in der literarischen Fiktion existiere. 

Regelmäßig hat es daher Versuche gegeben, die Welt des Romans in die Realität zu überführen: „Nachsommer“-Leser – zuletzt Arnold Stadler in seinem Stifter-Buch – berichten von ihren Erkundungen in jener Region Oberösterreichs, in der die Geschichte (die keine authentischen Ortsbezeichnungen enthält) spielen könnte, um doch noch ein reales Vorbild des Landhauses zu entdecken. Man weiß sogar von mehreren Architekten, die das zweistöckige Gebäude mit seinen Gärten nach den Angaben des Buches nachbauen wollten.

„Der Nachsommer“ ist ein utopischer Roman mit den Mitteln des literarischen Realismus. In Gestalt des alten Freiherrn von Risach und seines Zöglings beschreibt Stifter ein vollkommenes, erfülltes Leben: unabhängig dank großer Erbschaften, voller Kontemplation und Sorge ums Gemeinwohl, gewidmet der Kunst und der Wissenschaft. An der Schwelle zur partikularisierten Moderne (der Roman spielt um 1830) errichtet der „Nachsommer“ noch einmal die Imagination einer selbstbestimmten, für den Einzelnen vollkommen überschaubaren Existenz. „Keine Dampfbahnen und keine Fabriken“ würden in dem Roman vorkommen, schrieb Stifter an seinen Verleger. Das Berufsziel des Ich-Erzählers lautet „Beschreiber der Dinge“ (auch wenn: das Überkommene dieser auktorialen Sehnsucht angedeutet wird, als Risach über seine vorzeitige Niederlegung der Regierungsämter spricht, in denen er den „Zusammenhang mit dem großen Ganzen“ nicht mehr gespürt habe). 

Das Glück im „Nachsommer“ steht, wie früh bemerkt wurde, in auffälligem Kontrast zu Stifters eigenem Leben. Arnold Stadler hat das Buch deshalb eine „erträumte Autobiographie“ genannt: Der Dichter – ohne Vater seit dem 13. Lebensjahr, hochverschuldet, maßlos in seinen Ess- und Trinkgewohnheiten – phantasiert eine Welt, in der alles auf väterlicher Autorität, ökonomischer Sicherheit und einer strengen Domestizierung der Leidenschaften beruht. Die Mahlzeiten im „Nachsommer“ sind „einfach“, die Tagesabläufe und Reihenfolgen der Lektüren festgesetzt, jedes Zimmer im Haus hat seine feste Bestimmung, „alles war an seinem Ort“, wie es refrainartig heißt. Doch auch im Roman selbst gibt es Anzeichen für die Brüchigkeit des Glücks, feine Risse, die mit jeder Lektüre sichtbarer werden. (Kein Inventar, das unter seiner akkuraten Oberfläche je so gezittert hätte.) Die Ordnungssehnsucht in Risachs Haus droht immer wieder zur Erstarrung zu führen. Nicht nur Rosen, Bäume, Münzen oder Kunstwerke sind Gegenstände der Systematisierung, sondern auch Menschen, deren Beziehungen wie botanische Versuche verfolgt werden. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn Risach dem Ich-Erzähler kurz vor der Hochzeit offenbart, dass er in ihm schon bei den ersten Begegnungen den zukünftigen Gatten seiner Ziehtochter Natalie gesehen habe: „Wir kannten das Keimen der gegenseitigen Neigung. Wir warteten auf die Entwicklung.“ Zudem wird im Verlauf des Romans offenbar, dass Risachs vollendeter Lebensentwurf letztendlich auf Schmerz, Entsagung und Scheitern errichtet ist. Von seiner Jugendliebe, der Mutter Natalies, wurde er getrennt, beide gingen später Ehen aus Vernunft ein, und ihre jetzige Verbindung und Erziehungsgemeinschaft ist nur ein verspätetes, bezwungenes Abbild der früheren Leidenschaft, ein „Nachsommer ohne vorvergangenen Sommer“. Das junge Paar soll das Schicksal des alten wiedergutmachen.

Ich habe den „Nachsommer“ zum ersten Mal in den Monaten zwischen Abitur und Studium gelesen. Wenn das Höchste, wozu Literatur imstande ist, darin besteht, den Blick ihrer Leser auf die Welt zu verändern, dann hat das dieser Roman wie kein zweiter getan. Mein Sinn für Landschaften beschränkte sich bis dahin auf die Frage, ob eine Wiese eben genug sei zum Fußballspielen, ob zwei Baume so zueinander stehen, dass sie ein Tor bilden konnten. Doch der „Nachsommer“ und seine Naturbeschreibungen weckten ein anderes Interesse. Mit dem Buch in der Tasche fuhr ich zu den Endhaltestellen der S-Bahn, las auf Parkbänken oder in den Biergärten der Landgasthöfe und versuchte auf Waldspaziergängen das Wissen des Romans anzuwenden. Kurze Zeit überlegte ich in diesem Sommer sogar, nicht wie beschlossen Literatur zu studieren, sondern Meteorologie oder Geologie; ich wollte wie Risach und sein junger Freund die Zeichen der Wolken und Gesteine entziffern lernen. Von den entsprechenden Fakultäten ließ ich mir ein paar Broschüren zuschicken, doch schon beim ersten Durchblättern der Papiere wurde das Missverständnis erkennbar. Es war die Sprache Stifters, die ruhige, tröstliche Erzählung des Romans, die mich begeisterte. Ich schrieb mich im Herbst für das Fach Germanistik ein, und im ersten Proseminar stritt ich mich mit dem Dozenten, der Adalbert Stifter für einen manierierten Biedermeier-Dichter hielt.  

F.A.Z. vom 30.08.2014


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