Sep 032014
 
Vor 20 Jahren: Sturm auf die Stasi-Zentrale in Berlin.

Von Dieter Mechtel

Pfarrer Ulrich Schröter führte Opfer und Täter zusammen.

Wer ihn anruft, wird von ihm aufmunternd hören: »Hier ist Schröter« Das heißt so viel wie: Ich bin da, ich stehe zur Verfügung, was immer Sie auf dem Herzen haben. »Hier ist Schröter« – das ist nicht nur ein Satz, das ist Lebensphilosophie.

Geboren im Juni 1939 in Berlin in einer Pfarrerfamilie hat  noch Erinnerungen an den Krieg; das Kind sah den Feuerschein am Horizont – von der Schlacht bei Halbe. Der Jugendliche folgt seinem Vater, studiert in Naumburg, Berlin und Heidelberg Theologie und entwickelt ein besonderes Interesse für alte Sprachen, vor allem Hebräisch und Aramäisch, die Sprache Jesu. Einen solchen wissbegierigen und leidenschaftlichen Studenten wie den jungen Ulrich Schröter lassen Lehrer nicht ziehen; sie überreden ihn, in Naumburg zu bleiben, wo er von 1964 bis 1983 zunächst als Assistent und später Dozent für das Alte Testament und Hebräisch tätig ist. Hier lehren auch Wolfgang Ullmann Kirchengeschichte und Richard Schröder Philosophie. Beide gehören 1989/90 zu den führenden Köpfen der Wende.

Wider den Schlaf der Vernunft

1983 nimmt Schröter das Angebot an, für die Ausbildung des theologischen Nachwuchses im Konsistorium der evangelischen Kirche Berlin und Brandenburg verantwortlich zu zeichnen; in der gleichen Funktion hatte bis zu seinem Ruhestand Anfang der 70er Jahre sein Vater gewirkt. Im Konsistorium überrascht Ulrich Schröter eines Tages seinen damaligen Vorgesetzten Manfred Stolpe mit dem Antrag, die Zulu-Sprache erlernen zu dürfen. Stolpe genehmigt dies. Gelegentlich sorgt Oberkonsistorialrat Schröter für Verwunderung mit den von ihm vorgetragenen Ideen – aber nicht, weil er sie etwa in Zulu formuliert.

Familie Schröter wohnt neben der Erlöserkirche in Berlin-Rummelsburg. Sie war zu Endzeiten der von der SED regierten DDR Schauplatz historischer, vom MfS beargwöhnter und aufmerksam beobachteter Aktivitäten. Hier finden vielbesuchte Blues-Messen statt, tagt die Friedenswerkstatt und wird über den Zustand der Demokratie in der DDR, über Wehrdienst und Umweltpolitik diskutiert und hier werden freie Wahlen gefordert. Hier findet am 28. Oktober 1989 die von prominenten DDR-Künstlern initiierte Veranstaltung »Wider den Schlaf der Vernunft« statt. Christa Wolf, Jochen Kowalski, Christoph Hein, Jürgen Rennert, Stephan Heym, Daniela Dann und viele andere sind dabei. Und als es der »Initiative für Frieden und Menschenrechte« nicht mehr möglich ist, ihre Gespräche mit Vertretern der Kirche im Konsistorium in der Grünstraße zu führen, bietet Schröter seine Privatwohnung an.

Bischof Gottfried Forck ernennt ihn im Januar 1990 zum Beauftragten und Koordinator seiner Kirche zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit. Der Oberkonsistorialrat nimmt an den Gesprächen am Zentralen Runden Tisch teil. Im Mai des Jahres beruft ihn Innenminister Peter-Michael Diestel in die Regierungskommission zur Auflösung der Staatssicherheit, der u. a. die Schriftsteller Stefan Heym und Walter Janka angehören.

Schröter ist entschlossen, seinen Anteil als Christ an der Aufarbeitung der Vergangenheit zu leisten. Er ist der Überzeugung, dass sich keiner aus seiner Geschichte stehlen kann. Er plädiert für die Veröffentlichung von MfS-Dokumenten, damit Strukturen und Methoden der Staatssicherheit deutlich werden. Die Geschichte des MfS soll seiner Ansicht nach von Historikern, Bürgerrechtlern und ehemaligen Mitarbeitern des MfS gemeinsam aufgearbeitet werden. Und er schlägt vor, dass Opfer und Täter sich an einen Tisch setzen und miteinander sprechen. Sein Wunsch: dass die einen nicht in Gerechtigkeitspose verfallen, ohne Hass und Rachegefühle den anderen begegnen, die wiederum sich von alten Feindbildern verabschieden, ehrlich und offen sein sollten. Versöhnung ist sein Ziel. Im November 1990 initiiert er den Diskussionskreises »Zwie-Gespräch«; im Folgejahr erscheint das erste Heft der gleichnamigen Zeitschrift und ein Buch mit dem Titel »Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-lmperiums«, dessen Mitautor er ist.

Überzeugung, nicht nur Tünche

Seine Autorität sorgt dafür, dass alle, Opfer wie Täter, seine Einladung annehmen. Der Diskussionskreis besteht genau neun Jahre; die letzte Zusammenkunft findet am 6. Dezember 1999 statt. Von vielen Teilnehmern wird das Ende bedauert. Schröters Angebot zur Lebenshilfe schätzte man. Bücher und Artikel können den Dialog nicht ersetzen. Im Gespräch kann man nachfragen, erklären, Motive begreifen, die Seele erkunden, Irrtümer korrigieren. Die Körpersprache und der Klang der Stimme lassen auf die innere Verfasstheit des Gegenübers schließen. Das Gespräch enthüllt Betroffenheit, Reue oder Scham, ebenso wie Trotz, Sturheit, Arroganz, Rechthaberei. Schröter, groß und hager – die Brille verleiht ihm eine Strenge, die nicht in ihm ist – ist als Moderator anerkannt. Er gelingt ihm, die Situation zu entschärfen, wenn sich Streit entzündet. Was nicht selten passiert. Er baut Brücken für einstige und bleibende politische Gegner. »Es ist eine Grunderfahrung, dass Emotionen nicht schaden, sondern sogar gesprächsfördernd sind.« Er vertraut seinen Diskutanten, kann sich in sie hineinversetzen und wird von ihnen überrascht. Es imponiert ihm, wenn der ehemalige MfS-Oberst Kurt Zeiseweiss seine Tätigkeit nicht leugnet, sie mit antifaschistischen, sozialistischen Idealen begründet, zu denen er sich nach wie vor bekenne. »Dessen Überzeugung ist echt, sie ist nicht nur Tünche«, pflegt Schröter bei solchen Gelegenheiten zu sagen. Wolfgang Hartmann, ehemals Mitarbeiter der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS und Gründungsmitglied des Insiderkomitees zur Aufarbeitung der MfS-Geschichte, war von Anfang bis Ende der »Zwie-Gespräche« dabei. Der im vergangenen Jahr verstorbene Geheimdienstler bekundete: »Natürlich gab es, wie wohl unvermeidbar, bei Themen, Teilnehmern und Interessen auch ein Auf und Ab des Niveaus. Reiz und Gewinn bestehen darin, dass im Ganzen in unserem sehr heterogen zusammengesetzten Kreis der gelegentliche >Schlagabtausch< durch Neugier auf den Anderen, durch Argumente und fortwährende Nachdenklichkeit dominiert wird. Vorurteile werden erkennbar und korrigierenden Argumenten ausgesetzt. Wir lernen. Mir bleibt unvergessen, was Frau Pfarrerin Misselwitz an einem unserer Abende so ausdrückte: Die MfS-Leute hätten hier für sie ein Gesicht erhalten und das sei doch einiges anders als vermutet. So gesehen, liegt ein Wert unseres Gesprächskreises darin, dass wir gegenseitig besser erkennbar werden.«

Die Naturwissenschaftlerin Dr. Inge Werner resümierte: »Durch persönliche Erlebnisse in der DDR war ich jahrelang von Ängsten vor dem MfS geplagt, das für mich eine gesichtslose Bedrohung darstellte. Im Laufe der Jahre brachten die persönlichen Begegnungen mit den ehemaligen Gehilfen des MfS das Kennenlernen und zum Teil auch Respektieren sehr unterschiedlicher Biografien, aus denen sich die jeweiligen Handlungsweisen ergaben. Die Menschen hinter dem >Schild und Schwert der SED< bekamen für mich Gesichter.«

Der Psychologe Hans-Eberhard Zahn, 1958/59 im Haftarbeitslager des MfS in Brandenburg interniert und bekennender »Verächter der DDR«, bedauerte ebenfalls das Ende der »Zwie-Gespräche«, die ihm »ein produktives Unbehagen« bescherten, »das mit tiefgründigem Lernprozess einherging, denn ich bin hier auf Menschen gestoßen, die nicht so ganz dem viele Jahre gepflegten stereotypen Bild des bösen, machtbesessenen Kommunisten entsprechen«.

Die Fehlbarkeit des Menschen

Es wäre naiv anzunehmen, dass Pfarrer Schröter mit dieser, wie er sagt, privaten Initiative überall auf Zustimmung gestoßen wäre, auch nicht bei allen kirchlichen Brüdern und Schwestern. Aber der Christ ließ sich von niemandem beirren, hielt am Dialoggedanken fest: »Erstens, mit der Fehlbarkeit des Menschen ist zu rechnen. Und zweitens, Vergebung ermöglicht einen Neuanfang. Deshalb darf ich auf den anderen zugehen. Er verdient nicht den Fußtritt. Er verdient meine Zuwendung, denn wir wissen immer noch zu wenig voneinander. Ich weiß, der Mensch ist fehlbar, und ich bin es selbst auch. Aber was mich manchmal stört, ist, dass diejenigen, die öffentlich urteilen, dies oftmals im Ton der Selbstgerechtigkeit tun und über jeden Zweifel erhaben scheinen. Der andere ist ein ganz Schlimmer und der, der urteilt, wusste und weiß alles. Das erscheint unbarmherzig und passt überhaupt nicht mit unserer Auffassung von der Möglichkeit der Vergebung und Versöhnung zusammen. Der Gedanke der Bergpredigt muss politikfähig sein und bleiben.«

Neues Deutschland vom 16.01.2010


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