Okt 152014
 

Früher hat SPD-Chef Sigmar Gabriel die Sparpolitik kritisiert. Jetzt argumentiert er selbst neoliberal.

Von Stephan Hebel 

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Befänden wir uns im September 2013 und nicht im Oktober 2014, dann hätte Sigmar Gabriel am Dienstag etwa Folgendes gesagt: „Die Politik der konservativen deutschen Bundesregierung hat alle Länder Europas zeitgleich in eine reine Kürzungs- und Austeritätspolitik ohne jeden Wachstumsimpuls gezwungen. In der Folge bricht das Wirtschaftswachstum Europas ein. Statt sinkender Schulden explodieren die Staatsschulden Europas ebenso wie die Arbeitslosigkeit in fast allen Ländern Europas.“

Wäre Gabriel nicht Wirtschaftsminister, sondern nur SPD-Vorsitzender, dann hätte er noch hinzugefügt: „Vor allem die Bekämpfung der dramatisch gestiegenen Jugendarbeitslosigkeit muss dabei im Mittelpunkt europäischer Politik stehen. Deshalb unterstützen wir das europäische Projekt der Jugendgarantie. Die finanziellen Mittel für die Rückkehr zu einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik dürfen dabei allerdings nicht durch neue Schulden aufgebracht werden, sondern durch die gerechte Besteuerung der Finanzmärkte.“ Und, so hätte er hinzugefügt, durch höhere Steuern auf Spitzeneinkommen und Vermögen.

Die Zitate stammen aus dem „Regierungsprogramm“ der SPD für die Bundestagswahl 2013. Das Regierungsprogramm, das Gabriel gestern gemeinsam mit bedrohlich gesenkten Wachstumsprognosen verkündete, hatte damit absolut nichts zu tun.

Der Wirtschaftsminister hat sich trotz lahmender Konjunktur spätestens an diesem Dienstag endgültig dem Politikmodell des Nichtstuns unterworfen, das er noch vor gut einem Jahr bekämpfte. Konjunkturprogramme? „Strohfeuer“, so Gabriel in der Diktion der Konservativen und Neoliberalen. Mehr Steuern für Reiche zur Finanzierung von Schulen und Straßen? Längst abgeräumt. Stärkung der Binnennachfrage zur Senkung der einseitigen Exportabhängigkeit? Da gibt es, immerhin, demnächst den gesetzlichen Mindestlohn. Aber damit ist auch Ende der Fahnenstange. Vergessen auch dieser Satz vom vergangenen Jahr: „Wir wollen mehr Verteilungsgerechtigkeit bei Einkommen und Vermögen erreichen. Dazu tragen zuerst gerechte Löhne bei, aber auch eine Politik, die öffentliche Aufgaben gerecht finanziert.“

Selbst im Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute, das vor wenigen Tagen erschien, ist von Spielräumen für Investitionen die Rede – vorausgesetzt, man verabschiedet sich von der manischen Fixierung auf die „schwarze Null“ und nutzt wenigstens die geringen Freiheiten, die die Schuldenbremse lässt, für kreditfinanzierte Investitionen. Dass Wolfgang Schäuble, der sich die schwarze Null als Denkmal zu setzen gedenkt, da nur den Kopf schütteln mag, ist klar. Für den Vorsitzenden der SPD ist es allerdings eine Kapitulation.

Handelte es sich nur um die traurige Kehrtwende einer traditionsreichen Partei – es wäre zu verschmerzen. Das Problem: Deutschland setzt, nun mit 80-Prozent-Mehrheit im Bundestag, genau die Politik der Kanzlerin Angela Merkel (und ihres Vorgängers Gerhard Schröder) fort, die einen entscheidenden Beitrag zur nun aufkommenden Rezession in Deutschland geleistet hat. Diese Politik war durch einige wenige ideologische Lehrsätze geprägt.

  1. „Wettbewerbsfähigkeit“ entsteht, indem man den Preis deutscher Exportprodukte durch günstige Produktions-, also auch Lohnkosten niedrig hält. Deshalb wollte Schröder unbedingt einen Niedriglohnsektor. Und es hat funktioniert, solange die Griechen und Spanier sich verschuldeten, um deutsche Autos zu kaufen – dann nicht mehr.
  2. Haushaltskonsolidierung heißt ausschließlich „Sparen“, und sei es auf Kosten von Investitionen. Deutschland ist deshalb heute buchstäblich weniger wert als vor zehn Jahren.
  3. Das Spardiktat gilt – spätestens mit dem von Deutschland oktroyierten Fiskalpakt – für ganz Europa. Dass uns dieses Europa dabei als Abnehmer für Exporte wegbricht, nehmen wir billigend in Kauf.

Die entgegengesetzte Meinung, die vorübergehend auch die SPD vertrat, geht bei solcher Austeritätspolitik schon lange von genau den Folgen aus, die wir jetzt erleben: Ohne Investitionen, auch öffentliche, wird aus der Sparpolitik erst Stillstand durch Impulsarmut und dann eine Abwärtsspirale, die im Fall neuer Krisen zu noch mehr Schulden führen kann.

„Man muss aufpassen, dass Wirtschaftstheorie nicht zur Wirtschaftstheologie wird“, sagte Sigmar Gabriel am Dienstag. Er hätte es denjenigen sagen sollen, denen er sich inzwischen angeschlossen hat.


Frankfurter Rundschau vom 15.10.2014