Okt 312014
 

Ökumenischer Jugenddienst seit 1955/1956 – Seniorenkreis
Konvent in Neudietendorf  8. – 12. September 2014
„Was inspiriert und tröstet uns?“

Was inspiriert und was tröstet mich in den Brüchen des Lebens? 

Von Christoph Schnyder

„Brüche im Leben“? Ich befürchte, dass die, die mich kennen, sagen: Zu diesem Thema hast du nichts beizutragen; und meine Frau würde beifügen: Du wurdest als Prontosaurier geboren, hast als Prontosaurier gelebt, und als Pronotsaurier werden sie dich ins Museum stellen. 

Christoph Schnyder 2010

Christoph Schnyder 2010

Nein, es gibt da eigentlich keine offensichtlichen Brüche: keine äußeren wie Kriege, Verfolgung, Flucht … und keine innerlichen wie schwere psychischen Krisen. Ist es nicht Hochstapelei, dass ich zugesagt habe, zu dem Thema zu sprechen? Die Frage begleitet mich in allem, was ich im Folgenden sage.

Und doch gibt es da Brüche:

  • Brüche in meiner Erfahrung der Kirche in der Schweiz
  • Brüche zwischen meinen Wertvorstellungen als Afrikasekretär der Basler Mission und Realitäten, die der Moderator unserer Partnerkirche in Kamerun schuf
  • Brüche zwischen meinem Einsatz für Frieden und Versöhnung im Unterricht bei südsudanesischen Pfarrkandidaten und der schrecklichen gegenwärtigen Realität im Süd Sudan.

Brüche in meiner Erfahrung mit der Kirche in der Schweiz

Wer Band 1 der gesammelten Schriften von Dietrich Bonhoeffer (Ausgabe 1958) gelesen hat, findet dort ganz am Anfang die Briefe an Erwin Sutz. Dieser Pfarrer Sutz hat mich konfirmiert und war ein so hinreissender Erzähler, Musiker und Theologe, dass ich mich nach meiner Konfirmation seiner Junge-Kirche-Gruppe anschloss. Die Junge Kirche war damals eine starke christliche Jugendbewegung in der Schweiz. Sutz war der Leiter unserer Gruppe, trat aber als solcher kaum in Erscheinung. Er delegierte die Führung an Mitglieder, die von der Gruppe akzeptiert wurden. Da waren auch Studenten aus dem nahe gelegenen christlichen Lehrerseminar, viele von ihnen kritisch und einige emotional geladen gegenüber der Kirche, z.B. Walter Weber. War es ein Referat, das er hielt, über das mangelnde Engagement der Kirche im Industriequartier? Jedenfalls antwortete Sutz, dass eine Landeskirche für alle da sei. Da ging Walter in die Luft: Kirche für alle? Kirche für alle? Ob sie denn etwa im Industriequartier gegenwärtig sei? Der ganze Verein sei eine jämmerliche Mittelstandsangelegenheit, auf die er pfeife. Was ihn interessiere sei die faszinierende Nähe von Jesus zu den Leuten und gerade zu denen, die zum damaligen religiösen Betrieb nicht dazugehörten … In der Gruppe war Raum für harte Auseinandersetzungen, Kämpfe, ehrliches Ringen … Und da war ein Zweites: Die Lager. Viele hatten wenig Geld, also suchten wir Unterkunft in Massenlagern, und da lag ich neben der schönen Annelies schlief neben ihr ein, wachte neben ihr auf. Die Junge Kirche war ein Ort, wo junge Männer und Frauen Raum hatten, sich kennen zu lernen, sich zu lieben, sich unter Schmerzen wieder loszulassen. Unsere Gruppe war ein grossartiger Ort der sozialen, politischen, psychischen, physischen, religiösen … Lebenserfahrung vom Glauben her auf den Glauben hin.

Und jetzt Kirchgemeinde Muri-Gümligen. Ich will sie nicht schlecht machen. Von unseren Pfarrern und Pfarrerinnen sind mindestens zwei ausgezeichnete PredigerInnen, es gibt einen ordentlichen Kirchenchor. Sehr viele Kinder besuchen die kirchliche Unterweisung. Aber nach der Konfirmation gibt es heute keine Junge Kirche mehr, nur noch die alte Kirche. Als meine Frau und ich 1997 nach meiner Pensionierung nach Muri kamen, waren wir mit 65 Jahren die Jugendlichen im Gottesdienst. Der Eindruck bleibt: Es ist eine vergreisende Kirche, in der das pulsierende Leben der jungen Generation fehlt.

Ein Bruch? Ja! Ich glaube zu sehen, dass meine Erfahrung weit über das rein Persönliche hinausgeht. Die Kirche ist mir wichtig. Der Bruch betrifft mich. Wie ich mich da tröste? Ich will zuerst ein billige Antwort geben: Ich tröste mich damit, dass ich in Afrika eine andere Kirche erlebt habe und erlebe.

Brüche in meiner Erfahrung mit der Kirche in Kamerun

Ich habe sieben Jahre als Beauftragter für kirchliche Erwachsenenbildung in der NW Provinz von Kamerun gearbeitet. Als ich die Stelle annahm, stellte ich nur ein Bedingung: dass die Kirche mir einen gut qualifizierten kamerunischen Mitarbeiter zur Seite stelle, der in unserer gemeinsamen Arbeit die kamerunische Kultur und Realität vertreten und mich vor dem Treten in die schlimmsten Fettnäpfchen bewahren konnte. Ich will aber nicht von dieser Aufgabe erzählen, sondern von der Gemeinde, in der wir lebten: von der Ntamulung-Gemeinde in Bamenda: Gemeinde, in der jeden Sonntag um ca. sieben Uhr ein Frühgottesdienst stattfand mit etwa 500 Leuten, und ein Hauptgottesdienst um 10 Uhr, an dem meist 1000, oft 1500 Christen sich Leib an Leib und Hintern an Hintern auf den Kirchenbänken drängten und oft noch draußen im Freien teilnahmen. Da waren fromme Christen – wohl die Mehrheit – aber da waren auch betrügerische Händler und auch die Diebe, die nicht nur sie bestahlen, Polizisten, welche die Diebe jagten und sie gegen das nötige Kleingeld wieder freiließen, und natürlich auch Prostituierte. Wer wollte in der bunten Schar entscheiden, wer denn nun im Angesicht Christi die wahren Christen waren. Sie alle sangen von ganzem Herzen und ganzer Seele mit und lobten Gott, der seine Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt und auch allen zur rechten Zeit reichlichen Regen schenkt, dass die Ernten wachsen und die Menschen ihr Essen haben. – Als unsere Tochter und unser Sohn als junge Erwachsene nach Kamerun zurückkehrten und das Singen in Ntamulung wieder miterlebten, brach unser Meieli in Tränen aus: endlich, endlich ein Ort, an dem sie – ja, war das bei Gott? Aber so erlebte sie es – endlich ein Ort, an dem sie bei Gott und den Menschen mit Herz und Sinnen daheim sein konnte!

1987 wurde ich Afrika-Sekretär der Basler Mission. Jetzt hatte ich nur noch wenig mit den Gemeinden zu tun, dafür umso mehr mit der Kirchenleitung. Der Moderator – sein Amt entspricht dem eines Bischofs mit weitgehenden Kompetenzen – der Moderator war ein glänzender Prediger, und wenn er einen Gottesdienst leitete, sassen immer auch VIPs in der Kirche: wichtige Vertreter der staatlichen Administration, Wirtschaftsleute, Universitätsprofessoren – wahrhaftig, er ersparte keinem höchst unbequeme Sätze, auch uns Weissen nicht. Dabei waren seine Worte nicht abgehoben, sondern allgemein verständlich. Auch das einfache Volk war zu hunderten, oft zu tausenden gegenwärtig. Aber ich hatte mit ihm nicht als Prediger zu tun, sondern als Letztverantwortlichem für die Projekte der Kirche, also auch für die ganze ausgedehnte medizinische Arbeit, in der es auch um sehr viel Geld ging. Ich will da nicht in die Details gehen. Er sorgte dafür, dass der Sekretär für die medizinische Arbeit ein Schulmann war, der nichts von Medizin verstand. Die Kirche hatte ihn transferieren müssen, weil er in seinem College Geld unterschlagen hatte. Die beiden sorgten dafür, dass der ganze Finanzverkehr für Gesundheitsarbeit über die Zentralverwaltung der Kirche lief. Am Schluss war es so, dass die Kirchenleitung, d.h. er und der Sekretär reich waren und die Spitäler und Gesundheitszentren in den abgelegenen Gebieten mausarm. Schließlich – es geschah erst unter meinem Nachfolger, ich war schon pensioniert – traten beide Ärztinnen der Basler Mission zurück: unter diesen Umständen seien sie nicht mehr bereit, in dieser Kirche weiterzuarbeiten. Die Fehlentwicklung hatte eindeutig schon begonnen, als ich noch Afrika-Sekretär war. Ich hatte dagegen gekämpft. Aber die Kirche ist selbständig. Nur wenn der Fehler aus den eigenen Reihen der Kirche korrigiert wurde, bestand Hoffnung auf die aus meiner Sicht absolut notwendige Korrektur. Doch da war niemand stark genug, um dem üblen Treiben ein Ende zu setzen. Die medizinische Arbeit, einst der Stolz der Kirche und auch der Basler Mission, die sie mit der Kirche zusammen aufgebaut hatte, war weitgehend zerstört.

Ja, und jetzt: was tröstete mich in diesem Bruch? Hier ging es für mich um ein Herzstück christlichen Glaubens. Wurden wir in Kamerun und auch in Basel im Blick auf das weite und wichtige medizinische Feld nicht völlig unglaubwürdig? – Die rettende Antwort gab die Synode der Kirche, indem sie sich strikte an ihre Verfassung hielt. Diese schrieb vor, dass der Moderator zwei Amtsdauern von je fünf Jahren in der Kirchenleitung sitzen durfte. Der Moderator versuchte alles, um diese Bestimmung – leider im Stile vieler afrikanischer kirchlicher und weltlicher Machthaber – zu ändern. Aber er scheiterte an der Synode, die mit großer Mehrheit einen neuen Moderator wählte. Dieser beantragte auf den von der Verfassung vorgeschriebenen Wegen, dass auch die Amtsdauer des Sekretärs für die medizinische Arbeit auf zwei mal fünf Jahre beschränkt werden müsse, was die Synode beschloss. Es wurde ein neuer hoch qualifizierter Mediziner zum neuen Sekretär gewählt. Damit war der Weg für einen Neuanfang offen. – Ja, und worin liegt denn nun eigentlich der Trost und die Inspiration? In der Erkenntnis, dass in gesellschaftlichen, politischen und institutionellen Fragen der Kampf um eine gute Verfassung und um die Treue zu dieser eine riesige Herausforderung ist, der zu stellen sich lohnt: er verlangt den langen Atem und ist wohl der einzige friedliche Weg, um mit solch katastrophalen Brüchen, wie ich einen geschildert habe, zurechtzukommen. Das verlangt und gibt Mut. Das inspiriert und gibt Trost.

Brüche in meiner Erfahrung mit der Kirche im Sudan

Nach meiner Pensionierung unterrichtete ich von 1998 bis 2003 jedes Jahr rund 10 Wochen im Seminar für kirchliche Mitarbeiter der Presbyterianischen Kirche des Sudan. Meine Fächer waren Altes und Neues Testament. Es ging vor allem darum, Texte sorgfältig zu lesen und zu erarbeiten, welche zentrale Botschaft sie vermittelten. Es war noch die Zeit des Bürgerkrieges und ich legte bewusst Wert darauf, dass die jungen Männer als Verkündiger des Evangeliums eine große Verantwortung für Versöhnung und Friede an dem Orte trugen, an dem sie wirken werden. Es war eine Riesenfreude für mich, als ich erfuhr, dass mindestens zwei von ihnen von ihren Dorfgemeinschaften als Friedensbeauftragte gewählt worden waren. Das verlangte viel Weisheit und Mut, denn sie mussten ihr Dorf auch gegenüber Räuberbanden und Milizen vertreten mit dem Ziel, dass es womöglich zu keinem Blutvergießen kam. Im Wissen um solch gute Kräfte hoffte ich zuversichtlich, dass im Süd Sudan, der im Juli 2011 vom Nordsudan unabhängig wurde, eine erfolgreiche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufbauarbeit möglich werde.

Aber: ihr kennt die gegenwärtigen schrecklichen Nachrichten aus dem Süd Sudan: Dass machthungrige Politiker ihre Stämme für ihre eigenen Interessen gewinnen und verführen, so dass es zu blutigen Kämpfen kommt. Zehntausende sind im eigenen Land zu Flüchtlingen geworden. Die Felder werden nicht mehr bestellt. Das Land droht in Krieg und riesigen Hungersnöten zugrunde zu gehen. Ihr könnt euch kaum vorstellen, was alles an Hoffnung in der jüngsten Nation der Erde kaputt gemacht worden ist. Einer meiner besten Studenten ist seit Monaten immer wieder auf der Flucht, und ich habe keine Nachrichten mehr von ihm.

Ich kenne zurzeit keinen Trost, der mir nicht billig und aufgeklebt vorkommt im Blick auf die Situation der Menschen im Süd-Sudan. – Aber es ist in mir eine uralte Erinnerung aufgetaucht. Als junger Theologe besuchte ich Genf. Einige Freunde sagten mir, ich müsse unbedingt die Ausstellung eines brasilianischen Künstlers in ihrem Kirchgemeindehaus besuchen. Er habe im Widerstand gegen den damaligen Diktator mitgearbeitet, sei erwischt und grauenhaft gefoltert worden. Jetzt lebe er als Asylant in der Schweiz. Ich ging hin und fand dutzende von Skulpturen – wenn ich mich recht erinnere schwarze Eisenplastiken: Sie stellten alle die Kreuzigung Christi dar. Oder: war es gar nicht Christus? War es nicht viel mehr er selbst, der Künstler: verkrümmt, verzerrt, schreiend, verstummt, und wieder der Schrei: wo, wo bist du? Wo seid ihr? Ich erkannte, dass der Künstler im Gestalten der Kreuzigungen sein eigenes Geschick hinausschrie, immer neu gestaltete, versuchte, es aus sich hinauszustellen und so zu verarbeiten. Seine Freunde sagten mir, der Künstler erfahre in seinem Schaffen, dass da wenigstens einer sei, bei dem er sich verstanden fühle.

Ich will nicht fragen, was mich tröstet im Blick auf das Leiden meiner Freunde im Süd-Sudan. Aber es gibt vielleicht eine Art des „Mit-Seins“ mit ihnen, wie ich es in den Skulpturen des brasilianischen Künstlers kennen gelernt habe: ein Mit-Sein, das mit dem Gekreuzigten zusammenhängt und doch ganz in ihrem Leiden, ihrer Bitte um das „An sie Denken“ begründet ist. Ob das eine Inspiration, eine Antwort ist?


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