Nov 222014
 

Britische Internierungspraxis im ehemaligen KZ-Neuengamme
und deutsche Deutungsmuster

Der sozusagen für Euch alle im KZ sitzt.

Alyn Beßmann befasst sich mit der britischen Internierungspraxis in Neuengamme und mit Selbstdeutungen  der Hafterfahrung, die inhaftierte NS-Funktionäre in autobiografischen Aufzeichnungen formuliert haben.

Das befreite KZ diente zunächst als »Russian transit camp« und erst als Kriegsgefangenenlager für Wehrmachtsoldaten, dann zur Internierung von Waffen-SS-Angehörigen, bis im Oktober 1945 die Nutzung als Zivilinternierungslager begann, die bis September 1948 dauerte.

“Who is doing time in a concentration camp in place of you all, so to speak.”

The British internment of Germans in the former Neuengamme concentration camp and German reactions to it. The essay will attempt to sketch the establishment of Civil Internment Camp No. 6 (CIC 6) in the grounds of the former concentration camp at Neuengamme. Before the internment camp was established in November 1945, the British military had used the grounds as a DP camp, a POW camp and a camp for SS members. Following on from this, the essay will focus on the self-perception of CIC 6’s inmates. Important sources in this context are documents on the cultural life at the camp, which exhibit both impulses for new, more democratic orientations and attempts to continue national-socialist ideological constructs. The letters, diary entries and other sources that were examined show that the internees hardly ever mentioned Nazi crimes or, if they registered them at all, played them down in many different ways. The internees often used the freedom of cultural expression they were granted by the camp administration to reassure their self-images and form a clear-cut identity as victims of Allied “victor’s justice”.


Leseprobe

Der sozusagen für Euch alle im KZ sitzt

Seite 47 – 50

Von Alyn Beßmann

Die Selbstwahrnehmung der Internierten

Diese Resolution ist ein interessantes Zeugnis für die Selbstwahrnehmung der Internierten. Sie sprechen darin von ihrer »bisherigen Unbescholtenheit und Ehrenhaftigkeit« und verleihen ihrer Überzeugung Ausdruck, dass »bedeutende Teile des deutschen Volkes und der Weltöffentlichkeit mit uns darin übereinstimmen, dass vergangenes Unrecht durch Entehrung und Freiheitsentziehung an Unschuldigen nicht gesühnt werden kann und darf.« Der Terminus des »vergangenen« – nicht etwa »begangenen« – Unrechts ist der einzige Teil der Resolution, der überhaupt Bezug auf nationalsozialistische Verbrechen nimmt. Die weitgehende Ignoranz gegenüber den NS-Verbrechen spiegelt sich auch in weiteren Selbstzeugnissen von Internierten. Beispielsweise wird auf das vormalige KZ Neuengamme, in dessen Gebäuden die Internierten untergebracht waren, lediglich in relativierender Absicht Bezug genommen. So schrieb Heinz Volker in sein Tagebuch: »Es ist ja interessant zu erfahren, wie unsere Vorgänger hier in Neuengamme vor dem Zusammenbruch gelebt haben. Verschiedene Kameraden waren hier als Verwaltungs-Personal usw. eingesetzt. Die Internierten [gemeint sind KZ-Häftlinge] arbeiteten in der Walther-Fabrik in der Waffenherstellung. Bekamen u. a. 600 g Brot, 1000 g Kartoffeln, Morgens und Abends [sie!] eine süße Suppe usw. Sie hatten Strohsäcke, hatten eine Kantine, sogar ein Bordell, bekamen Rote-Kreuz-Pakete und konnten 2 Mal in der Woche schreiben. – Das ist nun ein berüchtigtes Nazi-KZ – und wie vegetieren wir im Gegensatz dazu. Offenbar boten SS-Angehörige, die vor ihrer Internierung ihren Dienst im KZ Neuengamme versehen hatten, ihren Mitinternierten eine bewusst verharmlosende Darstellung des Alltags im Konzentrationslager an, die allenfalls für kleine Gruppen von Sonder- oder Funktionshäftlingen Gültigkeit besessen hatte, die jedoch von Volker, und sicherlich nicht nur von ihm, bereitwillig zur Hervorhebung des eigenen Opferstatus verwendet wurde. Eine ähnliche Passage findet sich auch in der Lagerchronik von Hans-Heinrich Beu. Unter dem Titel »So war es früher« präsentiert er einen vorgeblichen Auszug aus der Lagerordnung des KZ Neuengamme, dessen Inhalt allerdings mit den in den Konzentrationslagern gültigen Lagerordnungen keinerlei Übereinstimmung aufweist. So heißt es darin: »Lebensmittelpakete dürfen zu jeder Zeit und in jeder Menge empfangen werden.« Ohne dass Beu einen direkten Vergleich mit den KZ-Häftlingen vornimmt, ist auch hier die Botschaft klar: Nicht die KZ-Häftlinge waren die Opfer, sondern die Internierten sind es.

Alyn Bessmann

Alyn Bessmann, 2014
© Christoph Gäbler

Volker schildert auch seine Reaktion auf einen gezielten Versuch der britischen Lagerverwaltung, den Internierten die in den KZ begangenen Verbrechen nahezubringen. Im März 1946 wurde im CIC 6 der Film »Die Todesmühlen« gezeigt, ein zum Zweck der Reeducation angefertigter Dokumentarfilm über Konzentrationslager nach der Befreiung. Heinz Volker kommentierte diesen Film so: »Schön anzusehen war er [der Film] ja gerade nicht. Doch was kann man mit einigen hundert Leichen, die z.B. bei einem Bombenangriff auf Belsen ums Leben kamen[,] nicht alles machen. Und solche Skelette hatten wir hier auch aufzuweisen, daß sogar ein engl. Generalarzt[,] als ihm im Dezember einige Abgemagerte vorgeführt wurden[,] sagte: >Wie in Belsen.< Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, hätte von uns über unsere Gegner genau solch ein Film gedreht werden können. Von dem Bombenterror ganz zu schweigen.« Volker bediente sich demnach einer doppelten Strategie, um sich mit den ihm zur Kenntnis gebrachten Aspekten der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nicht auseinandersetzen zu müssen: Einerseits unterstellt er, es habe sich bei dem Film um eine Fälschung gehandelt, zum anderen indiziert er mit dem letzten Halbsatz, der ausschließlich auf Flächenbombardements der Alliierten verweist, dass deutsche Verbrechen, sollten er doch gezwungen sein, sie zur Kenntnis zu nehmen, auf jeden Fall eine Entsprechung auf alliierter Seite fänden.

Der Grund für Volkers strikte Weigerung, NS-Verbrechen als solche anzuerkennen, ist nicht darin zu suchen, dass sie ihm vonseiten der Alliierten präsentiert wurden. Ein weiterer Tagebucheintrag Volkers ist in diesem Zusammenhang höchst aufschlussreich. Darin schildert er, wie ein Führer des Reichsarbeitsdiensts, mit dem er sich in der Internierung angefreundet hatte, ihm »ganz interessant von seiner Tätigkeit« als Kommandant eines Lagers für sowjetische Kriegsgefangene in Molodetschno berichtet habe. Unter Verweis auf verschiedene Epidemien im Lager notierte Volker lapidar: »In dem einen Monat, wo er Lagerkommandant war, reduzierte sich die Belegschaft von 33 000 auf 7000 Mann.« In seinen weiteren Ausführungen wird dann deutlich, dass die 26 000 Toten nicht alle an Seuchen gestorben waren: »Es herrschte natürlich großer Hunger. Die Verpflegung mußte entsprechend bleiben. Die ausgehungerten Gestalten durften natürlich plötzlich nicht soviel bekommen. […] Es herrschte bei diesen Volksstämmen ein ungeheurer Kan[n]ibalismus. Dem schwachen oder sterbenden oder toten Nachbarn wird Fleisch herausgeschnitten und in die Suppe getan […]. Es kam dann mal ein Ausbruchsversuch von 2200 Mann vor, der durch 3 Drahtzäune ging, aber zusammengeschossen wurde. […] Erschießungen gegenüber wurde oft eine enorme Gleichgültigkeit gezeigt, man lachte in die Pistole rein. Er [der Lagerkommandant] mußte Männern noch einen Gnadenschuß geben, die sich bei Erschießungen nach 8 Treffern immer noch bewegten.«

Dieser Tagebucheintrag gibt einen gewissen Einblick in die ungeheuerlichen Verdrehungen, mittels derer es den Internierten gelang, sich selbst zum Opfer zu stilisieren. Volkers Freund »musste« bei einer Erschießung von 2200 Kriegsgefangenen den »Gnadenschuss« geben, eine enorme Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern zeigten nicht etwa er und seine Männer, sondern die Opfer selbst, und nicht er trug die Verantwortung für ein solches Aushungern der Kriegsgefangenen, dass diese Zuflucht zum Kannibalismus nahmen, sondern die völlig unzureichende Ernährung diente allein der gesundheitlichen Fürsorge für die »ausgehungerten Gestalten«.

Ob Volkers Haltung eine typische Reaktion der Internierten auf die Konfrontation mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen darstellt, lässt sich aus den vorliegenden Quellen nicht entnehmen, zumal nationalsozialistische Gewaltverbrechen in den bekannten Selbstzeugnissen kaum thematisiert werden. Eine im Frühjahr 1947 durchgeführte Studie zur Haltung der Internierten vermerkt allerdings zu den Politischen Leitern unter dem Stichwort »Perspektivwechsel im Hinblick auf die Nazivergangenheit«, die Internierten fühlten sich für die von Nazis verübten Verbrechen nicht verantwortlich, aber sie fänden, dass diese, verglichen mit dem Leiden Deutschlands während und nach dem Kriege, an Bedeutung verlören. »Es scheint«, so heißt es in der Untersuchung weiter, »dass es kein verbreitetes Gefühl einer Verantwortung für Deutschlands Akte der Aggression gibt«.

Weniger das »Leiden Deutschlands« als vielmehr das eigene Leiden unter der Internierung steht im Zentrum der meisten vorliegenden Selbstzeugnisse von Internierten. Fast ausnahmslos wird der eigene Opferstatus mit mehr oder weniger großem Pathos vorgetragen. Ein Beispiel unter vielen ist eine Widmung, die ein Mitinternierter Roman Osten-Osuszkiewicz 1947 anlässlich seines Geburtstags in ein Erinnerungsbuch schrieb: »Was vermögen Hunger und Kälte und physische Qualen gegenüber der inneren Überzeugung: Wir leiden hier zu Unrecht!« …

Fazit

Obwohl sich die Internierten in Neuengamme gern als Opfer alliierter »KZ-Haft« imaginierten, werden aus ihren Selbstzeugnissen die horrenden Unterschiede, die zwischen KZ und Internierungslager bestanden, überdeutlich. Bereits der fehlende Arbeitszwang in den britischen Zivilinternierungslagern verbietet jegliche Gleichsetzung mit dem nationalsozialistischen Lagersystem. Die ausgiebige Freizeit der Internierten beförderte das ausgedehnte Kulturleben des Lagers. Von britischer Seite wurde zwar versucht, Impulse für eine demokratische Umorientierung zu geben, größtenteils befand sich das Kulturprogramm des Lagers jedoch in der Hand der Internierten und bot umfangreichen Spielraum für selbstvergewissernde Diskurse.

Die Befürchtung Egels, das Internierungslager Neuengamme entwickle sich zu einer »Hochschule des Nationalsozialismus«, lässt sich in dieser Form allerdings nicht bestätigen. Es wurde kein Hinweis darauf gefunden, dass vom CIC 6 Impulse für eine nationalsozialistische Neuorientierung ausgingen. Ein breites gesellschaftliches Echo fand demgegenüber der von den Internierten gepflegte Opferdiskurs. Die von den Internierten betriebene Selbststilisierung zum eigentlichen Opfer des Zweiten Weltkrieges entwickelte eine Dynamik, die weit über die unmittelbare Nachkriegszeit hinausreichte.

Quelle: Zwischenräume. Displaced Persons, Internierte und Flüchtlinge im ehemaligen Konzentrationslagern. Hg.: KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 2010 (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland; 12), Edition Temmen, 228 Seiten, ISBN 978-3-8378-4017-9, € 12,90  


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