Jan 042015
 

Von Karolin Wetjen 

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In welchem Verhältnis stand die Leipziger Mission zur deutschen Kolonialherrschaft? Karolin Wetjen zeichnet ein ambivalentes Bild zwischen ambitionierten Hoffnungen, den Kolonialismus als Sprungbrett nutzen zu können, und dem Selbstbild der Missionare als „Anwälte der Eingeborenen“.

Das Thema Kolonialismus wurde in der deutschen Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit lange Zeit in den Hintergrund gedrängt. Zu unbedeutend erschien die Phase der kolonialen Herrschaft Deutschlands, dauerte diese doch nur dreißig Jahre, hatte ökonomisch kaum eine Bedeutung und führte auch nicht zu Verwicklungen Deutschlands in Dekolonisierungsprozessen in den ehemaligen Kolonien. Dabei geriet in Vergessenheit, dass das Deutsche Kaiserreich zeitweilig die drittgrößte Kolonialmacht mit Besitzungen in Afrika, Nordostchina und im Pazifik war.

In den vergangenen Jahren hat aber ein Wandel in der Diskussion stattgefunden: Nicht zuletzt durch das in diesem Jahr gesteigerte Interesse am Ersten Weltkrieg ist die deutsche koloniale Vergangenheit, die „Eroberung“ und der Verlust deutscher „Plätze an der Sonne“, wieder in den Fokus gerückt; dies gilt auch für das Verhältnis von Mission und Kolonialismus. Lange Zeit galten Mission und Kolonialismus als zwei Seiten derselben Medaille. Heute erscheint dieses Bild zu einseitig. Zu komplex und differenziert war der Einzelfall der verschiedenen Missionsgesellschaften und -orden in den unterschiedlichen Gebieten. Der folgende Beitrag kann dementsprechend nur einen kurzen Überblick und einige unvollständige Hinweise geben, in welchem Verhältnis die Leipziger Mission zur deutschen Kolonialherrschaft stand.

Kolonialismus im Kaiserreich

„Kolonialphantasien“, also ein „latentes, diffuses Kolonialstreben“, so konnte die Germanistin Susanne Zantop eindrücklich zeigen, entstanden in den deutschen Ländern nicht erst zur Zeit des Hochimperialismus. Sie entwickelten sich parallel zur Ausbildung nationaler Identität seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts und dauerten bis in die Zeit des Nationalsozialismus an. Gebiete außerhalb Europas, ihre vermeintlich exotischen Bewohner und Kulturen erregten großes Interesse in der deutschen Öffentlichkeit. Vereine und Gesellschaften, zum Beispiel die sich im 19. Jahrhundert etablierenden Geographischen Gesellschaften, organisierten Forschungsreisen in entfernte Länder und berichteten über diese an Vortragsabenden und in Publikationen.

Organisatorischen Ausdruck fand das Kolonialbestreben in Deutschland in erfolgreich agierenden Verbänden, an deren Spitze seit 1887 die Deutsche Kolonialgesellschaft stand. Die Gesellschaft schaffte es trotz relativ geringer Mitgliederzahlen – etwa 43.000 vor Beginn des Ersten Weltkrieges – öffentlichkeitswirksame Lobbyarbeit für alle kolonialen Belange zu betreiben. Sie bündelte die verschiedenen Argumente, die von Kolonialbefürwortern für den Erwerb und Erhalt der Kolonien ins Feld geführt wurden. Vier Argumentationslinien lassen sich mit dem Historiker Sebastian Conrad dabei grob unterscheiden: Handelspolitische Überlegungen sahen in den Kolonien neue Absatz- und Rohstoffmärkte zur Stabilisierung der deutschen Wirtschaft; bevölkerungspolitisch galten die Kolonien als Möglichkeit, die US-Auswanderung in ein koloniales „Neu-Deutschland“ umzulenken. Um innenpolitische Konflikte und Spannungen zu überwinden, wurden Kolonien aus sozialpolitischen Überlegungen heraus gefordert. Koloniales Engagement wurde zudem viertens mit der Vorstellung einer Zivilisierungsmission legitimiert: Die „Hebung“ der Kolonisierten und die „Erziehung der Eingeborenen zur Arbeit“ wurden zu wichtigen Phrasen in einer über große gesellschaftliche Kreise hinweg Zustimmung findenden Argumentation, die auf einer vermeintlichen „Sendung“ der deutschen Nation beruhte und aufklärerische Emanzipationsversprechen mit sozial-darwinistischen Kategorien verband. Insbesondere an der „Zivilisierungsmission“ sollten die Missionsgesellschaften mitwirken und „den Eingeborenen die Begriffe Disziplin, Autorität und Subordination“ beibringen, wie es im Reichstag am 29. April 1912 plakativ formuliert wurde. Die Mission habe eine „Kulturaufgabe“ in den Kolonien zu erfüllen, die eindeutig im Dienste des deutschen Kolonialismus stehen solle.

Auch wenn das koloniale Projekt nie unumstritten war, hatte das Deutsche Kaiserreich Schutzgebiete in Asien, Afrika und Nordostchina in der Zeit zwischen 1884 und 1889 erworben, die nicht nur während der großen und vom deutschen Militär blutig niedergeschlagenen Konflikte mit den Herero und Nama in „Südwest“ und dem Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika im Bewusstsein der Öffentlichkeit standen. Dazu trugen „Kolonialskandale“, die sich um das Vergehen deutscher Kolonialbeamter an Kolonisierten drehten, ebenso bei wie die von der Kolonialgesellschaft herausgegebenen Sammelalben und Postkarten, die Kolonialwarengeschäfte, Vortragsabende und großen Völkerschauen.

Mission im Kolonialismus

Als sich die deutschen protestantischen Missionsgesellschaften mit der Forderung konfrontiert sahen, Missionsarbeit in den Kolonien aufzunehmen, waren es nur Einzelne, die sich für eine uneingeschränkte Zusammenarbeit der Mission mit dem Kolonialstaat aussprachen. Am bekanntesten von ihnen ist wohl Friedrich Fabri, langjähriger Missionsinspektor der Rheinischen Missionsgesellschaft, der bereits 1879 in seiner Schrift „Bedarf Deutschland der Colonien?“ eine enge Zusammenarbeit von Mission und Kolonialmacht gefordert hatte. Die älteren Missionsgesellschaften, unter ihnen die Leipziger Mission, betonten dagegen die primäre Unabhängigkeit ihrer Missionsbemühungen von weltlichen Zwecken.

Dass sich die Leipziger Mission schließlich 1893 doch entschloss, „Kolonialmission“ zu werden, lag nicht zuletzt an der Popularität des kolonialen Projektes in der Bevölkerung. Die Entscheidung, eine Mission in Deutsch-Ostafrika unter den Dschagga am Kilimandscharo zu begründen, war – begünstigt durch den Wechsel im Direktorat zu dem aufgeschlosseneren Karl von Schwartz – maßgeblich auf die Mitglieder, Förderer und Unterstützer der Mission im Kaiserreich zurückzuführen. Eine Mission in den Kolonien wurde als Möglichkeit gesehen, das Dasein der Mission als „Winkelsache“ zu beenden. Als „Kolonialmission“ beteiligte sich die Leipziger Mission an Kolonialkongressen und -ausstellungen und organisierte sogar die ersten „Kolonialmissionstage“ in Dresden 1910 mit. Die Chance, „durch eine Missionsveranstaltung in größerem Stil die öffentliche Aufmerksamkeit in solcher Weise auf die Mission zu lenken, daß sie auch Fernstehenden ins Auge fällt“, wie es Direktor von Schwartz in einem Schreiben an Herrnhut ausdrückte, erschien größer als die Gefahr, andere, vor allem ausländische Kreise, die die Mission ebenfalls unterstützten, zu brüskieren. Als deutsche protestantische Missionsgesellschaft in einer deutschen Kolonie erhoffte man sich zudem eine besondere Unterstützung und Schutz der Missionsarbeit durch die deutschen Kolonialbehörden vor Ort. Eine Hoffnung, die sich auch zum Teil erfüllte. Weil man wegen politischer Konflikte eine Mission in Moschi zunächst nicht beginnen konnte, erhielt man gleich zu Beginn der Mission Land von den Behörden in Madschame geschenkt, die Missionare nutzen die Infrastruktur der Kolonialbehörden zum Beispiel für den Postverkehr und die Missionsgesellschaft lehnte eine blutige „Strafexpedition“ des Hauptmann Johannes nach der Ermordung zweier Leipziger Missionare 1896 im Meru-Gebiet nicht ab, was den Eindruck der Dschagga, dass es sich bei den Missionaren um Vertreter der Kolonialmacht handelte, wohl eher verstärkte.

Mission trotz Kolonialismus

Dennoch ist das Bild einer willigen „Kolonialmission“ zu einseitig. Die Leipziger Mission schlug häufig kolonialkritische Töne an. Bereits bei der Aus-sendung der ersten Missionare hatte Direktor von Schwartz den Missionaren die Worte „Denkt daran, dass ihr dem Reich Gottes und nicht dem Kaiserreich dient“ mit auf den Weg gegeben.

Tatsächlich kam es häufig zu Konflikten zwischen den Missionaren und den Vertretern der Kolonialbehörden vor Ort, in denen die Leipziger Missionare sich nicht selten als „Anwälte der Eingeborenen“ verstanden und eine gerechtere Behandlung der Kolonisierten forderten. Sie bemühten sich, Steuerregelungen abzumildern, die Umsiedlung der nomadisierenden Bevölkerung in Dörfer zu verlangsamen oder setzten sich für eine Bezahlung der Dschagga für Arbeiten, die diese für die Regierung verrichtet hatten, ein. Bei Ungerechtigkeiten schreckten die Missionare nicht davor zurück, die Öffentlichkeit über Fehlverhalten der Kolonialbehörden zu informieren. Bei den Kolonialbehörden waren die Leipziger Missionare deshalb nicht wohlgelitten, in späteren Jahren wurde ein persönlicher Umgang von den am Kilimandscharo stationierten Beamten mit den Missionaren vermieden. Dass die Missionare sich gegen einen größeren Zuzug weißer Siedler an den Kilimandscharo aussprachen, weil sie negative Auswirkungen auf ihre Missionsarbeit fürchteten, beförderte gegenseitige Vorbehalte zusätzlich. Ein größerer Skandal konnte nur durch die Vermittlungsversuche der Missionsdirektoren, die zu einem Auskommen mit deutschen Vertretern vor Ort mahnten, verhindert werden.

Das Verhältnis der Leipziger Missionsgesellschaft zum Kolonialismus war also durchaus ambivalent. Einerseits versuchte man, von der Tatsache, „Kolonialmission“ zu sein, zu profitieren: Eine größere öffentliche Aufmerksamkeit für die Belange der Mission, finanzielle Zuwendungen, zum Beispiel durch die Nationalspende, und Schutz und Unterstützung durch deutsche Kolonialbehörden im Missionsgebiet sind nur einige Aspekte. Anderseits lehnte man eine Indienstnahme der Mission für koloniale Zwecke ab und scheute nicht davor zurück, Auswüchse der Kolonialherrschaft zu kritisieren. Keinesfalls sollte der Eindruck entstehen, „als wenn das Missionsziel, daß alle Reiche der Welt unseres Gottes und seines Christus werden, eine nationale Verengung erfahren, und als ob das tiefe Missionsmotiv, die Liebe Christi, durch egoistische Motive wie die Förderung der deutschen Kolonien getrübt werden könnte“, wie es Direktor von Schwartz formulierte.

Dabei war man sich des Wertes der Missionsarbeit für die Kolonien durchaus bewusst. Der spätere Leipziger Missionsdirektor Carl Paul beleuchtete auf dem Kolonialkongress 1902 die Leistungen für die Kolonien, die von der Mission als „Nebenberuf“ verrichtet würden: Bildung und Ausbildung der Kolonisierten, ärztliche Versorgung, Beiträge der Missionare zur Wissenschaft. Vor allem aber sorge die Mission dafür, so Paul, „die Unterworfenen mit ihrer neuen Herrin Germania auszusöhnen“. Die Mission habe deswegen das Recht, auch Forderungen an die Kolonien zu stellen, namentlich müsse sich die Kolonialpolitik ändern, sich zukünftig stärker an christlichen Idealen orientieren und vor allem die Kolonialbeamten ein sittlicheres Leben führen.

Dies ist eines von vielen Beispielen öffentlicher Kritik an der von den Deutschen praktizierten kolonialen Herrschaft durch die Leipziger Mission. Nicht übersehen werden darf aber, dass sich diese von den Missionaren geäußerte Kritik von Maßnahmen der Lokalverwaltung oder die Forderungen Pauls gegenüber der Kolonialpolitik immer systemimmanent blieben. Eine generelle Kritik am Kolonialismus wurde von den Vertretern der Leipziger Mission und auch der anderen kolonialkritischen Missionen nicht geübt. Man suchte das System zu verbessern, aber nicht es abzuschaffen.
Mission als Kolonialismus

In der jüngeren geschichtswissenschaftlichen Forschung wurde jüngst die Perspektive auf das Verhältnis von Mission und Kolonialismus im Sinne postkolonialer Kritik verändert. Das Verhältnis von Mission und Kolonialismus bestimmt sich nicht nur anhand eines nachweisbaren engen oder weniger engen Zusammenarbeitens von Mission und Kolonialstaat. Vielmehr war die Mission getragen von einem Selbstverständnis, das die eigene Position und die eigene Botschaft als höher stehend erachtete. Die „Anderen“ wurden dementsprechend als „Kinder“, deren „Erziehung“ den Missionaren oblag, imaginiert.

Dieser Paternalismus der Missionare, der nicht frei von zeitgenössischen rassischen Denkmustern war, bestimmte den Kontakt mit den Dschagga. Er führte dazu, dass die weißen Missionare auch nach Jahren erfolgreicher Missionsbemühungen noch an der Spitze der Missionsgemeinde standen, über Zulassung zur Taufe, die Vermittlung der christlichen Botschaft und die Anwendung von Disziplinierungsmaßnahmen bestimmten. Im Schulunterricht und auf den kleinen von der Mission betriebenen Plantagen wurden Wirtschaftlichkeit, Disziplin und europäische Zeitvorstellungen eingeübt. Als Maßstäbe dienten den Missionaren dabei europäische Ideale des Christentums, auch wenn sie sich mit der Kultur der Dschagga, ihrer Geschichte und Sprache eng vertraut machten.

Aus Angst vor einer Verwässerung der christlichen Botschaft und aus ihrer Sicht „unsittlichem“ Verhalten der Gemeinden zögerten die Leipziger Missionare lange, eine Selbstständigkeit der Kirche in die Wege zu leiten und schwarze Christen zu Predigern auszubilden. Die Differenz zwischen Christentum und „Heidentum“, zwischen weißen Missionaren beziehungsweise Missionsangehörigen und schwarzer Gemeinde, die sich in der Missionspraxis immer mehr vermischte und stetigen Aushandlungsprozessen unterlag, sollte und konnte aus Sicht der Missionsleitung und der meisten Missionare nicht überwunden werden. Auch die Mission war damit von den strukturellen Asymmetrien einer kolonialen Gesellschaft gekennzeichnet. Tiefergehende Untersuchungen sind hier vonnöten.


Quelle: Kirche weltweit, 2/2014, Leipzig, Seite 4 – 7


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