Jan 022015
 

Laudatio von Prof. Dr. Richard Schröder anlässlich
der Verleihung des Deutschen Nationalpreises 2014 

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Die Deutsche Nationalstiftung hat den diesjährigen Nationalpreis, der Leipziger Montagsdemonstration verliehen. Sie tut das, indem sie drei Personen ehrt, die für die Montagsdemonstrationen sehr wichtig waren. Aber sie ehrt sie stellvertretend für alle, die sich an den Montagsdemonstrationen beteiligt haben. Deshalb werde ich nicht drei Lobreden auf drei Personen halten, sondern die Geschichte der Leipziger Montagsdemonstration erzählen. Das ist eine Geschichte mit Ecken und Kanten, um die sich bis heute auch die Akteure noch streiten. Auch hier bestätigt sich leider die allzu menschliche Tatsache: ums Erbe gibt es meistens Streit.

Wie jeder weiß, nahmen die Montagsdemonstrationen ihren Ausgang von den Friedensgebeten in der Nikolaikirche jeden Montag 17 Uhr. Deshalb sind diese Montagsgebete die Vorgeschichte der Montagsdemonstrationen. Und das kam so.

1978 führte Margot Honecker ein neues Schulfach ein: Wehrerziehung. Das stieß auf den Protest vieler Eltern und auch der Evangelischen Kirche, die dagegen eine Erziehung zum Frieden forderte – vergeblich. Darauf beschloss die Evangelische Kirche in beiden Teilen Deutschlands, jährlich eine Friedensdekade an den letzten 10 Tagen des Kirchenjahres, also vor dem Totensonntag, abzuhalten mit täglichen Friedensandachten. Es war ja die Zeit der Nachrüstungsdebatten. 1980 fand die erste Friedensdekade statt. Das Dresdner Jugendpfarramt hatte für diese Andachten eine Materialmappe erstellt, die an die Gemeinden versandt wurde. Und man hatte sich dafür etwas Besonderes ausgedacht, ein Lesezeichen, gedruckt auf Vlies, das eine sowjetische Plastik von Jewgeni Wutschetitisch zeigte, nämlich einen sehr muskulösen Mann nach Art des heroischen sozialistischen Realismus, der aus einem Schwert eine Pflugschar schmiedet. Diese überlebensgroße Plastik hatte die Sowjetunion 1959 der UNO geschenkt. Sie nahm ein biblisches Motiv vom Propheten Micha auf, wo es heißt: in den letzten Tagen werden die Völker zum Zion kommen und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden. Da die Kommunisten der Überzeugung waren, dies werde sich im Kommunismus erfüllen, haben sie die plastische Darstellung dieses Bibelworts der UNO vermacht. Und die Kirche dachte: dann kanns ja wohl nicht verboten sein, diese Plastik, umgeben mit den Worten „Schwerter zu Pflugscharen“ und Nennung der Bibelstelle Micha 4 auf Textilvlies drucken zu lassen. Das Herrnhuter Unternehmen Abraham Dürninger (wohl die einzige kircheneigene Produktionsstätte in der DDR) druckte 120.000 Stück. Dabei nutzte die Kirche eine Gesetzeslücke. Das Bedrucken von Papier unterlag der Zensur, die aber nicht so genannt werden durfte. Das Bedrucken von Textilien dagegen galt als Oberflächenveredelung. Deshalb also war das Lesezeichen aus Vlies und nicht aus Papier. Und deshalb ließ es sich, was gar nicht beabsichtigt war, gut auf Jackenärmel nähen, was viele Jugendliche auch prompt taten. Darauf begannen Schulen und die Polizei eine Jagd auf dieses Abzeichen. Es musste sofort entfernt werden oder die Jacke wurde beschlagnahmt. Disziplinarische Maßnahmen folgten. Studenten wurden deshalb exmatrikuliert. Manche Jugendliche nähten sich daraufhin einen weißen Fleck auf den Ärmel mit der Inschrift: „hier war ein Schmied“.

Diese Friedensdekade mit ihren 10 Friedensandachten einmal jährlich fand auch in der Leipziger Nikolaikirche statt, aber eben jährlich und nicht wöchentlich. Zu den wöchentlichen Friedensandachten in Nikolai kam es so: Im Leipzig-Propstheida stand für die Gemeindearbeit nur eine Zweiraum-Wohnung zur Verfügung. Durch einen Planungsfehler standen eines Abends zwei Gruppen vor der Tür, die Junge Gemeinde (15-19-Jährige) und der Bibelkreis (Alter 60 aufwärts). Was tun? Der Jugenddiakon Günther Johannsen schlug vor: dann redet eben heute mal Jung mit Alt. Die Alten fragten: warum provoziert Ihr Jungen mit den Aufnähern „Schwerter zu Pflugscharen“ den Staat und riskiert Eure Karriere und Schlimmeres? Die Jungen antworteten: der Staat wird immer militanter, wir werden im Wehrkundeunterricht massiv gedrängt, freiwillig 3 oder gar 10 Jahre in der Volksarmee zu dienen. Ohne diese Verpflichtung kommt man oft gar nicht mehr zum Studium. Dagegen wollen wir ein Zeichen setzen. Die Alten waren erstaunt. Das wissen wir ja alles gar nicht. Da wurde die Idee eines Friedensgebetes geboren. Denken, Handeln, Beten für den Frieden, so war es gedacht – und informieren. Eine zentrale Leipziger Kirche sollte es sein und nach Arbeitsschluss. Am besten wäre die Nikolaikirche und 17 Uhr. Und Montag empfahl sich, weil das der Pastorensonntag ist, an dem sie nicht ausgebucht sind. Man wandte sich an den Superintendenten Friedrich Magirius, der die Idee befürwortete. Der Kirchenvorstand unter Vorsitz von Pfarrer Führer hatte viele kritische Fragen, öffnete aber schließlich die Kirchentüren für das Projekt. Damit begann die sehr wechselvolle und oft streitbelastete Geschichte der wöchentlichen Friedensgebete in Nikolai. Pfarrer Führer und Superintendent Magirius haben jedenfalls das Verdienst, dass sie trotz wiederholten mächtigen staatliche Drucks kein einziges Montagsgebet abgesagt und keines an einen anderen Ort verlegt haben, und das acht Jahre lang. Dadurch wurde die Nikolaikirche und ihr Vorplatz zu einer markanten Institution, die nicht nur fromme Christen anzog. Die Anfänge allerdings waren deprimierend. Zum ersten Friedensgebet nach der Friedensdekade 1982 kamen sieben, zum zweiten elf, zum dritten dreizehn Teilnehmer. Die Teilnehmer trösteten sich mit einem Wort Jesu aus dem Matthäusevangelium: „wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“

Ein Jugendlicher aus Propstheida malte ein Plakat mit dem Motiv „Schwerter zu Pflugscharen“, das noch heute zur Erinnerung an diesen Anfang in der Nikolaikirche zu sehen ist.

In dieser Entstehungsgeschichte sind einige DDR-typische Konstellationen erkennbar. Die Alten treffen zufällig auf die Jungen, hören von ihren Sorgen und staunen. Eine Gesellschaft ohne Öffentlichkeit ist eine Nischengesellschaft, aber das ist kein Lob. Und das andere: richtig begeistert war der Kirchenvorstand von den Friedensgebeten junger Leute in ihrer Kirche wohl nicht. Das bringt uns womöglich Ärger, die Stasi wird auf uns aufmerksam, am Ende gibt es Verbote und Auflagen und Dauerkontrolle – leider Befürchtungen, die sich bald bewahrheiteten.

Im November 1983 kam es zum ersten Mal zu einer Demonstration nach einem Friedensgebet. Etwa 50 Jugendliche hatten sich auf dem Markt mit Kerzen in einem Kreis auf den Boden gesetzt, ohne Sprechchor, ohne Plakat. Sechs Teilnehmer wurden für diese Freveltat zu Haftstrafen von bis zu zwei Jahren verurteilt.

Für die weitere Geschichte der Montagsgebete ist unser zweiter stellvertretender Preisträger wichtig, Christoph Wonneberger. Er war zuvor Pfarrer in Dresden und hatte sich in der Friedensfrage durch die Idee eines Sozialen Friedensdienstes (SOFD abgekürzt) profiliert, die in den Synoden der Landeskirchen zunächst durchaus Unterstützer fand, aber von der SED grimmig bekämpft wurde. Da der Staat den Vorwurf der Wehrkraftzersetzung erhob, entzogen die Kirchenleitungen der Idee ihre Unterstützung und gaben sich mit dem Institut der Bausoldaten (Soldaten ohne Waffendienst) zufrieden, das es in keinem anderen sozialistischen Land gab. Und sie erreichten Haftverschonung für Totalverweigerer. Im Zusammenhang mit SOFD hatte Wonneberger auch die Idee von Friedensgebeten entwickelt.

1985 kam er nach Leipzig und im September 1987 übernahm er die Koordinierung der Friedensgebete in Nikolai. Christoph Wonneberger: Sehr intelligent, sehr kreativ, offen fürs Unkonventionelle, ein Freund aller Außenseiter, manchmal unberechenbar spontan und deshalb durchaus auch anstrengend. Inzwischen war Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU geworden, hatte Glasnost und Perestroika auf seine Fahnen geschrieben und auch in der DDR, zumal unter kritischen Jugendlichen neue Hoffnungen geweckt und die Bereitschaft zum Risiko befördert. Auch in Leipzig hatten sich Gruppen von Jugendlichen gebildet, die gegen den Stachel löckten. Hier nenne ich besonders die Initiativgruppe Leben (IGL), zu der unser dritter Preisträger, Uwe Schwabe, gehörte. Er steht hier für diejenigen, die an die Friedensgebete in Nikolai andockten ohne selbst einen kirchlichen Hintergrund zu haben und die eigentlich die Grenzen der innerkirchlichen Öffentlichkeit durchbrechen wollten. Ich erwähne noch die Arbeitsgruppe Menschenrechte, die Wonneberger gegründet hat. Sie sah ihre Legitimation im KSZE-Prozess, und namentlich in Korb drei der Schlussakte von Helsinki, die ja auch die DDR unterzeichnet hatte. Das Interesse dieser Gruppen war primär politisch, was ja prinzipiell nicht zu tadeln ist, aber Gebet und Gottesdienst drohten zur bloßen Scheinkulisse zu werden. Man ahnt es: das ist der Stoff für einen mächtigen Konflikt, auch zwischen den beteiligten Pfarrern. Christoph Wonneberger ließ jenen Gruppen die Zügel frei, während Christian Führer und Friedrich Magirius außer dem Montagabend auch noch die Arbeits- und Lebensbedingungen der Kirchengemeinde von Dienstag bis Sonntag im Auge haben mussten in einem Staat, der bekanntermaßen nicht kirchenfreundlich war und dem diese Friedensgebete immer ein Dorn im Auge waren. Um es kurz zu machen: nach dem letzten Friedensgebet vor der Sommerpause 1988 entband Superintendent Magirius aufgrund einiger Konflikte Pfarrer Wonneberger von der Aufgabe der Koordination und schloss die besagten Gruppen von der weiteren Gestaltung der Friedensgebete aus. Beim nächsten Friedensgebet wollten die Gruppenvertreter eine Protesterklärung verlesen, aber Magirius schalte das Mikrophon ab. Als die Orgel den Protest übertönte, schalteten nun Gruppenvertreter wiederum den Orgelmotor ab. Ich erzähle das, damit Sie sich die Friedensgebete nicht als Idylle und Übung in christlicher Eintracht vorstellen. Die Wirkung dieses Zerwürfnisses war die, dass nun der Platz vor der Nikolaikirche ins Geschehen einbezogen wurde. Denn dort trugen nun die Gruppen ihren Protest gegen ihren Ausschluss aus der Gestaltung der Friedensgebete vor, also gegen die Kirchengemeinde. Geplant hatte das ja niemand so. Aber de facto wurde so der Weg von den Friedensgebeten zu den Montagsdemonstrationen geebnet. Ich sage zu so etwas gern: Mensch denkt, Gott lenkt oder: Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade. Man kann aber auch mit Hegel von der List der Vernunft reden, durch die aus kleinlichem menschlichem Gerangel hin und wieder etwas überraschend Gutes rauskommt.

Auch ich hebe regelmäßig hervor, wie wichtig es war, dass die evangelische Kirche den oppositionellen Gruppen ein Dach bieten konnte. Sie wären sonst zerdrückt worden wie in den fünfziger Jahren, einfach nur durch lange Gefängnisstrafen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Verhältnis zwischen den Kirchengemeinden und manchen dieser Gruppen sehr spannungsvoll war, und zwar unvermeidlich. Der Thüringer Bischof Werner Leich hat damals einmal gesagt: Die Kirche ist für alle da, aber nicht für alles. Der sächsische Bischof Johannes Hempel hat einmal gesagt: die Kirche habe nur ein begrenztes politisches Mandat. Es ist ihre Aufgabe, Missstände zu benennen, namentlich verschwiegene und vertuschte, und es ist ihre Aufgabe, Menschen in Not beizustehen. Aber sie ist keine politische Partei, die politische oder auch ökonomische Programme zu verkünden oder gar durchzusetzen hätte. Für das Christentum ist die Unterscheidung von Staat und Kirche charakteristisch, so schwierig sie auch im Einzelfall vollzogen werden mag. Sowohl die totale Kirche, sprich Theokratie, wie der totale Staat widersprechen der christlichen Grundüberzeugung. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, sagt Jesus zu Pilatus. Aber sein Reich kann in dieser Welt einiges erhellen, könnte man fortfahren. Es war berechtigt, die Friedensgebete so zu gestalten, dass sie nicht verboten werden. Meine Mutter pflegte aus der Nazizeit einen Bischof zu zitieren, der gesagt hatte: es steht in der Bibel nicht geschrieben, dass Daniel in der Löwengrube die Löwen in den Schwanz gekniffen hat. Aus den Gruppen heraus ist der Vorwurf gekommen, die Kirche würde vor dem Staat kneifen und kuschen. Mut ist aber nach Aristoteles das Mittlere zwischen zwei Extremen, der Feigheit, die die Gefahr überschätzt und dem Leichtsinn, der die Gefahr unterschätzt. Superintendent Magirius hat einmal zu den Gruppenvertretern gesagt: ihr wisst ja gar nicht, in welcher Gefahr ihr euch befindet. Und auch innerhalb der Gruppen gab es heiße Diskussionen darüber, wo der Leichtsinn beginnt. Manche hielten irrtümlich und viel zu früh die SED für einen zahnlosen Tiger.

Kirchenvertreter mussten außerdem darüber nachdenken, in welchem Maße sie zulassen konnten, dass sich Jugendliche unter ihrer Verantwortung der Gefahr einer Gefängnisstrafe aussetzen. Was sollten Pfarrer antworten, wenn Eltern ihnen vorwarfen: „Sie sind dran schuld, dass mein Kind im Gefängnis sitzt“? Inzwischen sind die harten Verhandlungen zwischen Staat und Kirche um die Leipziger Montagsgebete gut dokumentiert. Da kann von Anbiederung oder vorauseilendem Gehorsam nicht die Rede sein. Gegen Landesbischof Hempel, der unvermeidlich zunehmend mit den Leipziger Friedensgebeten befasst wurde, hatte die Stasi ein Ermittlungsverfahren wegen staatsfeindlicher Tätigkeit eingeleitet.

Unter den Gruppen hatten manche mit dem Staat vollständig gebrochen. Sie forderten in den Kirchen uneingeschränkte Freiheit des Wortes, als sei die Grundrechtsdemokratie schon Wirklichkeit. Die Kirchenvertreter aber konnten die Freiheit des Wortes nur bei Wahrung bestimmter Grenzen gewähren, weil sie über ihr Hausrecht vom Staat direkt haftbar gemacht wurden für alles, was in ihren Kirchen geschah. Manche in den Gruppen haben mit der Stasi Hase und Igel gespielt und manchmal mit den Kirchenvertretern auch, d.h. sie haben sie mal bisschen hinters Licht geführt und sich an solchen Streichen erfreut. Aber so etwas konnten sich die Kirchenvertreter gegenüber den Staatsvertretern jedenfalls nie leisten, weil Berechenbarkeit, Transparenz und Ehrlichkeit ihr einziges Kapital im Verhältnis zum Staat darstellte. Bis heute sind diese komplexen Konstellationen nicht allen damaligen Akteuren bewusst.

Vom 13. Februar 1989 an wurden jene Gruppen und Pfarrer Wonneberger wieder in die Gestaltung der Friedensgebete einbezogen.

Nun komme ich zu einem dritten Aspekt in der Geschichte der Friedensgebete, der sie seit Mitte der 80er Jahre mitbestimmt hat: die Ausreisewilligen, damals kurz Antragsteller genannt. Im Zuge der deutschdeutschen Verständigung hat die DDR für DDR-Bürger die Möglichkeit eingeräumt, auch außerhalb der Familienzusammenführungen einen Ausreiseantrag zu stellen, sie aber dann von ihrer Absicht abzubringen versucht, schikaniert und nicht selten in die Arbeitslosigkeit geschickt. Das Verhältnis zwischen den Gruppen und den Ausreisewilligen war kompliziert. Die einen wollten die DDR verändern, die anderen wollten sie sich selbst überlassen. In Berlin war es darüber 1988 aus Anlass der berühmten Rosa-Luxemburg-Demonstration zum Streit gekommen. Die einen wollten die Ausreisewilligen in die Protestaktionen einbeziehen, andere waren strikt dagegen, weil sie für unvereinbar hielten, dass sie die DDR verändern und deshalb bleiben, jene aber die DDR sich selbst überlassen und vor allem gehen wollten. In Leipzig sahen die Gruppen wohl zuerst ein Gemeinsames mit den Ausreisewilligen: auch sie waren mit den DDR-Verhältnissen zuhöchst unzufrieden.

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre entdeckten Ausreisewillige zunehmend die Möglichkeit, ihren Ausreisewunsch dadurch zu befördern, dass sie sich politisch unbeliebt machten und eine solche Möglichkeit war die Teilnahme an Friedensgebeten. Am 14.12.1987 nahmen 20 Personen im Friedensgebet teil, am 1.2.1988 waren es 700, nach Schätzung 80 Prozent davon Ausreisewillige, die an der Kirche und den Themen der Gruppen, nämlich Frieden, Umwelt, Gerechtigkeit, politische Reformen, gar kein Interesse hatten, sondern die Friedensgebete nutzten, um als Störenfriede ihre Abschiebung zu befördern. Der Staat ist auch tatsächlich darauf eingegangen und hat zum Beispiel im März 1989 in Leipzig 400 Personen die Ausreisegenehmigung erteilt, in der irrigen Erwartung, dass Ruhe einkehrt, aber mit dem Effekt, dass nun weitere Ausreisewillige die Friedensgebete als heißen Tipp verstanden. Das hat die Friedensgebete für einige Zeit durchaus in Misskredit gebracht, auch innerkirchlich.

Dies änderte sich erst in der zweiten Jahreshälfte von 1989. Die Ausreisewelle erst über Ungarn, dann über die Prager Botschaft beförderte eine Gegenbewegung: oppositionelle Bewegungen gründeten sich öffentlich. Die Gründer kamen zwar fast durchweg aus dem Raum der Kirche, verließen diesen aber nun demonstrativ. Am 26.8. 89 trat die Initiativgruppe zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR an die Öffentlichkeit. Am 9. September 1989 gründete sich das Neue Forum und erreichte ein Echo, das die Gründer völlig überraschte. Dem folgten Demokratie jetzt am 12.9., der Demokratische Aufbruch am 1.10. und die angekündigte Gründung der Sozialdemokratischen Partei am 7.10. Das Neue Forum beantragt bei den Behörden seine Zulassung, da sie nicht illegal sein möchte. Die Behörden lehnen zunächst ab. Darauf wird die Forderung „Neues Forum zulassen“ zu einer der ersten der Demonstranten des Herbstes.

Gegen die Losung „Wir wollen raus“ setzten diese „Bürgerrechtler“, wie man sie im Westen in Anlehnung an US-amerikanische Terminologie nennt, die Losung „Wir bleiben hier“. Das veränderte erneut die Montagsgebete.

Da die SED die Kirche nicht dazu bringen konnte, die Montagsgebete abzusagen oder zu verlegen, kam sie auf die Idee, die Nikolaikirche einfach mit treuen Genossen zu füllen, die bereits eine Stunde vor Beginn, also 16 Uhr, alle Plätze besetzen sollten. Die Nikolaikirche verfügt aber über recht große Emporen.

Die ließ Pfarrer Führer zunächst sperren, um dann den verdutzten Genossen zu erklären, die Emporen würden nun geöffnet, damit auch die werktätige Bevölkerung, die jetzt erst von der Arbeit kommt, noch Sitzplätze findet.

Am 4. September 1989 ist das erste Montagsgebet nach der Sommerpause. Die Leipziger Messe bringt Westjournalisten nach Leipzig, die Bilder liefern, wie vor der Kirche Transparente gehalten und von Stasileuten weggerissen werden. Aber ansonsten halten sich die Sicherheitsleute zurück. Dagegen wird vom 11. September an der Polizeieinsatz hart. Eine Demonstration wird verhindert. Es kommt zu Verhaftungen und zu 18 Verurteilungen bis zu 4 Monaten und Ordnungsstrafen von bis zu 5000 M. Aber die Gruppen sind auf so etwas vorbereitet und DDR-weit vernetzt. Es gibt Kontaktadressen und juristische Beratung für Zugeführte. Und es gibt Fürbittveranstaltungen für die Inhaftierten, auch außerhalb von Leipzig. Und über die Westmedien kann man die gesamte DDR-Bevölkerung informieren.

Am 25. September und am 2. Oktober kommen Demonstrationszüge zustande, gegen die die Polizei brutal vorgeht. Am 25.9. sind es etwa 8.000, am 2.10. bereits 20.000 Demonstranten. Roland Jahn, der 1983 die DDR verlassen musste, hält von Westberlin aus Verbindung zu den Leipzigern und sorgt dafür, dass Westmedien über die Vorgänge berichten. Sie werden dadurch auch DDR-weit bekannt.

Nebenbemerkung. Friedlich war die Herbstrevolution von Seiten der Leipziger Demonstranten und dann nach dem 9. Oktober auch landesweit. Die Leipziger und Berliner Sicherheitskräfte waren vor dem 9. Oktober keineswegs friedlich, sondern brutal. Bei den harten Auseinandersetzungen im Dresdner Hauptbahnhof, als dort die Züge mit den Prager Botschaftsflüchtlingen durchfuhren, wurden auch 45 Polizisten verletzt. Ein Einsatzwagen ging in Flammen auf. Man hätte sich also durchaus auch einen Herbst der Straßenschlachten vorstellen können, auch für Leipzig. Wir können die bei Namen nennen, denen wir verdanken, dass es anders kam, zuerst in Plauen (7.10.), dann in Dresden (8.10.), aber in Leipzig tags darauf mit einer Ausstrahlung auf die gesamte DDR.

Die nächste Montagsdemonstration war nämlich die berühmte vom 9. Oktober. Zur Erinnerung: am 7. Oktober hat die SED den 40. Jahrestag der DDR mit Pomp gefeiert und gleichzeitig in Berlin wie in Leipzig Demonstranten gejagt, verhaftet und gedemütigt. Und nun sollte auch die Montagsdemonstrationen -so viele waren es ja noch gar nicht – beendet werden, genauer: verhindert, und wenn das nicht gelingt, aufgelöst werden. So lautete die Devise aus Berlin. Bereits am 6. Oktober war in der Leipziger Volkszeitung der Brief eines Kampfgruppenkommandeurs veröffentlicht worden, in dem dieser erklärte: „Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss mit der Waffe in der Hand.“ Das Gerücht wurde gestreut, es gebe einen Schießbefehl. In Schulen und in der Universität erging die Aufforderung, nachmittags nicht auf die Straße zu gehen. Es kam aber anders. Der Polizeichef von Leipzig, Straßenburger, schätzte am Vormittag, es werden 50.000 Demonstranten kommen. Das Berliner Innenministerium hielt das für übertrieben und schätzte 20.000. In Wahrheit kamen wohl 70.000, jedenfalls so viele, dass die Verantwortlichen sich entschieden, die Demonstranten auf dem bisherigen Weg rings um die Innenstadt – den Ring entlang der ehemaligen Stadtmauer – laufen zu lassen, weil die aufgebotenen Sicherheitskräfte nach ihrem Urteil nicht ausreichten, um eine solche Demonstration aufzulösen und die Demonstranten zu internieren.
Die Montagsgebete fanden diesmal in fünf Leipziger Kirchen gleichzeitig statt. In diesen Gottesdiensten wurde noch einmal, wie bisher, dazu aufgerufen, auf Gewalt vollständig zu verzichten. Christoph Wonneberger hatte einen Appell entworfen und in 20.000 Exemplaren mit einer Ormigmaschine vervielfältigt, was Tage in Anspruch genommen hat. Daraus muss ich zitieren:

  • „Enthaltet euch jeder Gewalt!
  • Durchbrecht keine Polizeiketten, haltet Abstand zu Absprerrungen! 
  • Greift keine Personen und Fahrzeuge an!
  • Entwendet keine Kleidungs- oder Ausrüstungsgegenstände der Einsatzkräfte! (Anmerkung: bei einer früheren Demonstration hatten die Demonstranten den eingehenkelten Polizisten einer Absperrkette die Mützen vom Kopf genommen und durch die Luft gewirbelt)
  • Werft keine Gegenstände und enthaltet euch gewalttätiger Parolen!
  • Seid solidarisch und unterbindet Provokationen!
  • Greift zu friedlichen und phantasievollen Formen des Protestes!

An die Einsatzkräfte appellieren wir:

  • Enthaltet euch der Gewalt!
  • Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt! Wir sind ein Volk!
  • Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden.“

Unterschrieben ist der Text von: Arbeitskreis Gerechtigkeit, Arbeitskreis Menschenrechte, Arbeitskreis Umweltschutz.

Hier taucht also zum ersten Mal der Satz „Wir sind ein Volk“ auf, er ist aber nicht auf die deutsche Einheit bezogen, sondern meint: Demonstranten und Polizisten sind doch ein Volk. Die Demonstranten rufen an dieser und den folgenden Montagsdemonstrationen die andere Losung: „Wir sind das Volk“ und weisen damit den Anspruch der SED in die Schranken. Die deutsche Einheit sprechen die Demonstranten erstmals am 6. November an, also immerhin noch vor der Maueröffnung, aber listig mit einer Zeile aus der Nationalhymne der DDR, deren Text seit Honecker nicht mehr gesungen oder gedruckt wurde: „Deutschland einig Vaterland.“

Es gab noch eine zweite bemerkenswerte Erklärung, die ich hier im Wortlaut wiedergebe.

„Die Leipziger Bürger Prof. Kurt Masur, Pfr. Dr. Peter Zimmermann (Theologie), der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr. Kurt Meyer, Jochen Pommert und Dr. Roland Wötzel wenden sich mit folgendem Aufruf an alle Leipziger:

Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt.

Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung.

Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land.

Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird.

Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.“

Der Text wurde noch in den Friedensgebeten der fünf Kirchen bekannt gemacht, in denen aber mit 6000 Besuchern nicht einmal ein Zehntel der Demonstranten erreicht wurde. Ab 18 Uhr wurde er, gesprochen von Kurt Masur, über den Stadtfunk verbreitet und mit allgemeiner Erleichterung aufgenommen.

Die drei SED-Sekretäre, die unterzeichnet hatten, wurden am nächsten Tag in die SED-Bezirksleitung befohlen und dort unter Hausarrest gestellt. Aber am Mittwoch wurde der wohl Prominenteste, Dr. Meyer, vom sowjetischen Konsul in Leipzig aus der Bezirksverwaltung der SED rausgeholt – man kann auch sagen: befreit und nach Kiew ausgeflogen. Er kam erst nach Honeckers Sturz zurück. Auch der polnische Konsul hatte ihm Asyl angeboten. Die drei Bezirkssekretäre der SED hatten von den sechs Unterzeichnern mit Sicherheit das größte Risiko auf sich genommen.

Der 9. Oktober war ein Durchbruch. Die Staatsmacht hat erstmals siegen wollen und – kapituliert. Sie musste die Demonstranten gewähren lassen. Aber die Sicherheitsapparate waren alle noch völlig intakt. Was würde am nächsten Montag geschehen? Honecker, aus dem Krankenhaus zurückgekehrt, hatte so wenig wie das Politbüro begriffen, dass Leipzig typisch war für die Stimmung im Lande und nicht ein singuläres Sonderproblem. Er machte den Vorschlag, zur Abschreckung der Leipziger ein paar Panzer durch die Stadt fahren zu lassen. Die Fachleute redeten ihm das aus. Da brauche nur ein Gedienter seine Mütze vor den Sehschlitz zu halten, dann sind die drinnen blind. Und was dann passiert, sei unkalkulierbar.

Am 24.10. und am 31.10. ist für die Sitzung des Politbüros eine Beschlussvorlage zur Verhängung des Ausnahmenzustands vorbereitet, die der Verhängung des Kriegsrechts in Polen gegen die Gewerkschaft Solidarnoscz entsprochen hätte. Die Stasi hatte für diesen Fall eine Liste der zu Internierenden verfertigt und sogar die Formulare für den Haftbefehl bereits ausgefüllt – ohne Datum – und längst Internierungslager vorbereitet. DDR-weit waren 85.939 Personen zur Internierung vorgesehen. Aus bisher unbekannten Gründen wird beide Male über den Ausnahmezustand nicht gesprochen.

In Berlin hält man die Montagsdemonstrationen für Akte der Konterrevolution. In Leipzig aber kennt sich die Führung besser aus und weiß, dass sowohl die Kirchenvertreter als auch die des Neuen Forums auf strikte Gewaltlosigkeit setzen, weil sie das bereits bewiesen haben. Aber noch Wochen lang wird man in Leipzig eine Fallschirmspringereinheit aus Mecklenburg weiter für den Einsatz gegen Demonstranten trainieren lassen. Und man hat munitionierte Panzerspähwagen und LKWs in Bereitschaft, die mit großen Schilden Demonstranten wegschieben können. Aber es kommt nicht dazu.
Denn nachdem die Montagsdemonstration des 16. Oktober ebenfalls ohne Zwischenfälle über den Ring läuft, steigt der Mut auch anderswo. Überall im ganzen Land wird nun unbehindert demonstriert.

Ich möchte Ihnen die Losungen und Sprechchöre der Leipziger Montagsdemonstrationen vortragen.

9.10.: da gab es nur zwei Transparente: „Wir wollen keine Gewalt“ und „Neues Forum zulassen“. Und Sprechchöre: „Schließt euch an“, „Neues Forum zulassen“, „Keine Gewalt“ und „Wir sind das Volk“.

16.10. (120.000 Teilnehmer): „Kein Blabla vom ZetKa“ – Am 18. 10. tritt Honecker zurück, Egon Krenz folgt ihm.

23.10.: ganz vorn ein Plakat mit der Losung „Gorbi hilf“; Weiter: „Egon gebe acht, teile die Macht“ -grammatisch schwach, aber politisch Spitze. „Egon, sei klug, 40 Jahre sind genug“. „Die Mauer muss weg“; „Egon, reiß die Mauer ein, denn wir brauchen jeden Stein.“ Und: „Freie Wahlen“.

30.10.: „Mit dem Fahrrad durch Europa, aber nicht als alter Opa“ (Anmerkung: grundsätzlich durften in der DDR nur Rentner in den Westen fahren). Die Demos führten ja immer an der sog. Runden Ecke, der Stasi-Bezirkszentrale vorbei. Diesmal also hier der Sprechchor: „Macht daraus ein Krankenhaus“. Und aus dem Motto des Kommunistischen Manifests, das man täglich vorn im Neuen Deutschland las: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ wird nun: „Privilegierte aller Länder, beseitigt euch.“

6. 11: „Deutschland einig Vaterland.“ Am 9. 11 .fällt die Mauer.
13.11.: „SED, das tut weh“ und wieder: „Deutschland einig Vaterland.“

Nun unterbreche ich die Reihe der Montagsdemonstrationen, denn am 18.11., einem Sonnabend, veranstaltet das Neue Forum seine erste Demonstration in Leipzig. Es gibt eine ordentliche Tribüne und eine ordentliche Lautsprecheranlage, und ein Plakat daneben: „SED und Stasi lacht: Volk durch Visa besoffen gemacht.“ Mit anderen Worten: die Maueröffnung wird als Trick der SED diskreditiert, mit dem sie die Demokratisierung der DDR verhindern wolle. Diese seltsame Verschwörungstheorie riss den Graben auf zwischen dem Neuen Forum und dem Volk und führte zu dem verheerenden Wahlergebnis von 2,9% für Bündnis 90, also Neues Forum, Demokratie jetzt und Initiative für Frieden und Menschenrechte.

20.11.: „Wir brauchen die SED wie die Fische das Fahrrad“ und: „Solange nicht das Volk regiert, wird hier in Leipzig demonstriert.“

27.11.: „Lasst euch nicht verkohlen, die SED ist schuld und nicht die Polen.“ Hintergrund: die SED hatte, nicht ganz ohne Erfolg, in den letzten Jahren die Behauptung gestreut, die Polen würden in der DDR die Geschäfte leerkaufen. Sie hatte also die eigene ökonomische Unfähigkeit auf die Polen abgewälzt. Auf den Gedanken, dass in einer normalen Volkswirtschaft alle glücklich sind, wenn die Geschäfte leergekauft werden – dann werden sie eben am nächsten Tag wieder gefüllt -, kam schon niemand mehr. Diese Losung rückt das zurecht. In der Folgezeit allerdings rückte an die Stelle der Polen die Treuhandanstalt. Bis heute wird von vielen Ostdeutschen ihr und nicht der SED der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft zugeschrieben.
Am 4.12. wird in Erfurt die erste Stasi-Bezirkszentrale von Bürgern besetzt. Am Abend des 4.12. wird auch die Runde Ecke in Leipzig gestürmt.
Die Herbstrevolution war eine Revolution ohne Kopf, ohne Organisation und ohne Lied.

Ohne Kopf und ohne Organisation, das erwies sich als Vorteil. Man konnte die Sache nicht abwürgen, indem man die Rädelsführer verhaftete, denn es gab sie nicht. Ohne Lied, das stimmt nicht ganz. Nach der Melodie „Ja, wir san mitm Radi da“ wurde nämlich in den Montagsdemonstrationen immer wieder mal die Stasi besungen. 23.10.: „Stasi in den Tagebau“ und „Stasi in die Volkswirtschaft“. 4.12.: „Stasi, deine Zeit ist um“ und: „Stasi in den eignen Knast.“

Nach dem 16.9. war die Teilnahme an den Montagsdemonstrationen nicht mehr gefährlich. Am Ende gab es organisierte Busreisen aus Westdeutschland zur Montagsdemonstration. Und trotzdem blieben sie wichtig, weil sich hier neue politische Bewegungen vorstellten und artikulierten. Aber seit Anfang Dezember wurden die Runden Tische wichtiger, an denen landesweit die alten und die neuen politischen Kräfte um die Gestaltung des Übergangs und zukünftige Machtpositionen rangen. Der Runde Tisch, eine polnische Erfindung zum Ausstieg aus der sozialistischen Diktatur, hat sich bestens bewährt als Institution des Übergangs. Bereits seit Mitte Oktober waren sogenannte Sicherheitspartnerschaften zwischen den für die Demonstrationen Verantwortlichen und Teilen der Sicherheitskräfte geschlossen worden. Zuerst war die Polizei bereit, mit den Bürgerrechtlern zu kooperieren (auch um ihre Haut zu retten). Bei der Besetzung der Stasizentralen war neben der Polizei oft auch die Staatsanwaltschaft auf Seiten der Bürgerrechtler dabei, obwohl sie zuvor ein willfähriges Instrument der Repression war. Es war aber natürlich von Vorteil für den politischen Wandel, dass sich das Regime in seine Teile zerlegte, und dass die Auflösung der Stasi den Schein eines staatlichen Akts erhielt. Am 24.1.1990 demonstrierte in Leipzig die Polizei unter der Losung: „Auch wir sind das Volk.“

Die Losung einer sehr späten Montagsdemonstration schrieb noch einmal Geschichte, die vom 12.2.1990: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr.“ In Bonn konnte man das durchaus als Drohung empfinden. Man musste eine schnelle Währungsunion ins Auge fassen.
Zum Schluss möchte ich ein paar unabweisbare Fragen zu beantworten versuchen.

1. Wer hatte die Befehlsgewalt in Leipzig?

Der Vertreter des erkrankten SED-Bezirkschefs, Hackenberg, der aber keine Weisungen erteilt hat; der Chef der Polizei, der mit dem Innenminister Dickel in Kontakt stand, und der Stasi-Chef Hummitzsch, der ebenfalls mit seinem Minister Mielke in Kontakt stand. Es stimmt also nicht, dass es ein Befehlsvakuum gab. Allerdings hat Egon Krenz als Honeckers Vertreter sich trotz Anfragen erst sehr spät gemeldet, als nämlich alles vorbei war. Das hat der Polizeichef grimmig mit den Worten kommentiert: „nu sinse rum“, auf Hochdeutsch: da die Demonstration nun einmal um den Ring gelaufen ist und sich gerade auflöst, können wir die Ratschläge von Krenz nicht mehr gebrauchen.

2. Gab es am 9.10. einen Schießbefehl?

Ich antworte: Eher nein. Das Gerücht wurde zur Einschüchterung verbreitet. Aber nur die Offiziere waren mit Pistolen ausgestattet. Jedoch hat Honecker erst am 13. 10., angeordnet, dass auf Demonstranten nicht geschossen werden soll. Und erst am 4.12. hat der Leipziger Stasi-Chef die Entwaffnung der Stasimitarbeiter angeordnet. Hummitzsch hat behauptet, Mielke hätte ihn am 9. Oktober mehrfach angerufen und gefordert: nicht auf Demonstranten schießen. Die Behauptung dürfte wohl definitiv nicht mehr überprüfbar sein.

3. Welche Rolle hat die Sowjetunion gespielt?

Gorbatschow hatte ja die Breshnew-Doktrin ausdrücklich aufgehoben und erklärt, die Sowjetunion werde sich nicht in innere Angelegenheiten sozialistischer Staaten einmischen. Helmut Kohl hat mir erzählt, nach der Maueröffnung habe Gorbatschow bei George Bush sen., Frau Thatcher und ihm angerufen und gefragt, wie sie die Lage in Berlin einschätzen. Alle haben erklärt, sie sei volksfestartig. Daraufhin habe er den Behauptungen sowjetischer Stellen in der DDR, die Sicherheit der sowjetischen Truppen sei gefährdet, keinen Glauben geschenkt. Inzwischen wissen wir aber, dass der zuständige sowjetische Kommandeur der örtlichen Streitkräfte in Plauen der dortigen SED seine Hilfe angeboten hat. Und der Armeegeneral Snetzkow hat Egon Krenz am 23. Oktober die Hilfe der sowjetischen Truppen angeboten, falls es zu Chaos kommt.

Lenin soll einmal über die Deutschen gespottet haben, wenn sie einen Zug stürmen wollen, kaufen sie vorher eine Bahnsteigkarte. Im Herbst 1989 war ja alles noch viel schlimmer. Man demonstrierte erst nach Feierabend und nur einmal die Woche. Keine Scheibe geht kaputt und nach der Demo ist die Straße so sauber wie vor der Demo. Das soll eine Revolution sein? In Wahrheit war das das Geheimnis des Erfolgs. Die SED war so sehr auf ihr Feindbild fixiert, dass sie völlig durcheinander kam, als sich zeigte, dass der Feind dem Feindbild so ganz und gar nicht entspricht. Im Sommer 1989 haben Arbeiterkampfgruppen geübt unter dem Szenario: „Kirchliche Gruppen besetzen das Rathaus.“ Sie konnten sich nun einmal Revolution nur so vorstellen, wie sie sie gemacht hätten: jedenfalls blutig. Als ihr Feindbild durcheinanderkam, hat sie das richtiggehend gelähmt.

Hunderte von Angehörigen der Arbeiterkampfgruppen und der Nationalen Volksarmee haben im Herbst 1989 den Einsatzbefehl gegen Demonstranten verweigert. Sie haben gesagt: wir sollen die Konterrevolution bekämpfen, aber wir wissen doch, dass in Leipzig unsere Kollegen und nicht die Konterrevolution demonstriert.


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