Jun 272015
 

Die Bibel kennt den Schuldenerlass in jedem siebten Jahr. Politische Initiativen knüpfen an diese Tradition an. Die Kirchen aber schweigen.

Von Christoph Fleischmann

Keine Frage: Schulden muss man zurückzahlen. Da ist jemand eine Verpflichtung eingegangen, wenn er Geld aufgenommen hat; es ist seine Schuldigkeit, die Schuld zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu begleichen. So die verbreitete Vorstellung. Die ökonomischen Schulden werden oft auch mit einer moralischen Schuld verknüpft – vor allem dann, wenn der Schuldner nicht in vollem Umfang oder zur vereinbarten Zeit rückzahlen kann. Genau dies spielt auch in der Debatte um die griechischen Staatsschulden eine Rolle.

Keine Frage: Schulden muss man erlassen – in regelmäßigen Abständen, immer wieder. Die Christen, die sich sonntags in den Gottesdiensten versammeln, verpflichten sich dabei jedes Mal auf einen Schuldenerlass. Sie bitten im »Vaterunser« um die Vergebung ihrer Schuld bei Gott und erklären zugleich, dass sie selbst bereits ihren Schuldnern die Schulden erlassen haben oder das zumindest zu tun gedenken: »wie auch wir vergeben unsern Schuldigern«. Das im 16. Jahrhundert sehr gebräuchliche Wort »Schuldiger« bedeutet wie das griechische Wort, das es übersetzt, zuerst den ökonomischen Schuldner. Doch kaum einer, der das Vaterunser betet, denkt noch daran.

Es soll kein Armer unter euch sein

Dabei legt die biblische Tradition es durchaus nahe, in den Schuldnern aus der Vaterunser-Bitte auch und gerade ökonomische Schuldner zu sehen. Denn dass Schuldner in regelmäßigen Abständen entschuldet werden sollen, ist ein biblisches Gebot, Im Buch Deuteronomium, dem fünften Buch Mose, werden ältere Gesetzestexte zusammengefasst zur Forderung nach einem Schuldenerlass in jedem siebten Jahr, »Erlassjahr« genannt. Ein Freibrief für eine laxe Zahlungsmoral? Vielleicht. Jedenfalls werden potenzielle Gläubiger ermahnt, nicht mit Blick auf ein bald kommendes Erlassjahr Kredite zu verweigern. Sie werden vielmehr aufgefordert, trotzdem großzügig gegen Pfand zu leihen – und damit sehenden Auges einen Kredit abzuschreiben.

»Wenn Ihr nur denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon?«, fragt Jesus von Nazareth im Lukasevangelium. Das ist eine offene Aufforderung, Kredite auch auf das Risiko hin zu vergeben, sie abschreiben zu müssen. Wobei nur am Rande erwähnt sei, dass ein Zins für Kredite nach dem biblischen Gesetz natürlich nicht vorgesehen war; nicht mal den Darlehensbetrag solle man zurückerwarten.

Außerdem sah das Erlassjahrgesetz vor, dass Menschen, die sich wegen ihrer Schulden versklaven mussten, wieder freizulassen sind – und dazu ein ordentliches Startkapital mit auf den Weg bekommen sollten. »Und wenn du ihn freigibst, sollst du ihn nicht mit leeren Händen von dir gehen lassen, sondern du sollst ihm aufladen von deinen Schafen, von deiner Tenne, von deiner Kelter, sodass du gibst von dem, womit dich der Herr, dein Gott, gesegnet hat.« Und ähnlich der Vaterunser-Bitte wird ein Zusammenhang zwischen der erfahrenen Gnade durch Gott und dem Schuldenerlass hergestellt: Erinnert wird daran, dass auch die Vorfahren Sklaven waren und sich über ihre Freilassung gefreut hatten: »Du sollst daran denken, dass du auch Knecht warst in Ägyptenland und der Herr, dein Gott, dich erlöst hat; darum gebiete ich dir solches heute.«

Im Gesetz aus dem Buch Deuteronomium steht auch, worauf es abzielt: »Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein; denn der Herr wird dich segnen in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, zum Erbe geben wird.« Die Zuwendung Gottes zu allen Israeliten soll sich in einer Gemeinschaft widerspiegeln, die keinen verarmen lässt. Weniger theologisch gesagt: Es geht um eine Sozialgesetzgebung, die eine Scherenentwicklung zwischen Armen und Reichen in der Gesellschaft verhindern soll. Verschuldung war in der antiken Agrargesellschaft eine wesentliche Ursache für Verarmung. Belege aus dem Buch Nehemia und aus römischer Zeit zeigen zudem, dass der Schuldenerlass nicht nur eine Gesetz gewordene Utopie geblieben ist, sondern durchaus zur Anwendung gekommen ist.

Doch kann man Gesetze einer Agrargesellschaft einfach in die heutige Zeit übertragen? Für Jürgen Kaiser von der Initiative erlassjahr.de bietet das alte Gesetz durchaus praktikable Richtlinien für heute: Der feste Rhythmus der sieben Jahre institutionalisiere den Schuldenerlass und mache ihn unabhängig vom Wohlwollen der Gläubiger. Mit dem rechtlichen Anspruch erhalte das »Überleben des Schuldners in Würde« eine Priorität gegenüber den Ansprüchen der Gläubiger. Das moderne Privatinsolvenzrecht enthalte bereits Elemente der biblischen Gesetzgebung, sagt Kaiser: Wie das Erlassjahr sei es ein gesetzlicher Mechanismus, mit Schulden menschlich umzugehen. Es begrenze die Ansprüche des Gläubigers, wenn das Überleben des Schuldners gefährdet sei; ein Existenzminimum werde unabhängig von der Höhe der Gläubigeransprüche pfändungsfrei gestellt.

Das Londoner Schuldenabkommen

Der Verein erlassjahr.de macht sich schon länger für ein Staatsinsolvenzverfahren stark. Bislang konnten nur Unternehmen und Privatpersonen Insolvenz anmelden. Staaten galten als ewige Schuldner, von denen man noch die Schulden der vorherigen und der vorvorherigen Generationen einfordern kann. In der neuen Kampagne »Höchste Zeit für die Lösung der Schuldenkrise« wirbt erlassjahr.de dafür, ein Staatsinsolvenzverfahren im Rahmen der Vereinten Nationen zu etabliere.

Und Griechenland? Klar, auch Griechenland brauche einen Schuldenschnitt, damit es wirtschaftlich gesunden könne, ist Kaiser überzeugt. Erlassjahr.de erinnert an ein historisches Beispiel, das Deutschland zu mehr Großzügigkeit animieren sollte: Im Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 wurden Deutschland von den Kriegsgegnern fünfzig Prozent der Auslandsschulden erlassen; und für die weiteren fünfzig Prozent wurden günstige Rückzahlungsbedingungen gewährt. Deutschland hätte seinen Schuldendienst gegenüber den Gläubigern aussetzen können, wenn es eine negative Handelsbilanz gehabt hätte, also von den Gläubigerländern mehr importiert als dorthin exportiert hätte. Diese Bestimmung hat – sozusagen präventiv – dafür gesorgt, dass die Gläubigerstaaten viel aus Deutschland importierten, eine wichtige Voraussetzung für das »Wirtschaftswunder« und die starke Exportorientierung der deutschen Wirtschaft. Eine Regelung, die auch für Griechenland sehr hilfreich wäre, findet Jürgen Kaiser: erst die wirtschaftliche Erholung, dann der Schuldendienst.

Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen aber spielt das Londoner Abkommen keine Rolle, die meisten kennen es nicht einmal. Dafür hält sich das Selbstbild von den fleißigen Deutschen, die sich den Aufschwung nach dem Krieg selbst erarbeitet hätten. Keiner bedenkt, »dass du auch Knecht warst in Ägyptenland und der Herr, dein Gott, dich erlöst hat«. Keiner erinnert sich an die Wohltaten der Vergangenheit, die Griechenland heute nicht gewährt werden.

Erlassjahr 2000 – schon vergessen?

Und die Kirchen? Auch sie erinnern nicht daran. Sie sind merkwürdig still, wenn es um die Schuldenkrise in Europa geht. Selbst im ökumenischen Sozialpapier vom letzten Jahr findet sich zum Thema EU-Krisenstaaten nur der verhältnismäßig blasse Satz: »Wir sehen mit großer Sorge, dass in einigen Euro-Ländern die Ausgabenkürzungen zur Haushaltskonsolidierung zu schweren sozialen Verwerfungen geführt haben.« Von Schuldenerlass kein Wort, dafür eine grundsätzliche Zustimmung zur deutschen Politik der »Haushaltskonsolidierung«.

Das überrascht: In den 1990er-Jahren, als es um die Schulden von Entwicklungsländern ging, war »Erlassjahr 2000« eine große Bewegung und die Kirchen ein wichtiger Teil von ihr. Es schien Common Sense zu sein, dass die Botschaft von der Vergebung durch Gott und ein Schuldenerlass zusammengehören. An den theologischen Grundlagen hat sich auch heute nichts geändert, wohl aber an der politischen Stimmung im Land.

Offensichtlich haben sich die Kirchen dieser Stimmung angepasst. Während man sich bei den Schulden der Entwicklungsländer nicht mehr dafür interessierte, wer die Geldgeber im Detail waren, bekommt man im Fall der südeuropäischen Schuldenstaaten gesagt, dass sie auf »unsere Kosten« leben würden. Ist der Schuldenerlass kein Thema mehr, weil es nun vermeintlich um »unser Geld« geht?

Die Kirchen haben sich jedoch auch in ihrer ethischen Bewertung den derzeit geltenden Standards angepasst. Staaten mit hohen Schuldenständen gelten als »schuldig«: Sie würden auf Kosten der Zukunft leben, heißt es. Dabei wird freilich nicht bedacht, dass die Schulden der einen die Vermögen der anderen sind. Sind die Gläubiger dann nicht an diesem Raub an Zukunftsmöglichkeiten beteiligt? Sie hoffen doch ebenfalls auf künftige Gewinne aus ihren Investments. Die Festlegung der Zukunft zum möglichst effektiven Gelderwerb betreiben Schuldner und Gläubiger gemeinsam.

Und Gläubiger sind die Kirchen auch. Das Investitionsvolumen der beiden großen Kirchen in Deutschland wird auf rund sechzig Milliarden Euro geschätzt – eine vermutlich noch sehr konservative Schätzung. Der Vorsitzende einer kirchlichen Stiftung verriet im vertraulichen Gespräch, dass man natürlich auch mit griechischen Staatsanleihen Geld verdienen konnte – wenn man sie rechtzeitig wieder verkauft hat. Aber selbst wenn keine griechischen Anleihen im Aktienportfolio waren oder sind – die Kirchen sind große Investoren.

So ist dem kirchlichen Führungspersonal in der Regel eine Moral, die den Schuldner zur Begleichung seiner Schuld anhält, angenehmer als das großzügige Abschreiben der Kredite, um anderen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen – und das, obwohl auch sie am Sonntag beten: »wie auch wir vergeben unsern Schuldigern«

Christoph Fleischmann, geboren 1971, ist freier Journalist und Hörfunk-Moderator, evangelischer Theologe sowie Autor des Buches »Gewinn in alle Ewigkeit – Kapitalismus als Religion«. Rotpunkt Verlag Zürich. 250 Seiten. 24,50

Publik Forum | Nummer 4 | 2015 | Seite 27 bis 29


Ein Selbstmord führt zum Umdenken

»Schulden werden heute zwar in den meisten Fällen nicht mit brutaler Gewalt eingetrieben, dennoch werden Menschen durch die Maßnahmen zur Beitreibung der Schulden an Leib und Seele verletzt. Manche werden sogar um ihr Leben gebracht wie Amaia Eguna aus dem Baskenland, die aus ihrer Wohnung in der vierten Etage in den Tod sprang, als der Schlüsseldienst sich an ihrer Tür zu schaffen machte, um dem Gerichtsvollzieher die Zwangsräumung zu ermöglichen. So tragisch das Beispiel ist, so ermutigend sind zugleich die Konsequenzen, die Amaia Eguna und andere Opfer ausgelöst haben …

Eine Bank im Baskenland versprach, auf Zwangsvollstreckungen zu verzichten. Der Bürgermeister eines Städtchens in der Provinz Cordoba wies seine Polizei an, keine Zwangsräumungen mehr durchzuführen; er übernahm dafür die Verantwortung. Ein anderer Bürgermeister entzog einer Bank 1,5 Millionen Euro, weil sie nicht auf den Hungerstreik einer Frau reagierte, die ihre Wohnung verlassen sollte. Die größte spanische Polizeigewerkschaft sicherte den Polizisten juristische Hilfe zu, sollten sie sich weigern, an Zwangsvollstreckungsmaßnahmen teilzunehmen.«

Aus: Marlene Crüsemann/Claudia Janssen/Ulrike Metternich (Hg.): Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen. Festschrift für Luise Schottroff (die kürzlich gestorben ist). Gütersloher Verlagshaus. 422 Seiten. 34,99 €


Erlassjahr

Das Erlassjahr (hebr. schenat hajobel; auch Halljahr, Jobeljahr, Jubeljahr, Freijahr oder Jahr der Freilassung) ist ein Gebot der Tora (Lev 25,8-55 EU): Jedes 50. Jahr nach dem siebten von sieben Sabbatjahren, also nach jeweils 49 Jahren, sollten die Israeliten ihren untergebenen Volksangehörigen einen vollständigen Schuldenerlass gewähren, ihnen ihr Erbland zurückgeben (Bodenreform) und Schuldsklaverei aufheben. Der Alternativbegriff Jubeljahr wurde seit 1300 für kirchliche Aufrufe zu einem Ablass-Jahr üblich, bei dem es um Sündenvergebung geht.

Seit den 1990er Jahren beziehen sich viele entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisationen auf den biblischen Begriff „Erlassjahr“, um eine umfassende Entschuldung für Hochverschuldete Entwicklungsländer und eine Reform internationaler Insolvenzverfahren zwischen Staaten zu fordern. Aktuell ist das Bündnis Erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung international tätig. mehr


Londoner Schuldenabkommen

Mit dem Londoner Schuldenabkommen (auch: Abkommen über deutsche Auslandsschulden), das nach langwierigen Verhandlungen am 27. Februar 1953 unterzeichnet und am 24. August 1953 ratifiziert wurde, erklärte die Bundesrepublik Deutschland, Teile der Vorkriegsschulden zu begleichen. Gekoppelt damit wurde die Teilrückzahlung von Nachkriegsschulden an die drei westlichen Besatzungsmächte vereinbart. Die vereinbarte Gesamtsumme belief sich auf 13,73 Milliarden D-Mark und bezog die Forderungen von 70 Staaten ein, von denen 21 als Verhandlungsteilnehmer und Vertragsunterzeichner unmittelbar in Erscheinung traten. Länder des Ostblocks waren nicht beteiligt; weder leistete die DDR Zahlungen noch wurden die Ansprüche der Ostblockstaaten überhaupt berücksichtigt.

Unter der Verhandlungsführung von Hermann Josef Abs konnte die deutsche Delegation einen hohen Schuldennachlass erreichen. Alle ausstehenden Forderungen auf Reparationen wurden im Londoner Abkommen bis zu dem Zeitpunkt einer endgültigen Regelung zurückgestellt (Artikel 5 Abs. 2); für gewöhnlich sollten sie damit bis zum Abschluss eines förmlichen Friedensvertrags – eine wörtliche Bezugnahme auf diesen fehlt allerdings – aufgeschoben werden, der jedoch nie geschlossen wurde: 1990 wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag „anstatt eines Friedensvertrages“ unterzeichnet. Daraus ergibt sich, dass die Reparationsfrage nach dem Willen der Vertragspartner – der vier Siegermächte sowie der beiden deutschen Staaten – nicht mehr geregelt werden sollte.

Parallel hierzu wurde das Luxemburger Abkommen verhandelt, in dem die Rückerstattung von Vermögenswerten für Verfolgte des NS-Regimes vereinbart wurde. Die Ratifizierung des Londoner Schuldenabkommens und des Luxemburger Abkommens waren politische Vorbedingungen, um den Besatzungsstatus aufzuheben und die Souveränität der Bundesrepublik herbeizuführen. mehr


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