Jun 282015
 

Von der Notwendigkeit und den Schwierigkeiten
(interkultureller) Sinngebungsprozesse
 

Von Klaus A. Baier 

Inhalt

1. Sinngebungsprozesse und Weltverstehen
   1.1. Lebensform 
   1.2. Kultur
   1.3. Weltbilder 
   1.4. Meine Hypothese 
2. Zur Komplementarität von Glauben und Wissen
   2.1. Religion 
   2.2. Philosophie
3. Die okzidentale Trennung von Glaube und Wissen
4. Die sich aus Trennung von Glaube und Wissen ergebenden Schwierigkeit interkultureller Sinngebungsprozesse
5. Von der Notwendigkeit interkultureller Sinngebungsprozesse
   5.1. Die Wiederentdeckung des im Glauben enthaltenen Vernunftpotentials 
   5.2. Dialog über Lebensformen
   5.3. Glaube und Wissen interkulturell

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Wir nähern uns dem Ende dieser Ringvorlesung über Glaube und Wissen. Bernd Weidmann interpretierte uns vorigen Montag den Satz von Karl Jaspers: „Der philosophische Glaube, der Glaube des denkenden Menschen, hat jederzeit das Merkmal, dass er nur im Bunde mit dem Wissen ist.“ Wenn das gilt, dann auch dies: „Das philosophische Wissen, das Wissen des denkenden Menschen, hat jederzeit das Merkmal, dass es nur im Bunde mit dem Glauben ist.“ Wie das mit der Notwendigkeit und den Schwierigkeiten (interkultureller) Sinngebungsprozesse zusammengeht, ist Thema der heutigen Vorlesung.

Was ist ein Sinngebungsprozess? Darunter versteht man ganz allgemein Prozesse, die darauf aus sind, sowohl in Bezug auf das menschliche Leben als auch auf die Produkte des Lebens (Texte, Kunstwerke, Gesellschaftsverträge, Gesetze usw.) Formen zu entwickeln, die in sich eine Richtung und Bestimmung tragen. Kulturprodukte haben Sinn, weil sie sich nachvollziehen lassen. Das Leben hat Sinn, wenn der Lebensweg in Richtung und Ziel bestimmt ist.[1] Er ist ein Konstrukt des menschlichen Geistes. Er liegt nicht in einer Sache oder einem Ereignis. Nichts ist an sich sinnvoll, sondern wir finden etwas sinnvoll.[2]

1. Sinngebungsprozesse und „Weltverstehen“

Wenn ich nun über interkulturelle Sinngebungsprozesse spreche, so gehe ich davon aus, dass wir als in global vernetzten Lebenszusammenhängen handelnde (und das impliziert: denkende) Subjekte Sinnzusammenhänge schaffen müssen, soziale Regularitäten, Konventionen, also Lebensformen, die dem gemeinsamen Leben auf Erden einen Sinn, ein Ziel, eine Orientierung zu geben vermögen. Sinngebungsprozesse generieren Lebensformen.

1.1. „Lebensform“

Unter einer Lebensform verstehe ich (mit Ludwig Wittgenstein) das, was diejenigen, die übereingekommen sind, „Welt“ in einer bestimmten Weise als ihre Welt zu begreifen, als „Tatsache“ ansehen.[3] Eine „Lebensform“ ist die für eine (beliebig kleine oder große) Gruppe von Menschen selbstverständlich und unbefragt vorausgesetzte Praxis, die “ jeder Rechtfertigung und Begründung vorausgeht“[4]. Sie vollzieht sich in einem „Bedeutungsraum“ (Martin Heidegger), innerhalb dessen man sich „versteht“, weiß, was vom anderen zu erwarten ist, die Regeln kennt, die Konventionen, das Geflecht des Commonsense, kurz: als was etwas zu gelten und in welchem Beziehungsgeflecht es seinen Ort hat.[5] So entsteht ein lebensweltlicher Zusammenhang, der dadurch seine Kohärenz gewinnt, dass „Alles“ aufeinander verwiesen ist.

1.2. Kultur

Eine Lebenswelt entsteht nicht in einem ungeschichtlichen Raum, sondern ist kulturell geprägt. Wenn man darüber kommuniziert, als was man die Welt sehen will, tut man das in einem „Kultur-Raum“, in den man hineingeboren und in dem man erzogen wird.

Was wir „Kultur“ nennen, ist eine höchst lebendige und niemals zu einem Abschluss gelangende Gesamtheit gesellschaftlicher Sinngebungsstrategien und Sinngebungsprozesse. Die Sinngebung dreht sich um die Frage: „Wo stehe ich in dieser Welt?“ Oder anders formuliert: „Wie sehe ich die Welt, was für eine Landschaft des Lebens baue ich mir und wo stelle ich mich darin hin?“[6] Was wir als Welt bezeichnen, ist „eine Erfahrung und eine Konstruktion“, die sich in „Weltbildern“ äußert, durch die ich wiederum die Welt als je meine Welt verstehe, in der ich mich verorte und – angesichts der Unwägbarkeiten des Daseins – einigermaßen geborgen fühlen kann.[7]

1.3. Weltbilder

Es braucht nicht viel Phantasie, um zu ermessen, wie lebensnotwendig solche Sinngebungsprozesse und die daraus entstehenden Weltbilder für den Einzelnen und eine Gesellschaft sind. Und es bedarf auch keiner besonderen Vorstellungskraft, um die Konflikte zu ermessen, die aufbrechen können, wenn es – zum Beispiel durch die Begegnung mit Menschen, die andere Weltbilder haben, anders handeln und denken, andere Werte vertreten usw. – zu Irritationen und Auseinandersetzungen darum kommt, wie man leben und sich verhalten soll.

Denn ein Weltbilder ist für uns Menschen so etwas wie das „Haus des Seins“ – von der Sprache bis zur wortlosen Geste, von der „Wiege bis zur Bahre“, in Handel und Wandel birgt es uns, gibt uns Sicherheit und Stärke, Vertrautheit und Heimat. Die Dynamik eines Weltbildes tendiert darum aufs Ganze. Es umfasst „Alles“, es leitet die Perspektive, mit der wir auf „die Welt“ blicken und sie (wissenschaftlich) zu vermessen suchen. Die einem Weltbild innewohnende Vernunft drängt darum zum allumfassenden Verbinden – auf das Einswerden der Welt und also auf die Einheit der Menschheit. Wird es der Menschheit gelingen, Lebensformen zu finden, die eine Pluralität von Weltbildern nicht nur zulassen, sondern vielmehr als Bereicherung ansehen? Kann es ein allumfassendes Verbinden in versöhnter Verschiedenheit und Vielheit geben?

Kurz: Sinngebungsprozesse haben eine Lebensform zum Ziel, die dem Leben aller dient. Ich meine damit die Zivilisation und die Humanisierung des Menschen, seine Freiheit, seine Offenheit für die Erfahrung des Anderen und des Andersseins und damit die restlose und grenzenlose Kommunikationsbereitschaft. Aber damit nehme ich den Ausblick dieses Vortrages schon vorweg und wende mich zunächst einmal den Schwierigkeiten zu, die diesem Ziel entgegenstehen. Und die beginnen schon damit, dass wir uns im Westen im Unterschied zur Mehrzahl der Menschen in nicht-westlichen Kulturen daran gewöhnt haben, Glauben und Wissen für diametral entgegengesetzte „Gestalten des Geistes“[8] zu halten.

1.4. Meine Hypothese

Im folgenden will ich eine der m. E. größten Schwierigkeiten, die sich interkulturellen Sinngebungsprozessen widersetzen, etwas genauer ins Auge fassen. Das ist selbst ein schwieriges Unterfangen, denn je nach kulturellem Lebenszusammenhang, manchmal auch innerhalb einer nationalen Gesellschaft divergieren die Chancen oder die Widrigkeiten für interkulturelle Sinngebungsprozesse außerordentlich stark.

In Nordkorea und in manchen islamischen Nationen sind sie zur Zeit kaum möglich, in Libyen blockieren radikalislamische Gruppen und westlich orientierte Liberale sich gegenseitig, in Syrien und im Irak gehen sich sogar radikalislamische Gruppen an die Gurgel, in China stehen alle Religionen unter strengster Beobachtung durch einen autoritären Staat und man sucht von ihnen mitgestaltete Sinngebungsprozesse zu verhindern, in verfestigten Parallelgesellschaften wie zum Beispiel in einigen Regionen Frankreichs kommen sie nur stockend voran, in Russland liegen liberale Bürger über Kreuz mit der Vorstellung von einer „russischen Idee“, die Staat und Kirche versöhnen soll und das nationale Kollektiv dem Individualismus westlicher Prägung entgegensetzt.

Egal, wo und warum es zu Schwierigkeiten kommt, fast immer spielen Spannungen zwischen Weltanschauungen, insbesondere zwischen ihren religiösen Implikationen, eine wesentliche Rolle. Nur in diesem schmalen, aber zentralen Bereich werde ich mich heute bewegen.[9] Meine These, die ich dabei zu begründen versuche, lautet: Vieles, was sich interkulturellen Sinngebungsprozessen sonst noch in den Weg stellt – wie zum Beispiel Sprache, Machtverhältnisse, Gewalt, Lebensbedingungen, psychische Faktoren u.v.m. – hat seinen Grund in dem Unterschied des westlich-abendländischen Weltverstehens zu allen anderen Weisen, Welt als Welt zu verstehen.

Die Kultur, in der wir „Westler“ leben, also denken, reden, miteinander feiern, handeln, uns kleiden, politisch tätig sind usw. ist im weitesten Sinne säkular. Im Unterschied zur Mehrzahl der Menschen in nicht-westlichen Kulturen hat die definitorische Trennung von Glaube und Wissen zu einem wissenschaftlichen Weltbild geführt, in dem der Glaube als ein Fremdkörper erscheint, der dem Wissen diametral entgegengesetzt ist. Das war nicht immer so und ist – wie ich gleich zeigen will – auch nicht nötig. Es ist aber fremd denen, die – aus welchen Gründen oder mit welchen Begründungen auch immer – darin eine Bedrohung, also nicht nur eine zu tolerierende Variante ihrer eigenen „Sinngebung“ meinen sehen zu müssen.

2. Zur Komplementarität von Glauben und Wissen

Unsere Vorlesungsreihe thematisiert „Glaube und Wissen“. Die Konjunktion (das „Bindewort“) „und“ stellt zwischen beiden eine Beziehung her. Erkenntnistheoretisch wird – in Anlehnung an Platon[10] – Wissen als „wahre und gerechtfertigte Meinung (englisch justified true belief)“ definiert und man versteht darunter einen „für Personen oder Gruppen verfügbaren Bestand von Fakten, Theorien und Regeln“, die „sich durch den größtmöglichen Grad an Gewissheit auszeichnen, so dass von ihrer Gültigkeit bzw. Wahrheit ausgegangen wird“[11]. Das ist eine sehr weit gefasste und für manche Erkenntnistheoretiker nicht befriedigende Definition. Aber sie hält zusammen, was später auseinanderfiel und dennoch bis heute beispielsweise in der Diskussion um die Grenzen des Wissens, das Hypothetische des Wissen, empirisches und metaphysisches Wissen usw. virulent geblieben ist. Nach dieser alten Definition kann auch das, was von einer Person oder einer Gruppe geglaubt wird, als ein Wissen verstanden werden, das sich durch einen hohen Grad an Gewissheit auszeichnet. In den Mythen aller Völker hat sich die Gewissheit um diese Beziehung zwischen Gaube und Wissen erhalten. Sie sind – unbenommen der Art und des Grundes ihrer Genese – zugunsten der Bewahrung der Lebenswelt aufeinander bezogene „Gestalten des Geistes“ und damit komplementäre Weisen des „Weltverstehens“. Die Vernunft, die sich der vom Verstand gegebenen Denkformen bedient und im Glauben die Erfahrung der Kontingenz des Daseins zur Sprache bringt, der durch kein Handeln Sinn gegeben werden kann[12], bezieht im Sinngebungsprozess „Welt und Transzendenz, Wissenschaft und Glaube, Weltgestaltung und Meditation des ewigen Seins“[13] als die zwei „Gestalten des Geistes“ dialektisch aufeinander. Erst später traten sie auseinander und schufen sich eigene institutionelle Gestalten in „Religion“ und „Philosophie“ bzw. „Wissenschaft“.

Was meine ich, wenn ich von Religionen als Gestalten von Glaube und Philosophie und Wissenschaft als Gestalten von Wissen spreche? Einige wenige Bemerkungen dazu.

2.1. Religion

Wenn Religionswissenschaftler oder Anthropologen von „Religion“ sprechen, verwenden sie einen inklusiven Begriff, der zwar bereits in der römischen Staatslehre (etwa bei Cicero) auftaucht, seine bis heute gültige Konnotation jedoch erst in der europäischen Aufklärung (ausgehend von Hume, begrifflich eindeutig erst bei Kant) bekommen hat.[14] Der Begriff meint den indianischen Schamanen ebenso wie den karibischen Voodoo-Priester, den alttestamentlichen Propheten, den chinesischen Weisen u.v.m. Ein unüberschaubare Reihe oder besser: Menge von Religionen also, geschätzt 100.000 seit der Zeit des Neandertalers um 150.000 vor heute. Der Mensch ist ein „betendes Tier“ (Alister Hardy) von Anbeginn.[15] Man kann die Fähigkeit bzw. Neigung zur „Religiosität“ daher als evolutionäres Alleinstellungsmerkmal der menschlichen Gattung ansehen. Das hat sie mit der Sprache, der Kunst, des Spiels, dem Tanz und der Musik gemein. Auch wenn es sich in ihr immer und überall um Heil und Unheil und die Beziehung zu außeralltäglichen Mächten dreht[16], so sind die Inhalte der Religiosität unendlich vielfältig, widersprüchlich und untereinander oft nicht kommunikabel.

Anders verhält es sich beim in der abendländischen Tradition entstandenen Begriff von Religion. Im alltäglichen Sprachgebrauch denken wir zumeist an eine jener Weltreligionen, die Karl Jaspers auf die sog. „Achsenzeit“ zurückführt. Mit diesem Wort bezeichnet er die Zeit zwischen 800 und 200 v. u. Z., weil er sich diese Periode als eine Achse vorstellt, um die sich – wie Jürgen Habermas anschaulich beschreibt – „die Rotation der Weltgeschichte gleichsam beschleunigt“[17], weil sich in ihr unabhängig voneinander in verschiedenen Kulturen mentale Revolutionen ereignet haben, aus denen die bis heute wirksamen religiösen Lehren und metaphysischen (ansatzweise philosophischen) Weltbilder hervorgegangen sind. In jener Zeit entstand aus den mythischen Erzählungen und rituellen Praktiken, die seit Jahrhunderttausenden von Generation zu Generation tradiert wurden, „so etwas wie ‚Religion‘ im Sinne einer ‚gestifteten‘, also in ihren historischen Ursprüngen identifizierbaren Lehre und Praxis“[18] – beispielsweise der prophetische Monotheismus und der Jahwe-Kultus in Israel, der Daoismus in China, der Buddhismus in Indien, die griechische Metaphysik im östlichen Mittelmeerraum und damit die Philosophie, die in den Dialogen Platons und den Schriften des Aristoteles ihre erste Blüte erreichte. Der Islam kam später dazu, gehört aber aufgrund seiner Verwandtschaft mit dem Juden- und Christentum und seiner im 11. Jahrhundert vollzogenen Rezeption der Philosophie von Platon und Aristoteles durchaus in diese Reihe.

Jürgen Habermas fasst den in der Achsenzeit sukzessiv vollzogenen Prozess so zusammen:

„Unter den Gesichtspunkt des kognitiven Schubs vom Mythos zum Logos rückt die Metaphysik an die Seite aller damals entstandenen Weltbilder … Sie alle ermöglichen es, die Welt von einem transzendenten Standpunkt aus als Ganzes in den Blick zu nehmen und die Flut der Phänomene von den zugrundeliegenden Wesenheiten zu unterscheiden. Und mit der Reflexion auf die Stellung des Individuums in der Welt entstand ein neues Bewußtsein von historischer Kontingenz und von der Verantwortung des handelnden Subjekts.“[19]

Die „achsenzeitlichen“ Religionen und die gleichzeitig entstehenden metaphysischen Weltbilder werden verschriftlicht, die philosophischen Inhalte tradiert, die religiösen Überlieferungen kanonisiert. Sie prägen fortan ganze Zivilisationen und leiten ihr Weltverstehen.[20] Und – das ist für die folgenden Überlegungen wichtig – sie tragen alle die Zeichen der achsenzeitlichen Revolution an und in sich, können daher – anders als jene uralten religiösen Riten und Mythen – miteinander kommunizieren. Sie sind geistesverwandt! Ganz ähnlich verhält es sich mit der auch in und seit der Achsenzeit aufblühenden Philosophie.

2.2. Philosophie

Darunter verstehe ich mit Hans Leisegang „das Streben nach Erkenntnis des Wesens und des Zusammenhangs aller Dinge und zugleich die Selbstbesinnung des Menschen auf sein eigenes Wesen, seine Stellung in dieser Welt und zu seinen Mitmenschen, um aus ihr seine Bestimmung, den Sinn und Zweck seines Daseins zu erschließen.“[21] Auch sie entspringt diesem „universalgeschichtlich entscheidende[m]“[22] Periode der Achsenzeit und bleibt für fast zwei Jahrtausende komplementär auf das, was wir „Religion“/ Glaube nennen, bezogen – insofern sie sich „immer auf dem Weg befindet, der durch alles Fragen hindurch zu einem Absoluten, Unbedingten und Ewigen hinführt“[23], aber ohne behauten zu können oder gar zu wollen, es definitiv erreicht zu haben. Während der religiöse Mensch vom Absoluten im Innersten ergriffen ist, versucht der philosophische Forscher und Denker das Weltgeheimnis zu begreifen und geht dafür bis an die Grenzen allen Erkenntnisvermögens und Wissens.[24]

Da Wissen in der Religion und in der Philosophie in den Jahren nach der Achsenzeit bis tief ins 16. Jahrhundert hinein noch nicht als Antagonismen angesehen wurden, widersprechen paradoxerweise als Wissen deklarierte Sachverhaltsbeschreibungen nicht den Glaubensdingen und umgekehrt. Ihre Wahrheit bemisst sich nach dem Vertrauen, dass man in ihre Leistung für den Zusammenhalt einer Gruppe setzt, welche Bedeutung ihr für ihr Überleben zugesprochen wird und ob sie einen Zugang zur übermenschlichen Macht vermittelt. Die Frage, ob Wissen und Glaube wahr oder falsch sind, stellt sich hier also zunächst nicht theoretisch, sondern praktisch. „‚Wahrheit‘ ist, was uns verbindet‘. Die Kommunikation ist der Ort der Wahrheit. Behauptungen, Aussagen, Bekenntnisse sind Formen der Mitteilung, … die allein durch die Bewährung in der Kommunikation spricht.“[25]

Schon seit Platon rückte dann bald die Frage nach der theoretischen Begründung nach vorn. Bei ihm findet sich die Unterscheidung zwischen noesis und dianoia. Noesis als das „intuitive Schauen der Ideen“ bezeichnet das Vermögen, das Seiende in seinem Wesen zu erkennen, während dianoia die begriffliche, methodischdiskursive Weise der Erkenntnis meint. Noch richtet sich das Bemühen um die Wahrheit des Gewussten nicht gegen den Glauben, wohl aber ging es ihm darum, das bloße Meinen (doxa) zu überwinden und zur Erkenntnis vorzudringen (epistomé) – es sei in Glaubens- oder Wissensdingen. Platon fordert allerdings, dass eine wahre Meinung gerechtfertigt sein muss, wenn sie Wissen darstellen soll. Auch Glaube kann in diesem Sinne eine wahre Meinung darstellen, solange der Glaubensinhalt hinreichend gerechtfertigt werden kann. Auf dieser Basis waren zwar Spannungen zwischen den Religion und Weltanschauungen selbstverständlich; meist hatten sie ihren Grund in machtpolitischen Ansprüchen. Aber sie vollzogen sich innerhalb des komplementären Verhältnisses von Glaube und Wissen, das selbst nicht in Frage stand.[26]

In ihrem komplementären Verhältnis stellt der Glaube ja nicht das Wissen in Frage, aber es zeigt ihm seine Begrenztheit auf und kann dazu anregen, eine andere Perspektive einzunehmen; das Wissen seinerseits befragt den Glauben nach seinen Gründen und nötigt ihn, das von ihm erfahrene Heil so zu formulieren, dass es das Wissen der Menschen bereichert, zu weiteren Erkenntnissen ermutigt und dem Allem vorausliegenden Triumpf des Seins über das Nichts und damit über das Geheimnis der Existenz nachzudenken.[27]

3. Die „okzidentale“ Trennung von Glaube und Wissen

Eine fundamentale Änderung bahnt sich im spätmittelalterlichen Nominalismus (im Schosse von Kirche und Theologie) an und kommt in der mitteleuropäischen Aufklärung zu einem (vorläufigen?) Ziel: Glaube und Wissen fallen seitdem auseinander. Von nun an stand anfangs noch mehr oder weniger umstritten, aber zunehmend akzeptiert fest, „dass wissenschaftliche Erkenntnis als Merkmal Evidenz“ besitzt, während „der Glaube eben durch den Mangel an Evidenz gekennzeichnet“ ist.[28]

Jetzt wird unter Wissenschaft all das verstanden, was der methodischen Erforschung der Dinge aufruht, welche zu schlechthin allgemeingültigen und experimentell jederzeit und überall für die entsprechenden Fachleute nachprüfbaren und identischen Erkenntnissen führt. Der Glaube an Gott hatte zunächst im Ethikentwurf Kants als regulative Idee einen Ort, die kritische Vernunft achtete sozusagen (noch) die ihr gesetzte Erkenntnisgrenze. Etwas später wanderte (diffus in der Romantik, dann systematisch beim frühen Schleiermacher) der Glaube ins Gefühl aus.

Die hier skizzierte, von Jürgen Habermas als „okzidentale[r] Pfad“[29] bezeichnete Trennung von Glaube und Wissen birgt für den interkulturellen Sinngebungsprozess allerlei Schwierigkeiten. Im folgenden will ich grob skizzieren, welche Probleme sich ergeben, wenn unsere westliche Kultur mit solchen aufeinandertrifft, in denen es dazu nicht oder kaum gekommen ist.

4. Die sich aus Trennung von Glaube und Wissen ergebenden  Schwierigkeit interkultureller Sinngebungsprozesse

Ich muss gar nicht theoretisch werden, um zu erklären, welche Verwerfungen das im Kontext der Globalisierung zeitigt. Ihnen ist ebenso wie mir irritierend deutlich: Wir können uns auf der Erde nicht mehr aus dem Wege gehen. Sie ist in vielerlei Hinsicht eng geworden. Die Verbreitung von Nachrichten geschieht in Lichtgeschwindigkeit, das Internet vernetzt Menschen über gesellschaftliche und kulturelle Grenzen hinweg im Bruchteil von Sekunden, die Wirtschaft eines Landes ist mit der Weltwirtschaft verwoben, politische Konflikte lassen sich kaum noch auf ihren lokalen Ursprung reduzieren, Migranten, Flüchtlinge und Einwanderer wirbeln gefügte Lebenszusammenhänge durcheinander und erstaunt konstatieren wir hier im Westen eine „Rückkehr der Religion“ und ihre Einwanderung in unsere „säkulare Welt“. Gläubige und Agnostiker in westlichen Gesellschaften sehen sich gleichermaßen mit einer Glaubenspraxis und religiösen Anschauungen konfrontiert, für die sie keine rechte Antenne mehr haben.

Sodann: Noch vor fünfzig/ sechzig Jahren waren andere Kulturen weitgehend Gegenstand westlicher Betrachtung, d.h. beispielsweise, dass sie von westlichen Ethnologen erforscht, in ihrem Verhältnis zu unserer Kultur beurteilt (z.B. als „primitiv“ oder „synkretistisch“ deklariert) und in ihrer Entwicklungsfähigkeit wahrgenommen wurden, wobei man ihre Nähe oder Ferne zur westlichen Modernität als Messlatte ansah. Als Zivilisation „galten … die europäischen Formen des wissenschaftlichen und geschichtlichen Wissens, der Moralvorstellungen, der staatlichen Ordnung, des Verbrechens und der Strafe und selbst der Kleidung“, schreibt Pankaj Mishra.[30]

Seit den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts hat sich das grundlegend geändert. Hatte es im Prozess der Entkolonialisierung eine Zeit lang so ausgesehen, als würden die Eliten der sog. Entwicklungs- bzw. Schwellenländer die westliche „Lebensform“ mit ihrer Trennung von Glaube und Wissen weitgehend übernehmen, so müssen wir heute konstatieren, dass zunehmend religiöse Perspektiven im Prozess der Sinngebung bevorzugt werden.

Einige Beispiele:

In Japan gibt es trotz (oder gerade wegen) des dort vollzogenen Säkularisationsprozesses ungefähr vierhundert neue religiöse Sekten, die Elementen des Buddhismus und volkreligiöser Traditionen mit esoterischen und pseudowissenschaftlichen Lehren vermischen und an politischem Einfluss gewinnen.[31] Individualisierung und Funktionsverlust der Religion hat also nicht automatisch ihren Bedeutungsverlust zur Folge.

Überhaupt ist der „Geschmack fürs Unendliche“ ist in westlich orientierten Gesellschaften lebendig wie lange nicht und führt dazu, dass zunehmend spirituelle Angebote wahrgenommen und neue religiöse Zirkel gegründet werden.[32]

In Afrika und Lateinamerika – aber auch in einigen Staaten der USA – nimmt eine Interpretation des christlichen Glaubens zu, die eine Rückkehr zu den alten Fundamenten als Voraussetzung für die Erneuerung „des Lebens“ im Geiste Jesu Christi fordern. Die weltweit am schnellsten wachsende christliche Gemeinschaft ist die der Pfingstler. In ihrem Kultus verbinden sie einen radikalen Endzeitglauben mit strengen Moralvorstellungen und einer wortwörtlichen Interpretation der Bibel.

In anderen Gesellschaften ist es ausschließlich ein Glaube, der alte religiöse Wurzeln regeneriert bzw. traditionelle Interpretationen einer Religion als die einzig maßgeblichen (oft mit Gewalt) durchzusetzen sucht. Ein Beispiel für diese Orientierung ist das dezentralisierte Netzwerk radikaler Muslime auf allen Kontinenten, die die moderne westlichen Werte bekämpfen (Al Qaida, Salafisten, Boko Haram, Islamischer Staat/ Kalifat, die sich alle auf den Rechtsgelehrten Ahmad ibn Taymiyya – 1263-1328 – aus Damaskus berufen[33]). Oft entbindet erst die religiöse Codierung eines profanen Konflikts das latente innergesellschaftliche Gewaltpotential, z.B. in Indien, wo Hindunationalisten am liebsten alle Muslime und Christen zwangsbekehren oder vertreiben würden.

In solchen Bewegungen (Shinkô shûkyô in Japan, Pfingstler in aller Welt, das islamistische Netzwerk Al Qaida, Boko Haram, IS, aber auch der Islam im Iran, Saudi Arabien usw., die Idee des „Neuen Russland“ von Wladimir Putin), wird die sich der europäischen Aufklärung verdankende Trennung von Glaube und Wissen infrage gestellt zugunsten einer nicht selten aggressiven religiösen Einflussnahme auf die öffentliche Meinungs- und Willensbildung und einer Ableitung politischen Handelns aus religiösen Maximen. Das macht es (neben manchem anderen) so schwer, in interkulturelle Sinngebungsprozesse einzutreten. dass sie nötig sind, ist evident. Allein deswegen, weil das Zusammenleben der Menschen auf dieser einen Erde sonst wohl noch schwieriger werden würde als ohnehin schon.

5. Von der Notwendigkeit interkultureller Sinngebungsprozesse

Bisher habe ich aus der Sicht des theologisch-philosophischen Beobachters eine der, wie ich meine, wesentlichen Ursachen zu erklären versucht, die zu diese Schwierigkeiten beitragen und was sie kennzeichnet.

Jetzt drängt sich eine ganz andere, nämlich die normative Frage eines Beteiligten auf. Und zwar eines Beteiligten, der sich den westlichen (euro-amerikanischen) Prinzipien einer guten demokratischen Praxis der Toleranz verpflichtet weiß, ohne damit in Abrede zu stellen, dass solche Prinzipien auch in anderen Kulturen vorkommen können.[34] Ich bin also „Partei“, wenn ich nun mit Habermas die normative Frage stelle, wie ich mich im interkulturellen Sinngebungsprozess oute und wofür ich mich einsetze.

Ich zitiere Habermas sinngemäß: Wie sollen wir uns als Mitglieder einer Gesellschaft verstehen, die sich in einem mehr als zweihundertjährigen Sinngebungsprozess darauf geeinigt hat, Glaube und Wissen voneinander zu trennen, nun aber feststellen, dass unsere Entscheidung von Menschen anderer Kulturen mit ernst zu nehmenden Gründen abgelehnt wird, wir aber mit ihnen gemeinsam das Leben auf dieser einen Erde „nachhaltig“ gewährleisten wollen bzw. müssen? Nötigt uns die Vitalität des Religiösen auch in westlichen Kulturen hinsichtlich dieser Trennung zu einem Bewusstseinswandel? Was müssen wir diesbezüglich reziprok voneinander erwarten, damit in und unter den Nationalstaaten[35] ein ziviler Umgang der Bürger miteinander gewahrt bleibt bzw. überhaupt erst ermöglicht wird? Und wie kann der kulturelle und weltanschauliche Pluralismus gestaltet werden, der nicht nur eine Errungenschaft der Aufklärung oder eine für manche irritierende Folge der Globalisierung ist, sondern zum Wesen des Menschen als geistigem und kommunikativen Individuum gehört, das in den unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen seinem Leben einen je eigenen Sinn geben muss?

Was Also: Was erwarten „die Anderen“ von uns? Was erwarten wir von „den Anderen“? Worauf können wir uns einigen? Die Antwort scheint mir einfach, fast schon banal. In Anlehnung an Albert Schweitzer[36] sage ich:

Wir sind Leben inmitten von Leben, das leben will, und so erwarten wir voneinander, dass wir leben können inmitten von Leben, das – wie wir – leben will.

Was kann man tun, um so leben zu können? Ich versuche unter dem Bogen unseres Themas „Glaube und Wissen“ darauf zu antworten und plädiere als erstes für einen grundsätzlichen Schritt, nämlich

5.1. Die Wiederentdeckung des im Glauben enthaltenen Vernunftpotentials

Die Unterscheidung von Glaube und Wissen darf dabei nicht rückgängig gemacht werden. Im Gegenteil: Hinsichtlich des Glaubens wäre es für uns töricht, sich nostalgisch nach dem vor-aufklärerischen Weltbild und der vor-aufklärerischen Weltordnung zurückzusehnen und zu versuchen, die kritische Unterscheidung von Glaube und Wissen zu annulieren. Das wäre mit der modernen Theologie und Philosophie auch gar nicht zu machen. Denn die sich in der Aufklärung entwickelnden und von den Kirchen als Glaubensinstitutionen emanzipierenden Rechtssysteme und die modernen empirischen Wissenschaften nötigen

a) die Theologie, die „Verklammerung der Erlösungsbotschaft mit dem kosmologischen Weltbild der Griechen“ aufzulösen, „die Ergebnisse der historischen Quellenkritik“ zu verarbeiten und mit dem „säkularen Verfassungsstaat Frieden zu schließen“[37]. Dieser Lernprozess ist nicht abgeschlossen und kann es auch nicht sein, weil die Lebenszusammenhänge, in denen wir zu denken und zu handeln genötigt sind, sich unterscheiden und verändern.[38] Die modernen Rechtssysteme und die empirischen Wissenschaften haben nun aber

b) auch die Philosophie; die mit Wissenschaft und säkularem Staat „eine Allianz einging, nicht weniger verändert; sie musste ihrerseits das metaphysische Erbe unter Anerkennung des fallibilistischen Bewusstseins einer Revision unterziehen und von den … theoretischen Ansprüchen der griechischen Metaphysik Abstand nehmen.“ [39] Wie die Theologie muss also auch die Philosophie ihre Einsichten und Methoden aufgrund der sich permanent verändernden Lebenszusammenhänge immer neu rechtfertigen. Insofern sind – wie Habermas betont – „[D]das religiöse Bewusstsein, das sich (in einem nichtkonfessionellen Sinne) ‚reformierte‘, und (kurs. K.B.) das nachmetaphysische (sc. philosophische) Denken, das, ohne defätistisch zu werden, eine Kritik ‚der ‚Vernunft‘ … erarbeitete, … am Ende komplementäre Antworten auf dieselben kognitiven Herausforderungen der aus säkularen Wissensquellen gespeisten Aufklärung.“[40] Deswegen kann es zwischen Glaube und Wissen einen auf gleicher Augenhöhe stattfindenden Dialog geben und beide können ihre Erkenntnisse, Einsichten und Perspektiven in die Sinngebungsprozesse moderner Gesellschaften einbringen.[41] Die beiden „Gestalten des Geistes“ müssen also nicht notwendig im Antagonismus verharren!

Sie verdanken sich einem ähnlichen Lernprozess und gehören deswegen beide mit ihren unterschiedlichen Traditionen zur Entstehungsgeschichte der säkularen Vernunft. Daraus ergibt sich nach Habermas: „Diese moderne Vernunft wird sich selbst nur verstehen lernen, wenn sie ihre Stellung zum zeitgenössischen, reflexiv gewordenen religiösen Bewußtsein klärt, indem sie den gemeinsamen Ursprung der beiden komplementären Gestalten des Geistes aus jenem Schub der Achsenzeit begreift.“[42] Der Bochumer Professor für katholische Fundamentaltheologe Markus Knapp folgert daraus: „In einer solchen Perspektive wird Säkularisierung also nicht mehr als fortschreitende Marginalisierung von Religion verstanden, sondern als ein Prozeß, der mit dem Erbe der Religion verwoben und auf es verwiesen bleibt.“[43]

Habermas hat jene Formen des Glaubens und der Theologie vor Augen, die in Auseinandersetzung mit der mitteleuropäischen Aufklärung entstanden sind. Da beide dieselbe geistesgeschichtliche Genealogie aufweisen, können sie miteinander kommunizieren. Das ist sicher richtig. Aber die Theologie hat anders als der philosophische Mainstream der letzten Jahrzehnte darauf bestanden, dass Glaube und Wissen wohl unterschieden, aber nicht getrennt werden dürfen. Dem stimmt Jürgen Habermas zum Erstaunen mancher seiner Fachkollegen in seiner Rede aus Anlass der Überreichung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001 und in vielen seiner Veröffentlichungen seitdem immer differenzierter zu, wenn er mit Blick auf die achsenzeitlichen Religionen (freilich mit deutlicher Vorliebe für den neuzeitlichen Protestantismus) sagte, auch für eine weitgehend säkularisierte Gesellschaft sei es vernünftig, sich nicht der Perspektive der Religion zu verschließen. Der Westen habe im Prozess der Säkularisierung, also der Trennung von Kirche und Staat, die Religion an den Rand gedrängt, sagt er in jener Rede, und fährt fort: „Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“ Wolle sich die Gesellschaft nicht von „wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden“, müsse sie sich „einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahren“. Was ist verloren gegangen?

Dazu Jürgen Habermas: Anders als der philosophischen Diskurs bewahre der Glaube unter den modernen Lebensbedingen ein Wissen um eine „archaische[n] Quelle“, die für das Weltverstehen und die Sinngebungsprozesse moderner Gesellschaften von nachhaltiger Bedeutung sei und „zu der das säkulare Denken keinen Zugang mehr“ habe.[44] Die Religion habe nämlich ein Wissen bewahrt und in der Achsenzeit zentral gestellt, das der uns Menschen bedrängend bewusst werdenden Daseinskontingenz einen Sinn zu geben vermag. Verloren gegangen oder bedroht sei insbesondere die Sensibilität und Ausdrucksmöglichkeiten für das Misslingen von Lebensentwürfen, die mögliche Verfehlung von Leben, für die fortschreitende Deformation von Lebenszusammenhängen, pathologische gesellschaftliche Entwicklungen usw.

Neben existentiellen, eher individuellen Problemen bzw. Lebensrisiken wie Geburt, Krankheit, Schuld, Liebe und Tod sind es für Habermas vor allem Fragen des solidarischen Zusammenlebens in Gerechtigkeit, im Frieden und hinsichtlich des Umgangs mit den natürlichen Ressourcen, auf die die Moderne bisher keine zufriedenstellende Antwort gefunden hat. Weder in den einzelnen Nationalstaaten noch in ihrem globalen Umgang.

Beharrt man angesichts dieser Probleme auf dem Antagonismus von Glaube und Wissen, kann die tragende Säule der Demokratie und die Attraktivität dieses Gesellschaftsmodells für andere Gesellschaften in Gefahr geraten: nämlich die Solidarität freier und verantwortlicher Bürger. Das Schwinden von gesellschaftlicher Solidarität hängt bekanntlich damit zusammen, dass sie im Zuge der funktonalen Ausdifferenzierung von Teilsystemen und der entsprechenden Exklusionen[45] nur sehr schwer zu verwirklichen ist. Gilt das schon für einigermaßen überschaubare Gesellschaften in Europa, so erst recht angesichts der im Entstehen begriffenen Weltgesellschaft mit den innergesellschaftlichen Verwerfungen und internationalen Konflikten, von denen wir tagtäglich in den Medien sehen, hören und lesen können. Es gibt bisher kein interkulturelles Ethos, das die damit einhergehende Krise zu steuern in der Lage wäre.[46] Moderne Ethiken haben einen individualistischen Zuschnitt, denn die in der Aufklärungsphilosophie generierte Vernunftmoral kennt ausschließlich Pflichten, die an das individuelle Gewissen des handelnden Subjekts gerichtet sind und die ihn als Einzelnen zur Verantwortung rufen. Die darin begründete Reichweite der Verantwortung genügt im Normalfall für ein nationales demokratisches Gemeinwesen. Aber in einer Krisensituation, die – wie am Tage ist – Lebensgrundlagen der Menschheit zu zerstören droht, eben nicht. Hier ist kollektives Handeln nötig, das sich aus anderen Quellen speist als aus dem Willen zur individuellen Pflichterfüllung und der Hoffnung auf den vernünftigen Konsens aller.

Hier kommt nun der Glaube bzw. die Religion ins Spiel. Denn Religionen, insbes. jene, die ihre Gestalt in der Achsenzeit erlangt haben und über die lokale Stammes-,Clan- oder Standesbindung hinausgehen, bewahren die Erinnerung an eine „archaische“ Erfahrung als Quelle der Solidarität, „die sich den ungläubigen Söhnen und Töchtern der Moderne verschlossen hat.“[47] Sie besteht, so Habermas, im gemeinsamen Glauben an jenes Versprechen einer ‚rettenden‘ und ‚befreienden‘ Gerechtigkeit, das sich seit der Achsenzeit in religiösen Überlieferungen und in den Praktiken des Umgangs mit Heil und Unheil artikuliert hat … Das rettende Moment der anbrechenden Gottesherrschaft (sc. im Judentum und Christentum; K.B.) oder das befreiende Moment der Erlösung vom Kreislauf der Wiedergeburten (sc. im Buddhismus, K.B.) erschöpft sich nicht im persönlichen Glück, sondern meint vor dem Hintergrund eines verbreiteten Krisenbewusstseins ein kollektives (das betont auch der Islam[48], K.B.), ja, die Menschheit im Ganzen (zu denken ist an den Harmoniebegriff im Daoismus[49], der alle Menschen einschließt, K.B.) ergreifendes Schicksal.“ Darin sieht Habermas eine „vergemeinschaftende Kraft, die Solidarität gestiftet hat.“[50] Sie kennzeichnet mehr oder weniger ausgeprägt alle „achsenzeitlichen“ Religionen.

Weil sie das religiöse Wissen um diese Tiefendimension von Solidarität und menschlicher Existenz bewahrt haben, können sie auch im Bereich des okzidentalen Wissens das Bewusstsein für „dialogische Ergänzungsmöglichkeiten[51] wecken, die zur Bewältigung der Krise der Moderne beizutragen vermögen. Es würde dadurch sein Anschlussfähigkeit an jene Lebensformen wiedergewinnen, die den Schritt zur Entgegensetzung von Glaube und Wissen nicht vollzogen haben.

Andere semantische Gehalte der Religion wären noch zu nennen: Habermas erinnert an das, was in theologischer Sprache die Geschöpflichkeit des Menschen heißt. Das Wort hält das Bewusstsein dafür wach, dass unser Dasein unaufhebbar kontingent ist, d.h. mitbestimmt von der natürlichen Abstammung und der sozialen Herkunft, niemals aus eigenem Wollen und Wirken geworden, sondern ungefragt geboren wurde, der Verfügbarkeit über sich selbst nur bedingt mächtig ist – sterben muss der Mensch in jedem Fall, ob von eigenen Hand oder hinweggerafft durch Krankheit, Katastrophe und Krieg. Da menschliches Dasein unaufhebbar kontingent ist, wir uns nicht selbst gemacht haben und uns darum letztlich entzogen bleiben, müssen alle Unterschiede zwischen Menschen, alle Versehrtheiten und Unvollkommenheiten als prinzipiell gleichwertig angesehen werden. Die gattungsethische Grundforderung einer prinzipiell jeden Menschen mit einbeziehenden Solidarität, die Forderung einer jedem Menschen geltende Gerechtigkeit, überhaupt die Menschenrechte sind letztendlich religiösen Ursprungs – auch wenn sie sich im Abendland gegen klerikales Machtstreben und bigotte Klerisei durchsetzen mussten und in anderen Religionen und Kulturen (einschließlich der römisch-katholischen Kirche, die sie bis heute theologisch nicht anerkennt) erst ansatzweise oder noch gar nicht gelten.

Selbstverständlich geht es nicht darum, dass eine säkulare Gesellschaft religiös und fromm wird. Wie immer man die gegenwärtige Rolle der Religion versteht, die definitorische und institutionelle Unterscheidung von Glaube und Wissen bleibt der Maßstab für eine angemessene Verortung der Religion in modernen Gesellschaften und ihrer staatlichen Institutionen. dass hier ein erhebliches Konfliktpotential für den interkulturellen Sinnstiftungsprozess liegt, ist evident. Der Weg zurück hinter die Aufklärung mag zwar Einzelnen verlockend erscheinen, aber er ist für die in der Achsenzeit entstandenen Religionen und Weltanschauungen keine wirkliche Option. Selbst für den Islam nicht, der uns als so fundamentalistisch erscheint, dass wir ihm nicht recht zutrauen, sich auf den Lernprozess einzulassen, der allen Religionen möglich ist und an dessen Ende die Trennung von Kirche und Staat steht, mit der – wie gezeigt – die von Glauben und Wissen nicht notwendig einhergeht.

Wie auch immer. Worauf es ankommt ist die Bereitschaft, im Glauben eine Gestalt des Geistes zu sehen, ihr in gleicher Augenhöhe zu begegnen und neugierig darauf zu sein, welchen Beitrag sie für das gemeinsame Leben in globalen Zusammenhängen leisten könn(t)en.

Eine religiöse Überzeugung hat gegenüber einer säkularen Wissenschaft freilich keine herausgehobene Bedeutung, sie kann aber mit nichtreligiösen Anschauungen als prinzipiell gleichwertig angesehen werden und man muss auch von nichtreligiösen Bürgern erwarten, im öffentlichen Sinngebungsdiskurs auf sie zu hören und ihren kognitiven Gehalt zu bedenken und zu achten. Das ist alles andere als selbstverständlich.[52] „Wenn alles gutgehen soll, müssen sich also beide Seiten, jeweils aus ihrer Sicht, auf eine Interpretation des Verhältnisses von Glauben und Wissen einlassen, die ihnen ein selbstreflexiv aufgeklärtes Miteinander möglich macht.“[53] Nur gemeinsam werden sie sich darüber verständigen, als was sie Welt verstehen wollen und was es heißt, als Mensch in der so verstandenen Welt zu sein. Dafür ist ein kommunikativer Dialog nötig und zwar, da wir in einer global vernetzten Welt leben, ein „Dialog der Zivilisationen“[54] über die Art, wie wir gemeinsam leben wollen, also: welche Lebensform lebensdienlich ist. Dazu gehört natürlich auch ein Dialog der Religionen.

Damit komme ich zum zweiten im interkulturellen Sinnfindungsprozess unausweichlichem Thema. Zum

5.2. Dialog über Lebensformen

Es geht nicht darum, ein gemeinsames, vielleicht sogar einheitliches Welt- und Selbstverständnis zu konstruieren. Es geht um die Bewältigung der gemeinsamen Aufgabe, die Welt bewohnbar zu erhalten trotz und inmitten aller unterschiedlichen Weisen, die Welt als Welt zu sehen.

Wie in den Kulturen des Westens wird sich auch in den nicht-westlichen Kontexten ein Bewusstseinswandel hinsichtlich des Verhältnisses von Glaube und Wissen vollziehen (müssen). Eine enorme denkerische Aufgabe und eine praktisch-politische Herausforderung sondergleichen für viele Gesellschaften, Nationalstaaten und Religionsgemeinschaften (vor allem deren Schulen und Universitäten). Noch ist offen, wie er von statten gehen wird.[55]

In Gesprächen mit hinduistischen und muslimischen Intellektuellen kann man häufig hören, dass sie den Westen wohl als Quelle mancher guter, aber eben auch vieler schlechter Dinge ansehen, reich an materiellen Vorzügen, aber seicht im spirituellen Bereich. Manche neigen dazu, seinen Einfluss gänzlich zu verwerfen. Und zwar mit Argumenten, die sich in den allermeisten Fällen aus religiösen Traditionen herleiten. Dabei geht die seit der Achsenzeit auch in jenen Religionen ja vorhandene Komplementarität von Glaube und Wissen ebenso verloren, wie sie in der okzidentalen Wende im Westen verloren gegangen ist. Statt des Wissens, das im Westen den Glauben marginalisiert(e), hier aber zentral gestellt wird, gerät dort das Wissen unter die Räder des Glaubens und dient seiner Durchsetzung in allen Lebensbereichen. Beide Male droht dann eine Gesellschaft in autoritäre Strukturen abzugleiten – im Extremfall in Nationalismus, Faschismus, Stalinismus und Gottesstaat.

dass das durch empirische Forschung gewonnenes „Wissen“ dem Leben dienen kann, wird wohl selbst dort, wo der Glaube die Federführung im Weltdeutungsprozess einnimmt, von niemandem bestritten, sogar von denen nicht, die – wie Islamisten im Norden Nigerias – „boko haram“ sagen: westliche Bildung ist Sünde, oder die – wie fundamentalistische Muslime in Pakistan und zunehmend in der Türkei am liebsten nur Koranschulen zulassen wollen. Das Beispiel des Iran zeigt besonders eindrücklich, wie modernes wissenschaftliches Denken und Forschen mit einer fundamentalistischen Auslegung der religiösen Tradition einhergehen kann. Naturwissenschaftliche Forschung und technisches Know-how stehen also nicht wirklich zur Debatte.

Zur Debatte stehen aber die Lebensformen, in denen etwas als etwas gewusst wird, welche Bedeutung man ihm zumisst und wie es allen am gesellschaftlichen Leben Beteiligten zugutekommen soll. In der globalisierten Welt stehen wir also vor der Herausforderung eines Pluralismus der vielfach auch von religiösen Überzeugungen und Hoffnungen gesättigten Lebensformen und Weltbilder. Hier liegen die eigentlichen Probleme, und sie zu lösen ist nicht leicht. Denn Lebensformen und Weltbilder sind – wie wir gesehen haben – mehr als zufällige Konventionen; sie sind ein „Haus des Seins“, das man gleichsam mit sich trägt, wenn man in eine andere Kultur einwandert oder mit ihr konfrontiert wird.

Dennoch gibt es zwischen all‘ diesen Lebensformen Ähnlichkeiten, sogar Gemeinsamkeiten, die ihre Wurzeln in der Achsenzeit haben Und weil das, was sich seit der Achsenzeit als „Weltverstehen“ entwickelte und sich als mentale Revolution und Ost und West durchsetzte, im Laufe der Menschheitsgeschichte global verbreitet, sind sich Menschen wegen der unterschiedlichen Lebensformen zwar fremd und bleiben es wohl auch, weil die Lebensbedingungen kontextuell so divergent sind. Diskretion gegenüber Fremden, die dem Anderen gegenüber Raum schafft, ist daher eine elementare Tugend in interkulturellen Sinngebungsprozessen[56]: Achtung vor dem Fremden als Fremdes. Fremd zu sein und bleiben zu dürfen ist ein Menschenrecht! Aber als sich der achsenzeitlichen Revolution und ihrer Geschichte verdankende Menschen können sie doch prinzipiell verstehend nachvollziehen, was es bedeutet, in einer Lebensform eine Heimat gefunden zu haben, die einen birgt.

Die Plastizität einer Sinnwelt ist immer beschränkt, sie kann nicht einfach auf Neuartiges hin moduliert werden. Sie „erhält ihre Grenzen darin, dass jenseits des Verstehens die eigenen Muster stets weiterverwendet werden, dass erst durch Vielzahl, Dauer oder Drängen von neuartigen Konfigurationen und Bedingungen einschneidendere Modifikationen greifen“; „‚besser Verstehen‘ heißt …, gerade im Gewahrsein dieser Gebundenheit[57] auf dieser einen Erde gemeinsam zu leben und sie als Lebenswelt für alles Leben, das leben will, zu gestalten. Auf Differenzen gefasst zu sein und mit ihnen zu leben wird auf Dauer auch in der „Einen Welt“ die Herausforderung der Menschheit bleiben.

5.3. Glaube und Wissen interkulturell

In diesem für das interkulturelle Zusammenleben notwendigen Verstehens- und Verständigungsprozess spielen Religion und Glaube eine eminente Rolle – auch das gehört zu den Herausforderungen, mit denen umzugehen von denen, die leben wollen inmitten von Leben, das leben will, gelernt werden muss. Dazu wird auch gehören, dass wir den okzidentalen Antagonismus von Glaube und Wissen überdenken und sie wieder als die beiden „Gestalten des Geistes“, die unsere Vernunft leiten, wahrnehmen. Was von unserer Seite aus dafür zu leisten und wie und warum der „Aufklärungsfundamentalismus“ (Habermas) überwunden werden kann, habe ich oben unter dem Stichwort „Wiederentdeckung des im Glauben enthaltenen Vernunftpotentials“ bereits gesagt.

Ich wende mich zum Schluss der Frage zu, was wir von denen erwarten müssen, für die Glaube und Wissen zwar keine Antagonismen sind, die aber zwischen beiden nicht grundsätzlich unterscheiden.

In fast allen nicht okzidental (nicht- abendländisch) geprägten Kulturen sind die Lebensformen bis in die Gesetzgebung, die Konventionen, den Commonsense usw. vom jeweiligen Glauben mitbestimmt, unbenommen der möglicherweise vorhandenen Bereitschaft und Fähigkeit zur Übernahme moderner wissenschaftlicher Methoden. Das macht solange keine Probleme, wie innergesellschaftliche oder interkulturelle Konflikte nicht religiös aufgeladen werden und dem Glauben nicht eine Art Leitkompetenz vor dem Wissen zugesprechen wird. Ist es erst einmal dazu gekommen, kann zur Bewältigung der gesellschaftlichen oder interkulturellen Spannungen nur noch wenig getan und müssen oft sogar mit polizeilichen oder militärischen Machtmitteln eingedämmt werden. Denn umgekehrt proportional zur religiösen Emotionalisierung von Konflikten schwindet die Bereitschaft zu Kompromissen. Wie man mit religiösen Fanatikern reden kann, ohne den Verstand zu verlieren, hat noch niemand so recht herausgefunden.

Um es erst gar nicht in diesen Konflikt zu geraten, müssen – erstens – in den vom Fundamentalismus gebeutelten und bedrohten Staaten zivilgesellschaftliche Voraussetzungen geschaffen werden, die die gleichmäßige Inklusion aller Bürger ebenso gewährleisten wie die Akzeptanz anderer kultureller Lebensformen. Das wird dauern, denn die dafür erforderlichen Lernprozesse müssen in manchen Regionen der Erde erst noch angeschoben werden. In Europa dauerte dieser Prozess ungefähr 300 Jahre. Erst ein demokratisch verfasster Staat wird nach allen historischen Erfahrung die unparteiische Anwendung des Prinzips der Religionsfreiheit und der freien Wahl einer Lebensform ermöglichen. Das wird – zweitens -nur gelingen, wenn auch bestimmte materielle Voraussetzungen erfüllt sind. Was Glaubensgemeinschaften im westlichen Lebenszusammenhang mehr und mehr leisten, wird – drittens – aber auch von den Gläubigen in anderen Kulturen zu leisten sein: die beiden „Gestalten des Geistes“ müssen – bei aller Bezogenheit aufeinander – voneinander unterschieden sein.

Die katholische Kirche hat sich bekanntlich erst mit dem zweiten Vatikanum 1965 dazu bekannt, den Glauben im Zuge des Reflexivwerdens des religiösen Bewusstseins neu zu denken und eine säkulare Übersetzung religiöser Potentiale eingeleitet. Die protestantische Theologie hat diesen Übersetzungsprozess auf hohem Niveau schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts begonnen. Dem Islam steht dieser schmerzhafte Lernprozess noch bevor, aber dort, wo er sich in säkularen Gesellschaften reflexiv mit seiner eigenen Tradition befasst, wird er sich verändern – noch ist weithin offen, in welcher Weise. Im Neo-Hinduismus gibt es Ansätze, die diesen Lernprozess befördern, und in China, wo man den Glauben gänzlich aus dem öffentlichen Leben zu verbannen sucht(e), nimmt die Aufgeschlossenheit für das in Religionen enthaltene Vernunftpotential neuerdings deutlich zu.

Ich hoffe, dass im Prozess der Übersetzung der je eigenen Grundüberzeugung in die vernunftgeleiteten Prinzipien moderner Gesellschaften der welterschließende Charakter von Religion und Glaube hervortritt und seine lebensdienliche Dynamik zum Wohl allen Lebens entfalten kann. Auch säkulare Menschen dürfen daher nicht von vornherein ausschließen, auch in religiösen Äußerungen Gedanken und Hoffnungen, „vielleicht sogar verschwiegene eigene Intuitionen zu entdecken, die sich übersetzen und in eine öffentliche Argumentation einbringen lassen.“[58]

Oldenburg, den 16. 01. 2015


Anmerkungen

[1] Zum hier verwendeten Sinnbegriff vgl. s.v. „Sinn des Lebens“ HWPh 9, Sp. 815-824.

[2] Sinn ist auch nicht vernünftig oder rational und es gibt auch keinen „richtigen“ oder „falschen“ Sinn. Sinn ist eine Zuschreibung, die den Prozess der Auseinandersetzung mit dem, worin einer sich vorfindet, bis auf weitere und/ oder neue Erkenntnisse und Einsichten festhält. Vgl. Kurt Spiess: Sinngebung und Change Management, in: pd.zhaw.ch/hop/1005482259/pdf.

[3] Beispielsweise übereinkommen, „dass wir so und so handeln, … gewisse Handlungen strafen, den Tatbestand so und so feststellen, Befehle geben, Berichte erstatten, Farben beschreiben, uns für die Gefühle der anderen interessieren“, Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. Werkausgabe Bd. 7. 6. Aufl. Frankfurt/ M. 1980 I, § 630. Grundsätzlich zur Unbestimmtheit dieses Begriffs bei Wittgenstein vgl. Newton Garver: Die Unbestimmtheit der Lebensform, in: Wilhelm Lütterfels und Andreas Roser (Hrsg.): Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache. Frankfurt/ M. 1999, S. 37ff.

[4] Werner Kogge: Die Grenzen des Verstehens. Kultur – Differenz – Diskretion. Weilerswist 2002, S. 86.

[5] Festzuhalten ist dabei, dass „[D]ie Lebensform kein absoluter, vorgegebener Grund (sc. ist), sondern die sich im Handeln stabilisierende Gewissheit“, „ohne die wir in einer mannigfaltigen Umgebung nicht agieren“ können, Werner Kogge: Die Grenzen des Verstehens, a.a.O., S. 86.

[6] Solche Sinngebungsprozesse finden auf der Ebene der Individuen statt, auf der Ebene von Organisationen sowie in den politischen Prozessen der Gesellschaft und der Öffentlichkeit. Sie ein sozialer Prozess, der Austausch mit Anderen kann dazu führen, dass wir einen neuen Sinn finden. Daraus entstehen Meinungen und Haltungen, die wiederum die Grundlage für Handeln und Verhalten sind.

[7] Jedenfalls solange, bis eine Veränderung – meist von außen initiiert – eintritt, die mich zur Auseinandersetzung und neuerlicher Sinngebung nötigt, zu einer neuen Konstruktion im Verständnis von mir selbst und meiner Umwelt.

[8] Zu Glauben und Wissen als „Gestalten des Geistes“ vgl. Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken. Berlin 2012, S. 121, S. 213, S. 143, S. 187 et passim. Denen unter Ihnen, die sich bei Habermas auskennen, wird nicht verborgen blieben, dass ich im folgenden oft mit „seinen Kälbern pflüge“.

[9] Ich gebe zu, dass mein Ansatz sich einer eher typisch mitteleuropäisch und deutschen theologischen Perspektive verdankt als der zum Beispiel von Martha Nussbaum: Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst. Darmstadt 2014, die stärker politisch und im Sinne des nordamerikanischen rechtsphilosophischen Pragmatismus argumentiert.

[10] Theaitetos 201b-206b. „… wahre Meinung verbunden mit Erklärung“ ist „Wissen.“ Zitat aus der von Kurt Hildebrandt u.a. vom Verlag Felix Meiner in Der philosophischen Bibliothek Bd. 82 besorgten Ausgabe „Platons sämtliche Dialoge“ auf S. 130, Z. 17f.

[11] Wikipedia s.v. Wissen, Zugriff am 27.11.2014.

[12] Ich meine damit die Erfahrung einer „Grenzsituationen“ im Sinne von Karl Jaspers, vgl. Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie. München (1953), 1963, S. 20f.

[13] Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München 1949, S. 198.

[14] „Religion“ umfasst all das, was in anderen Lebenszusammenhängen „eusébeia = Erfurcht“, „Glaube“ „Vertrauen“ (pistis), „Hingabe“ oder „dharma“ und dergl. heißt, sich also über alle möglichen Glaubensvorstellungen und Praktiken erstreckt Zu den unterschiedlichen Bezeichnungen vgl. Klaus Hock: Einführung in die Religionswissenschaft. Darmstadt 2002, S. 10ff.

[15] Dazu, wie tief „religiöse“ Mythen und Praktiken in die Evolutionsgeschichte des Menschen hineinreichen vgl. Walter Burkert: Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion. München 1998; Ina Wunn, Patrick Urban, Constantin Klein: Götter-Gene-Genesis. Die Biologie der Religionsentstehung. Berlin und Heidelberg 2015. Karl Heinz Ohlig: Religion in der Geschichte der Menschheit. Die Entwicklung des religiösen Bewusstseins. Darmstadt 2002.

[16] Vgl. Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen. München 2007, S. 109f.

[17] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O., S. 77.

[18] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O., S. 77.

[19] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt 1988, S. 60 (kurs. K.B.)

[20] Der in der „Achsenzeit“ erfolgte Durchbruch zu einem neuen Selbst- und Weltverständnis, die in Wissen und Glaube, Philosophie und Religion nachhaltige Veränderung mit sich brachte, ist von „universalgeschichtlicher“ Bedeutung, aber kein „universales“ Ereignis. „Es gibt die großen Völker der alten Hochkulturen, die vorher und die noch gleichzeitig mit dem Durchbruch lebten, aber nicht daran teilhatten und trotz ihrer Gleichzeitigkeit von ihm innerlich unbetroffen blieben.“ (Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, a.a.O., S. 76.) Manche von ihnen wie einige Traditionen im Hinduismus oder der Schamanismus und allerlei animistische Anschauungen sind bis heute wirkmächtige Systeme, sie wohnen – obgleich im Hier und Jetzt gegenwärtig – in ihren Grundzügen gleichsam im Vorraum der Achsenzeit. Auch in den sog. „Weltreligionen“ schlagen manche Elemente dieser archaischen Mythen immer wieder durch, z.B. ihr Glaube an ewige Feindschaft und ewigem Kampf zwischen „uns und den Anderen“, zwischen „Gut und Böse“, zwischen dem wahren und dem falschen Gott. Wobei in archaischen Religionen der „wahre Gott“ sich dadurch erweist, dass er seinen Anhängern immer den Sieg in jenem ewigen Kampf schenkt, während die „achsenzeitlichen Religionen“ einen Gott anbeten und ihm nachfolgen, der aufseiten der Verfolgten, der Unschuldigen und der Opfer steht. Der sog. Islamische Staat des Abu Bakr al-Bagdadi ist ein Beispiel für den Rückfall in eine mythische Kultreligion, die alle achsenzeitlichen Erinnerungsspuren der Nächsten- und Feindesliebe auszulöschen trachtet . „Wenn Al Bagdadi zu seinem Gott betet, dann betet er zu einem Gott der reinen Gewalt …“, schreibt Thomas Assheuer in einem Artikel unter der Überschrift: „Sie wollen des Papst töten. Seine Sanftmut erregt den Zorn der Islamisten. Warum sie Franziskus ermorden und Rom erobern wollen.“ In: DIE ZEIT Nr. 50/2014, S. 64.

[21] Hans Leisegang: Einführung in die Philosophie. Berlin 1960, S. 5 (=Sammlung Göschen 281), kurs. KB

[22] Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949., S. 76.

[23] Hans Leisegang: Einführung in die Philosophie, a.a.O., S. 7.

[24] Hans Leisegang: „Während die Philosophie das Schöne und das Erhabene, das Staunen und die Ehrfurcht vor allem, was über uns, um uns, in uns und unter uns ist, ebenso kennt wie die Religion, so fehlen ihr doch das Heilige, die Scheu vor den himmlischen Mächten und ihrer Offenbarung, die Gottesfurcht und die Todesangst, die Gottesliebe und die Gottseligkeit, der Glaube, das Wunder, die Magie, das Gebet und der Kultus.“ In: Einführung, a.a.O., S.7.

[25] Karl Jasper / Heinz Zahrnt: Philosophie und Offenbarungsglaube. Ein Zwiegespräch, Hamburg 1963, S. 70f.

[26] Zwar konnte man sich gegenseitig zu Häretikern erklären und exkommunizieren, wie 1054 wechselseitig der (orthodoxe) Patriarch von Konstantinopel und der (römisch-katholische) Papst von Rom es taten und dadurch den bis heute bestehenden Bruch zwischen dem orientalischen und dem lateinisch-westlichen Christentum verursachten; innerhalb einer Religion waren – wie in der Philosophie – Spannungen in vielfältiger Form möglich. Aber trotz der Differenzen zweifelte man noch nicht grundsätzlich an die Komplementarität von Glaube und Wissen.

[27] Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik. Gesamtausgabe Bd. 40, Tübingen 1953, S. 3.

[28] Volker Leppin: Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch. Darmstadt 2003, S. 48. Leppin vermittelt einen guten Einblick in die wachsende Diskrepanz zwischen Wissen und Glauben in dieser Zeit.

[29] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O. S. 125.

[30] Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens. Frankfurt/M. 2013, S. 57. Er fährt auf S. 58f dann fort: „Es war, als vermöchten die riesigen Reiche Asiens, ihre ehrwürdigen Traditionen und uralten Sitten nichts gegen die zielsicher vorgehenden Kaufleute, Missionare, Diplomaten und Soldaten aus Europa auszurichten. Nacheinander erwiesen Ägypter, Chinesen und Inder sich als verwundbar und als schlecht gerüstet für eine moderne Welt, die der Westen schuf und der sie sich nur auf Gedeih und Verderb anschließen konnten. Deshalb war die europäische Unterjochung Asiens nicht nur ökonomischer, politischer und militärischer, sondern auch geistiger und moralischer Natur: eine völlig andere Art von Eroberung, als man sie bislang gekannt hatte …“.

[31] Man bezeichnet sie in Japan als Shinkô shûkyô, vgl. Inone Nabutaka / Johannes Laube (Hrsg.): Neureligionen. Stand ihrer Erforschung. Ein Handbuch. Wiesbaden 1995.

[32] In Populärwissenschaftlichen Zeitschriften wird dieser Trend interessiert begleitet, vgl. als neueste Veröffentlichung dazu Hanne Tügel: Brauchen wir Gott?, in: GEO Heft1 / 2015, S. 112ff.

[33] Zu Ibn Taymiyya siehe Sadakat Kadri: Himmel auf Erden. Eine Reise auf den Spuren der Scharia durch die Wüsten des alten Arabien zu den Straßen der muslimischen Moderne. Berlin 2012, S. 142ff, S. 161ff.

[34] Schon im dritten oder zweiten vorchristlichen Jahrhundert erließ Kaiser Ashoka, der selbst vom Hinduismus zum Buddhismus konvertiert war, einige Edikte, die in seinem Reich die Toleranz vorschrieben. Ähnliches wiederholte sich im 16./17. Jahrhundert, als in Nordindien der muslimische Kaiser des Mogulreiches, Akbar, in einen Dialog der Religionen mit dem Ziel begann, die Toleranz zwischen ihnen zu fördern.

[35] Ich weiß, dass man „eigentlich“ über alle nationalstaatlichen Grenzen hinweg global gedacht und gehandelt werden sollte – aber realistisch scheint mir dann eben doch dass wir einstweilen und wohl noch lange Zeit in Nationalstaaten leben werden.

[36] Bei Schweitzer heißt es: „Ich bin Leben inmitten von Leben, das leben will.“ Vgl. Albert Schweitzer: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnte. München 2013.

[37] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O. S. 125.

[38] Die protestantische Theologie hat sich auf diese Herausforderung früh eingelassen, die römisch-katholische folgt seit dem Zweiten Vaticanum seit Mitte der Sechziger des vorigen Jahrhunderts, orthodoxe Theologen runzeln die Stirn und zögern einstweilen noch (oder wieder?), aber auch sie kommen – wie alle Religionen – wegen der ökonomischen, technischen und politischen „Verwestlichung“ aller Kulturen nicht umhin, ihr Verständnis von Wissen und Glauben neu zu klären.

[39] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O., S. 126.

[40] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O., S. 126. kursiv bei Habermas.

[41] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O., S. 221.

[42] Jürgen Habermas: Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Über Glauben und Wissen und den Defätismus der modernen Vernunft, in: K. Wenzel (Hrsg.): Die Religionen und die Vernunft. Die Debatte um die Regensburger Vorlesung des Papstes. Freiburg 2007, S. 47-56, hier S. 50.

[43] Markus Knapp: Glauben und Wissen bei Jürgen Habermas. Religion in einer „postsäkularen“ Gesellschaft, in: Stimmen der Zeit H. 4, 2008, S. 270-280, hier: S. 276.

[44] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O., S. 126, vgl. S. 186.

[45] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O., S. 130.

[46] Ansatzweise wird es im „Projekt Weltethos“ zu verwirklichen gesucht, das der Tübinger Theologe Hans Küng mit anderen zusammen begründet hat. Dazu Hans Küng: Projekt Weltethos, Zürich 1990.

[47] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O., S. 95.

[48] Sure 5, 32: „Wer einen Menschen tötet, für den soll es sein, als habe er die ganze Menschheit getötet.“

[49] , Kap 39 § 90.

[50] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O., S. 133. Kursiv bei Habermas

[51] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O., S. 143. Kursiv bei Habermas

[52] Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. München 2005, S. 143ff.

[53] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O., S. 327.

[54] Den Begriff übernehme ich vom Weltforum „Dialog der Zivilisationen“. „Das Öffentliche Weltforum ‚Dialogue of Civilizations‘ ist eine in Europa gegründete internationale Nichtregierungsorganisation, die den interkulturellen Dialog seit 2003 unterstützt und entwickelt. 2013 erhielt das Öffentliche Weltforum ‚Dialogue of Civilizations‘ eine Sonderstellung als Beratungsorgan bei ECOSOC der UNO. Es wird vom einem breiten aus den Nichtregierungsorganisationen bestehenden Netz mit friedensschaffender und sozialer Ausrichtung unterstützt. – In den Jahren seiner Tätigkeit wurde das Öffentliche Weltforum ‚Dialogue of Civilizations‘ zu einem offenen internationalen Diskussionsort, der verschiedene Nichtregierungsorganisationen, Vertreter von öffentlichen und staatlichen Einrichtungen, Instituten der Zivilgesellschaft und Religionsgruppen aus verschiedenen Ländern, die die Prinzipien der Freiheit und der gegenseitigen Achtung teilen, zu einer Gemeinschaft im Netz vereint. Diese Prinzipien bilden die Grundlage für den heutigen Dialog der Zivilisationen. – Gegenwärtig konzentriert sich die Tätigkeit des Öffentlichen Weltforums ‚Dialogue of Civilizations‘, inklusive jährliche Treffen im Rahmen des Rhodos-Forums, darauf, das neue Weltbild für die moderne multipolare Welt wiederherzustellen und eine produktives Vision der zukünftigen Entwicklungswege zu schaffen.“ (dofc-foundation.org/ge/programmes, Zugriff am 7.12.14).

[55] Im 19. und frühen 20. Jahrhundert jedenfalls begann unter einer kleinen Gruppe von Denkern Asiens sogar eine Abkehr von westlichen Werten, die heute weite Teile der Bevölkerung erreicht hat. Einer der bei uns nahezu unbekannten muslimischen  Intellektuellen, Jamal al-Din al Afghani, war einer der ersten, die im 19. Jahrhundert wirksam der im Westen verbreiteten Meinung, er (der Westen) sei berufen, Asien und Afrika zivilisieren, entgegentraten. In Indien debattierte Tagore mit japanischen Intellektuellen über die angeblichen Übel des Nationalstaates, Gandhis radikale Kritik an der westlichen Zivilisation fand Zuspruch nicht nur in seiner Heimat, in China reflektierte Liang Qichao über die als solche von ihm empfundene Verderbtheit der Demokratie und des Kapitalismus in Amerika. Vgl. dazu Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empires, a.a.O., S. 61ff, S. 155ff, S. 267ff.

[56] Werner Kogge: Die Grenzen des Verstehens, a.a.O., S. 341.

[57] Werner Kogge: Die Grenzen des Verstehens, a.a.O., S. 346.

[58] Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken II, a.a.O., S. 327.


Link