Jul 172015
 

Prager Frühling 1968 – Athener Frühling 2015

Frau Vollmer, die Einschätzungen über das geplante dritte Hilfspaket für Griechenland gehen maximal auseinander. Das bürgerliche Lager sagt: Die Griechen können sich noch glücklich schätzen. Die politische Linke spricht von Unterwerfung. Was meinen Sie?

Ich sehe viele Leute in Schockstarre. Wir wurden genötigt, Voyeure eines Exzesses der Schwarzen Pädagogik zu sein, in den niemand eingreifen konnte. Die einen versuchen, zu begreifen, was da mit einer frei gewählten Regierung an Exempel statuiert wurde. Die Akteure und die willfährigen Medien gehen zur Tagesordnung über – wohl wissend, dass das ein hässlicher Akt war. Die Börsenkurse steigen.

Sie gehören also zu denen, die das Ganze für einen Akt der politischen Unterwerfung halten.

Das Ganze erinnert mich an ein historisches Ereignis vom Anfang meiner politischen Biografie: an den Prager Frühling 1968. Auch damals gab es den Versuch eines kleinen Landes, in einem vorgegebenen System einen eigenen Weg zu finden. Das hieß damals „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Damals wurde der Generalsekretär der tschechischen Kommunisten, Alexander Dubcek, mit viel Druck gezwungen, das Diktat der „Warschauer Fünf“  (SU,Polen,Ungarn,Bulgarien,DDR) zu akzeptieren oder unterzugehen. Das habe ich mitgehört, als Tsipras gesagt hat: „Ich werde nicht den Tod Griechenlands unterschreiben.“ Daraufhin hat er sich bei einem Referendum den Rückhalt geholt, der von Angela Merkel als „Vertrauensverlust“ denunziert wird. Und nun muss ein frei gewähltes Parlament ein Gesetzespaket, an dem Parlamente sonst drei bis fünf Jahre arbeiten, in zwei Tagen durchwinken. Griechenland wird zum Protektorat der Eurozone. Das alles erlebe ich mit einem Gefühl trostloser Ohnmacht.

Wenn Sie die Parallele zum Prager Frühling ziehen, dann sagt Ihnen das bürgerliche Lager aber mindestens, dass Dubcek den neuen Weg nicht mit dem Geld anderer Leute gehen wollte.

Das Argument ist ein Selbstbetrug. Wolfgang Schäuble weiß genau, dass er seinen ausgeglichenen Haushalt dem aus der Eurokrise resultierenden Zinsvorteil und dem ungleichen Exportvorsprung der Deutschen  vor den schwächeren Ländern verdankt. Überhaupt ist er mit seinem Grexit-Vorschlag – selbst  wenn es Taktik und Inszenierung war – zu weit gegangen. Ich weiß, dass Schäubles Leben von persönlicher Härte und politischen Demütigungen geprägt ist. Aber seine Chance, ein  großer Europäer zu sein, hat er eigenhändig selbst zerstört.

Ist der Ausgang der Auseinandersetzung nicht einfach auch Ausdruck mangelnder Geduld angesichts eines jahrelangen Hin und Her?

Alle vergangenen Hilfsprogramme und Tricksereien sind von der unersetzlichen Troika und u.a. von Goldman Sachs gestaltet und abgewickelt worden. Aber die Konsequenzen werden einer Regierung aufgeladen, die ja überhaupt nur an die Macht gekommen ist wegen des  Versprechens, aus diesem System auszusteigen. Das war der Grund, warum so viele junge Griechen und so viele alte und vom Troika- und Oligarchen-System ermüdete Griechen diese Regierung gewählt haben. Die Eurozone hat hingegen gezeigt, dass demokratische Wahlen sinnlos geworden sind. Die Veränderung des Systems soll nicht einmal mehr gedacht werden können, weil bereits das als Majestätsbeleidigung gilt. Da ist viel Selbstgerechtigkeit im Spiel: auch die Deutschen haben in der Vergangenheit „Regeln gebrochen“ (z.B. die Maastricht-Kriterien), auch unsere Reeder flaggen aus, um in Steueroasen zu verschwinden, auch unsere Konzerne und Reichen rühmten sich damit, keine Steuern zu zahlen oder verbargen jahrzehntelang Gelder auf Schweizer Banken – bis die whistleblower sie fanden.

Glauben Sie denn, dass das dritte Hilfspaket wenigstens ökonomisch funktioniert?

Daran habe ich größte Zweifel. Angela Merkel hat sich Zeit erkauft, weil sie nicht als das gelten will, was sie faktisch ist: eine Zerstörerin der alten Idee Europas. Diese alte Idee beruhte auf Friedens- und Entspannungspolitik und sozialem Ausgleich. Jetzt haben wir faktisch ein gespaltenes Europa: in Nord und Süd, in Gewinner und Verlierer. Die Letzteren werden irgendwann Europa die Gefolgschaft verweigern. Das ist das allerschlimmste Ergebnis dieser Politik. Griechenland muss einen brutalen Preis bezahlen, ohne dass es auf die Beine kommen kann. Andere sollen abgeschreckt werden, keiner darf aus der Reihe tanzen.

Die anderen Mitglieder der Eurogruppe sagen nun mit Blick auf das griechische Referendum: Wir sind auch demokratisch legitimiert. Ist das so falsch?

Ich kann mir aber kaum einen Politiker aus dem geschlossenen  Club der Eurozone vorstellen, der bei einem solchen Referendum in solch einer Krise so ein Ergebnis geholt hätte. Bei der sinkenden Wahlbeteiligung werden die meisten etablierten Parteien ja real nur von Minderheiten gewählt. Ich kann mir auch keinen anderen europäischen Politiker vorstellen, der ein halbes Jahr nach einer gewonnenen Wahl solch ein Risiko wagt und trotzdem so eine Unterstützung bekommt.  

Ein besonderes deutsches  Unglück besteht im Übrigen darin, dass sich die SPD in Vasallentreue an die große Koalition gekettet hat. Nur mit den Linken und schwankenden Grünen sind wir faktisch ein Land ohne konzeptionelle Opposition. Dazu kommt die monokulturelle Gleichförmigkeit fast aller öffentlich-rechtlichen Medien, der talk-shows und der meisten politischen Kommentatoren. Die aktuelle Situation ist jedenfalls hoch gefährlich. Für Griechenland hoffe ich, dass kein extremes Chaos entsteht, in dem ich auch ein militärisches Eingreifen nicht mehr für ausgeschlossen hielte.

Dann wäre die Parallele zum Prager Frühling tatsächlich perfekt.

Und zum Militärputsch in Griechenland 1967! Wenn man nicht eine ganze junge Generation für Europa verlieren will, muss es eine Emanzipation vom Merkel/Schäuble-Kurs geben. Ein Europa in den Händen der Troika braucht niemand. Deshalb hoffe ich, dass sich die SPD von diesem Kurs löst. Zudem ist absolut dringend, dass die deutsche die griechische Bevölkerung unterstützt angesichts der humanitären Katastrophe, die sie vor sich hat. Die Freunde Griechenlands sind zu rar und zu stumm geworden in den letzten Tagen.

Das Gespräch führte Markus Decker, abgedruckt in Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau/ Kölner Stadtanzeiger am 15.7.2015 


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