Nov 182015
 
Interview mit Prof. em. Dr. Gisla Gniech, 1973 – 2002
Psychologie-Professorin an der Universität Bremen

Gesund essen ohne sich zu kasteien – nur ein Traum? „Nein“, sagt die Bremer Psychologin Gisla Gniech. Die Wissenschaftlerin ist überzeigt, dass es eine Weisheit des Körpers gibt. In Ihrem Buch „Essen und Psyche“ zeigt sie, wie wir im Spannungsfeld von Süßhunger und Nahrungskommerz wieder lernen, unsere innere Stimme zu hören.

Warum essen wir so gerne?

Essen ist von Haus aus eine biologische Tatsache: Wir füllen den Körper mit Energie auf. Alle Organismen führen Energie zu. Sie ernähren sich. Das hat immer etwas mit Wachstum und Gesundheit zu tun. Doch ist Essen nicht dasselbe wie Ernähren. Essen ist mehr. Und zwar kommen dabei sehr viele emotionale und soziale Aspekte hinzu. Es geht nicht nur darum, dass man satt wird. Es kommt auch darauf an, dass es einem gut schmeckt.

Gerade beim Menschen ist Essen mit angenehmen Assoziationen verbunden. Es symbolisiert z.B. die Mutter, die stillt, die die Brust gibt, die umarmt, in deren Armen es warm, süß und weich ist. Wie hoch der Stellenwert ist, können Sie am Beispiel von Entgleisungen sehen – beispielsweise bei Kindern, die auf Grund irgendwelcher Defekte mit Sonden ernährt werden. Das ist äußerst schwierig. Es gibt einen kompletten Bereich von therapeutischen Maßnahmen, um diese Kinder zu einem lustvollen Essen zu bringen. Sie haben nämlich lebenslänglich die Assoziation, dass Essen eben nicht schön ist, weder weich, noch kuschelig, wärmend oder mit süßem Geschmack verbunden.

Es ist also eine Konditionierung, dass wir so gerne essen. Zum einen rein biologisch: Wir werden satt. Wenn wir Hunger haben, wird ein körperlicher Bedarf gedeckt. Zum anderen emotional: Die angenehme Atmosphäre des frühkindlichen Essens und Trinkens wird mit Geborgenheit assoziiert.

Jetzt stellt sich aber die Frage: Warum essen wir als erwachsene Menschen heutzutage so gerne? Das hat damit zu tun, dass die Nahrungsmittelindustrie den Umstand der Konditionierung geschickt nutzt und uns das Essen so nahe bringt, dass wir häufig mehr essen als wir eigentlich benötigen. Daran wird sowohl geschmacklich, als auch von Seiten des Geruchs und Widerstands gearbeitet. Man hört also z. B. das Beißen, Knacken und Krachen, zusätzlich gibt es schöne Verpackung mit angenehmen Assoziationen und dann essen wir eben gerne. Manchmal eben zu gerne.

Wie kann der einzelne die natürlichen Selbstregulationsmechanismen seines Körper wieder entdecken?

Die Selbstregulationsmechanismen sind von Natur aus da. Aus Experimenten wissen wir, dass kleine Kinder, die mit einer „Cafeteria-Nahrung“ zur freien Wahl der Lebensmittel ermuntert werden, sich für eine ausgewogene Mischkost entscheiden. Sie „überfressen“ sich nicht und essen nicht nur Pudding, Milch und Obst, sondern wählen ebenso andere Speisen. Auch Tiere in freier Wildbahn ernähren sich nach diesen Selbstregulationsmechanismen. Bei uns „modernen Menschen“ sind diese auf Grund der eigentlich zu reichhaltigen und in gewisser Weise auch einseitigen Nahrung außer Kraft gesetzt worden.

Aber es gibt Möglichkeiten die Regulation wieder herzustellen.Dazu gilt es zunächst einmal grundsätzlich zu erkennen, dass es diese Art Selbstregulation gibt. Ich denke, es gibt eine Weisheit des Körpers. Das muss man zunächst begreifen. Man isst nicht nur, weil etwas auf den Tisch kommt, oder weil die Werbung etwas anbietet. Man ist eben auch Mensch, ein „Ich“ und muss sich auf sich selbst besinnen.

Dann stellt sich die Frage: Welche Reize sollte man beachten? Auf jeden Fall müssen Hunger und Sättigung scharf beobachtet und trainiert werden – also ob man fühlt, wann man satt ist. Der Sättigungsmechanismus ist sehr kompliziert. Normalerweise merkt man erst, wenn man eigentlich schon zuviel gegessen hat, dass man satt ist. Man muss deshalb trainieren zu spüren, dass man satt ist, noch bevor der Körper sagt, dass man zum Kotzen satt, also so richtig voll ist. Ein gutes Training ist, nach jedem Bissen Messer und Gabel zur Seite zu legen und in Ruhe zu kauen – nicht schon das nächste Stück abzuschneiden, während man kaut, und auf der Gabel zu präparieren, um es wieder „reinzuschaufeln“.

Dadurch kann man auch erkennen, was dem eigenen Organismus bekommt und was man wirklich mag. Man sollte grundsätzlich nichts essen und trinken, was man nicht „abkann“. Das ist bei kleinen Kindern zuweilen kompliziert, Mütter müssen sehr sensibel sein, um sich nicht dem „kindlichem Terror“ auszusetzen. Aber ein Erwachsener, der auf sich hört, kann spüren, was seine persönlichen Vorlieben und Abneigungen sind. Was er nicht mag, bekommt ihm meistens nicht und diese Speisen sollte er auch meiden.

Also das Gegenteil von dem alten Vorurteil „Was gesund ist, schmeckt nicht“…

Das ist tatsächlich absoluter Quatsch. In der Regel ist Essen, das gut schmeckt, auch gesund. Uns ist nämlich über den Geschmack sozusagen eine „Giftbarriere“ mitgegeben. Alles, was bitter schmeckt, ist von Natur aus eher mit Vorsicht zu genießen. In der Regel weist Bitterkeit auf Verdorbenheit und Gift hin. Die Genussdrogen – wie Kaffee, Tee, auch Kakao, Rauchen und Alkohol – schmecken einem Kind nicht, weil die Bitterbarriere unbeeinflusst vorhanden ist. Diese wird dann in einem ganz komplizierten sozialen Mechanismus überwunden. Das ist eine Art Ritual, erwachsen zu werden. Wer als Erwachsener dazugehören möchte, muss entsprechend konsumieren.

In vielen Fällen wird dann sogar noch bei den Erwachsenen, um diese Schwelle zu überschreiten, ein Trick in Form von Zucker angewandt: Kakao z. B. würde Ihnen als solcher gar nicht schmecken. Er schmeckt nur als Trink- oder Essschokolade (wobei die Essschokolade in Blöcken eine relativ neue Erfindung ist) und ist nur solch Leckerbissen geworden, weil er gesüßt und mit Milch versetzt wurde. Auch zu Kaffee und Tee isst man häufig Plätzchen oder Kuchen, also etwas Süßes. Tabak hat ebenso ganz eindeutig etwas mit Erwachsenwerden zu tun. Kinder rauchen sehr früh, weil sie nach diesen Initiationsritus streben: Sie wollen erwachsen sein. Ich glaube nicht, dass es bei all diesen Genussdrogen um die – sagen wir mal – „therapeutische Wirkung“ geht, also die medikamentöse, die aufgekratzt oder munter werden lässt. Es ist eher eine soziale Angelegenheit.

Gut schmeckt uns letztendlich alles, was süß ist, und in Maßen braucht das der Körper auch. Doch wo zu wenig Nahrung vorhanden ist, wie z. B. in Entwicklungsländern, greifen die Menschen vermutlich eher zu Gemüse und Kartoffeln als zu Schokolade. Es ist anzunehmen, dass in solchen Situationen sättigende, kohlenhydratreiche Speisen wie Reis, Nudeln, Brot und Getreide, besser schmecken als raffinierte Nahrungsmittel (stark verarbeitete Nahrungsmittel, Anm. d. Red.) wie Kuchen, Kekse oder Pudding.

Wie erklären sie sich die Zunahme von Essstörungen in unserer Kultur?

Das ist deshalb ein Problem, weil es zuviel gibt. Im biologischen Rhythmus der Natur ist es generell folgendermaßen vorgesehen: Wer etwas essen möchte, muss dafür etwas tun. Ein Tier muss jagen, Früchte sammeln oder Vorräte anlegen. Der Mensch aber braucht heutzutage nichts mehr dafür leisten. Er zieht lediglich das Portemonnaie aus der Tasche und geht in den Laden. Der körperliche Einsatz, um die Nahrung zu erreichen, ist nicht mehr da.

Außerdem haben wir eine reichhaltige, raffinierte Nahrung. Diese ist nicht mehr naturbelassen, sondern es wird alles entzogen, was als „Ballaststoff“ fungiert. Viele Produkte sind als „Vollfettstufe“ erhältlich. Inzwischen gibt es zwar auch konträre Strömungen in der Nahrungsmittelindustrie, aber generell ist es so, dass versucht wurde, immer besser zu werden: Statt „normalem“ Vollkornbrot gab es Weißbrot, statt „normaler“ Milchprodukte Vollfettkäse, Sahnequark, Sahnejoghurt.

Die Menschen aber müssen dafür nichts mehr leisten, sie setzen sich nur mehr an den Tisch und essen. Zugleich benötigen sie viel geringere Mengen als sie von der Vollwertnahrung gewohnt waren. Denn das Aufschließen der Vollwertnahrung in verdaubare Bestandteile ist wiederum Arbeit des Organismus. Wenn auch diese wegfällt, wird noch weniger Energie verbraucht. Die Konsequenz: Man braucht wesentlich weniger der hochqualitativen Nahrung, um satt zu werden.

Essstörungen haben im Grunde genommen damit zu tun, dass die angebotene Nahrung so gut schmeckt. Selbstverständlich bringt die Nahrungsmittelindustrie nichts auf den Markt, was nicht mundet. So gibt es auch für Gelegenheiten, bei denen man sich nicht an den Tisch setzt, um vollwertige Nahrung zu sich zu nehmen, wohlschmeckende Nahrungsmittel, die man schnell zwischendurch essen kann – z.B. diverse „Knusperriegel“. Diese enthalten in eigentlichen Sinn kein in Honig verpacktes Getreide, sondern zermahlene, mit Geschmacks-, Duft-, Farb- und Konservierungsstoffen versetzte Getreidebestandteile. Der über sogenannte Extruder geformte Riegel erweckt die Assoziation, es handele sich um vollwertige Nahrung – ist es aber nicht. Auch Surimi, aus gemahlenem Fisch geformt und eingefärbt, ist kein Krebsfleisch, sondern genau genommen ein Abfallprodukt von Nebenfischarten.

Das Problem der Essstörungen wird durch einen Umstand verstärkt, der mit Essen an sich gar nichts zu tun hat. Die Modebranche suggeriert, ein schlanker Körper sei jung und gesund. Im Normalfall ist das auch so richtig, allerdings im Umkehrschluss: Ein junger Körper ist i.d.R. schlank, meist auch gesund, fortpflanzungsfähig, attraktiv und schön. Im Laufe des Lebens nimmt diese Spannkraft ab. Das ist der Lauf der Dinge und ganz natürlich. Deshalb hat eine 40- bis 60-jährige Frau keinen ebenmäßigen Körper mehr wie eine 25-jährige. Über die Schlankheit aber wird versucht, Jugendlichkeit herzustellen. Sehr viele Frauen fallen auf diesen Trugschluss herein. Es ist bei uns fast zum Kulturwert geworden. Wenn Franziska von Almsick mal ein bisschen muskulöser wird oder Katharina Witt etwas weiblichere Formen aufs Eis legt, heißt es: „Die ist aber fett.“

Essstörungen entstehen schließlich dadurch, dass Frauen künstlich versuchen, sich von Nahrung fernzuhalten. Dadurch entgleist die Selbstregulation. Die Frauen hören nicht mehr auf ihren Körper, sondern nur auf Diätvorschriften. Das ist eine Art Vergewaltigung der körpereigenen Weisheit. Übrigens sind diese Krankheiten inzwischen auch schon in der Männerwelt verbreitet, weil auch hier heute Jugendlichkeit gefragt ist.

Gesunde Ernährung heißt also, auf seine innere Stimme hören?

Ja, ganz eindeutig. Machen Sie sich stets drei Dinge bewusst:

  • Essen braucht Zeit. Man sollte nicht im Laufen essen und möglichst nicht vor dem Fernseher.
  • Hören Sie auf Ihre innere Stimme: Mag ich, was mir angeboten wird? Schmeckt bei Einladungen das Essen nicht, kann man probieren und bei Nichtgefallen sagen: „Ich bin satt.“ Oder: „Ich möchte das nicht essen.“ Sicherlich sollte man höflich bleiben und sich das „Iiih, ist das ekelhaft“ verkneifen.
  • Machen Sie sich bewusst, dass der menschliche Körper kein Einheitsbrei ist. Die Streubreite der Varianten menschlicher Körper ist so groß, dass man sich durch Vorbilder nicht „vergewaltigen“ lassen soll, die häufig suggerieren: „So müsste man aussehen.“ Das ist meiner Ansicht nach eines der wichtigsten Dinge: Man muss sich selbst lieben. Dann wird es eher selten dazu kommen, das man unglaublich fett oder magersüchtig wird.

Das Interview führte Monika Wittmann.
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