Jan 222016
 

Bericht über die Flucht nach Deutschland

Von Carolin Henkenberens

Der Jeside Lavinj* ist aus dem Sindschar-Gebirge vor der Terrormiliz Daesch geflohen. Vier Wochen hat Lavinj seine Flucht vorbereitet, der Entschluss reifte viel länger. Es sind Wochen zwischen Vorfreude und Verzweiflung, zwischen Hoffnung und Trauer. Wochen, in denen es immer wieder vor und oft zurück geht, weil es mal so scheint, als würde alles platzen. Weil das Geld nicht reicht, weil die Familie nicht einverstanden ist, dass er nach Deutschland gehen will. In anderen Momenten scheint alles so einfach zu sein, Euphorie macht sich breit.

Kennengelernt hat die Autorin Lavinj über einen privaten Kontakt, der im Irak für eine deutsche Hilfsorganisation arbeitet. Die Organisation war für Behördengänge auf der Suche nach einem Übersetzer. Dieser Übersetzer war Lavinj. Weil er neugierig auf „die Deutsche“ am anderen Ende der Leitung war, saß er eines Tages mit vor der Skype-Webcam und erzählte von sich und seinen Plänen der Flucht. Über Telefonate, Nachrichten und Chats hielt Carolin Henkenberens mit ihm Kontakt. Seit drei Monaten ist er inzwischen in Deutschland. Was hat er erlebt in dieser Zeit?

*Name der Redaktion bekannt.


Überfahrt überlebt – Rückruf später

  • Fluchtweg
    Vom Sindschar-Gebirge ins Flüchtlingscamp in Zako, von dort über die Türkei und das Mittelmeer weiter bis nach Europa.

03. September 2015

„Hi, how are youhuu?“, säuselt es blechern aus dem Computer. Zwei dunkle Augenpaare und ein weißes Lächeln sind auf dem ansonsten pixeligen Bild der Webcam erkennbar. Ein verschwommener, sich bewegender Fleck deutet darauf hin, dass mein Gegenüber wie wild winkt. Lavinj ist ein fröhlicher junger Mann. Er sitzt auf dem Bett eines billigen Hotels in Dohuk im Norden des Irak und grinst in die Kamera. Lavinj lebt eigentlich in Zakho, rund eine Autostunde nördlich von Dohuk. Doch durch Glück hat er Arbeit in Dohuk gefunden, als Übersetzer für eine deutsche Hilfsorganisation auf Behördengängen. Heute hat er eine Menge Büros gesehen. „Zertifikate, Papiere, Stempel – die Beamten hier lieben das“, erzählt er und lacht. Bürokratie. Immer diese Bürokratie, sagt er und lacht wieder. Dass das in Deutschland nicht viel besser ist, kann er nicht glauben. Deutschland ist für ihn ein perfekter Ort.

Lavinj gehört als Jeside im Irak einer diskriminierten und verfolgten Minderheit an. Für Radikale sind Jesiden Teufelsanbeter. Und das nicht erst, seit die brutalen Kämpfer des Islamischen Staates im August 2014 anrückten. Bereits zuvor schickte die Al Qaida ihm Todesdrohungen. Man würde ihm in den Kopf schießen, wenn er sich weiter kritisch über die Islamisten äußere, hatten sie ihm ausrichten lassen. Während seines Studiums am College in Mossul musste er sich oft tagelang im Haus verstecken, trug zur Tarnung ein christliches Kreuz. Weil es so gefährlich war, lernte er nach einiger Zeit von zu Hause aus, besuchte die Universität nur für Prüfungen und wechselte sogar nach Koya im Nordosten des Landes. Doch auch dort wurde er bedroht, die Polizei habe ihn nie ernst genommen. Auch dann nicht, als einmal auf ihn geschossen wurde.

 07. September

Das Zertifikat ist da. Lavinj hat sich sein Abschlusszeugnis ein zweites Mal ausstellen lassen. Es würde ihn berechtigen, in den USA weiter zu studieren, sagt er. „Meine Familie möchte, dass ich zu meinem Bruder in die USA gehe.“ Aber das möchte er nicht. In Deutschland hat er Freunde.

 11. September

Bling. Auf dem Handy leuchtet der Facebook-Messenger auf. Es ist Lavinj. „Can you call me?“ Es klingt dringend. Am Telefon ist er ganz aufgeregt. „Ich werde spätestens in drei Tagen das Land verlassen“, sagt er. Die Diskriminierungen seiner Religion, die jahrelangen Bedrohungen hat er satt. Und seit er vor dem IS geflohen ist und in einem Flüchtlingscamp lebt, sieht er keine Zukunft mehr für sich im Irak. Später will er mehr erzählen.

Es ertönt nur ein Freizeichen, da nimmt Lavinj schon ab und erzählt drauf los: „Am 3. August flüchteten wir vor dem IS, es war ganz früh morgens“, sagt er und seine Stimme klingt aufgebracht. „Der IS war schon nah an der Stadtgrenze von Sindschar“. Dort ist er aufgewachsen mit zehn Geschwistern. „Ich wollte nicht fliehen, nahm mein Gewehr und wollte kämpfen. Aber meine Nachbarin bettelte mich an mitzukommen.“ Mit dem Geländewagen ging es hoch in das Sindschar-Gebirge. Vier Stunden harrten sie dort aus, um auf seinen Bruder und dessen Frau zu warten. Und weil die Mutter Diabetikerin ist, entschied sich Familie Ibrahimi, das Gebirge zu verlassen. Eine richtige Wahl. Tausende Jesiden blieben – und waren monatelang eingekesselt, ihre Massengräber fanden Peschmerga-Kämpfer bei der Befreiung. Mit elf Personen in einem Auto raste Familie Ibrahimi Richtung Dohuk, bat unterwegs fremde Menschen, ihr etwas Benzin zu verkaufen. Nach einigen Kilometern über menschenleere Straßen dann der Schock: An einer Straßensperre stehen Kämpfer des Islamischen Staates. Die Frauen schreien, die Männer müssen ihnen versprechen, sie zu töten, bevor die IS-Terroristen es tun. Die Männer der Familie steigen aus, die Hände nach oben. „Es war wie ein Wunder“, beschreibt Lavinj, was dann passiert. Die bärtigen Männer mit den großen Gewehren schreien: „Los, fahrt, fahrt, ihr könnt gehen.“

 12. September

„Ich konnte meine Familie überzeugen“, sagt Lavinj freudestrahlend. Er darf nach Deutschland. Eine Flucht gegen den Willen seiner Familie wäre undenkbar. Jetzt wäre da nur noch die Sache mit dem Geld.

 14. September

Trauerstimmung. Lavinj hat nicht genügend Geld. 1700 Dollar besitzt er. Zu wenig für die zahlreichen Schlepper. Also bleibt er erst einmal im riesigen Flüchtlingscamp bei Zakho, in dem er seit der Flucht aus Sindschar lebt. 25.000 Menschen, jede Familie wohnt in einem zwölf Quadratmeter kleinen Zelt. Die Wege sind mit Kies ausgelegt, es gibt genügend Toiletten und Kochstellen. Es könnte schlechter sein. Doch die Situation macht ihn mürbe.

 16. September

Lavinj ist heute wieder zuversichtlicher. „Ich möchte Musiker werden“, schwärmt er. Seit er 14 Jahre alt ist spielt er Tambur, ein typisch kurdisches Instrument, das ein bisschen wie eine Gitarre aussieht. Ab und an schreibt der 31-Jährige Gedichte über Freundschaft, Liebe und Menschlichkeit.

 22. September

Die Verzweiflung wächst. Lavinj kann und will nicht mehr länger im Irak bleiben. „Ich will so schnell wie möglich weg“, schreibt er auf Facebook. Dass sein Geld nicht für eine Reise bis nach Deutschland reicht, ist ihm jetzt egal: „Ich denke ich werde versuchen nach Bulgarien zu kommen. Es wäre sogar okay für mich, erst einmal dort zu bleiben.“ Kellnern, Wasser verkaufen, Radios reparieren, Gepäck tragen, Erntehelfer: Lavinj hat in seinem Leben schon viele Jobs gemacht. Auch in Bulgarien würde er irgendwie zurechtkommen.

 25. September

Lavinj hat seine Meinung wieder geändert. So lange er nicht genügend Geld hat, bleibt er noch im Irak. In Bulgarien, denkt er jetzt, wäre es vielleicht doch nicht so einfach. 300 Dollar möchte er noch sparen, dann hätte er 2000 Dollar beisammen. Als Englischlehrer verdient er 400 Dollar.

 02. Oktober

Lavinj ist immer noch im Irak. Ein Besuch bei Verwandten im Süden der Türkei hat ihn einige Tage ablenken können, aber nicht von seinem Plan abgebracht. „Mein Geld reicht immer noch nicht“, schreibt er.

 04. Oktober, 13.35 Uhr

„Morgen geht es los“, schreibt Lavinj. „Ich fahre übers Meer, es ist gefährlich, aber es geht nicht anders. Bete für mich.“ Wohin fährt er? Welche Route nimmt er? Das alles steht noch nicht genau fest. Wieso geht es nun doch los? Ein Bekannter von ihm hat Kontakt zu anderen Flüchtlingen, die vor kurzer Zeit das gleiche gewagt haben. In Griechenland gebe es Hilfsorganisationen, die die Flüchtlinge kostenfrei unterstützen, hat er gehört. Er hofft, dass diese ihm helfen, wenn er es bis nach Europ a geschafft hat. Der Plan: Gemeinsam mit zwei befreundeten Frauen und ihren drei Kindern will er morgen Nachmittag um 16 Uhr in den Bus steigen, die irakisch-türkische Grenze übertreten und in der türkischen Stadt Ismir den Schlepper treffen. Was hat er eingepackt? Neben Kleidung kaum Persönliches. Stattdessen zwei Dosen Sardinen und drei Dosen mit Hähnchenfleisch. „Ich bin immer hungrig“, schreibt er und schiebt einen lächelnden Smiley hinterher.

 05. Oktober

„Ich bin seit einer Stunde in der Türkei, zwanzig Stunden Busfahrt stehen noch bevor. Die letzte Nacht war der Horror, ich war kurz davor, alles abzubrechen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie hart es ist, seine Familie zu verlassen. Meine kleine Schwester hat die ganze Zeit geweint. Meine Familie war sehr traurig, dass ich gehe. Ich verdamme den Tag meiner Geburt. Wäre ich doch nie geboren! Würde meine Familie doch nie existieren! Uns wäre so viel Leid erspart geblieben. Ich bin so nervös.“

 06. Oktober

Abends kommt eine kurze Nachricht auf Facebook. „I am in Ismir now, you can call me“. Am Telefon macht Lavinj einen geordneten Eindruck, soeben hat er mit seinem Schmuggler Muhamed telefoniert. „Er holt uns vom Busbahnhof ab, dann fahren wir zu seinem Hotel, haben zwei Stunden Pause und danach geht es weiter zum Boot“, erklärt er. Was für ein Boot? Schlauchboot. Zu welcher Insel geht es? Lavinj weiß es nicht. Der Schmuggler habe gesagt: Eine Stunde dauere die Überfahrt nach Griechenland. Alle zwei bis drei Stunden bekommt Lavinj neue Informationen, Häppchen für Häppchen. „Ich muss auflegen, der Schmuggler kommt“, sagt er plötzlich. Lavinj will keinen Verdacht erregen, weil er dauernd auf Englisch telefoniert.

07. Oktober

Es dauert lange, bis Lavinj abnimmt. Ich habe ihn wachgeklingelt. Die ganze Nacht war er unterwegs. Vier Stunden war die Gruppe zum Hafen nach Ayvacik, 250 Kilometer nördlich von Ismir, gefahren. Dort angekommen, konnte sie gleich wieder umdrehen: „zuviel Militär.“ Und weil das die Flüchtlinge aufhalten will, kehrte man lieber wieder um. Die Polizei hingegen kooperiere mit den Schmugglern, erzählt Lavinj. Er ist müde. „Gute Nacht“, gähnt er ins Telefon.

Lavinj vertreibt sich die Zeit im Hostel des Schmugglers. 17 Dollar zahlt er pro Nacht für das Mehrbettzimmer, zusätzlich zu den 1000 Dollar für die Überfahrt. Jede Verzögerung wird so zum Umsatzplus für den Schlepper. Heute Abend um 22 Uhr soll es abermals losgehen. Der Schmuggler wird der Flüchtlingsgruppe den Weg zur griechischen Insel zeigen, mitfahren wird er nicht. Ist es Lesbos? „Ich weiß es nicht“, sagt Lavinj. Hauptsache griechischer Boden. Sobald er wieder Festland unter den Füßen habe, melde er sich, verspricht er.

09. Oktober

Der dritte Versuch scheiterte wieder. „Der Schmuggler ist ein Lügner“, sagt Lavinj verärgert. Er weiß nicht mehr, was er dem Mann, der sich Abu Saif nennt, glauben soll. Was glaubt man einem Mann, der den gleichen Namen wie eine islamistische Terrorgruppe benutzt? In der Nacht sei wieder zu viel Militär in Ayvacik gewesen, habe der Schmuggler behauptet. Sechs Stunden war die Gruppe zum Hafen gefahren und direkt wieder umgekehrt. Auf einem Foto am Hafen trägt Abu Saif ein helles, weit aufgeknüpftes Hemd, Vollbart und grimmigen Blick. Lavinj will sich nun ausruhen. „Später versuchen wir es wieder.“

10. Oktober

Hohe Wellen peitschen um das graue Schlauchboot. Ihr Rauschen ist laut und bedrohlich. Kein Stimmengewirr übertönt es, denn die 40 Menschen, die eng aneinander im Boot Richtung Zukunft sitzen, schweigen. Auch der 31 Jahre alte Lavinj aus dem Irak. Trotz der Enge auf dem Boot ist es kalt. Wie kalt das Meer sein muss, denkt Lavinj – und bekommt Angst. Was wäre, wenn das Boot gleich kippt, wenn er stirbt, wenn er Deutschland nie erreichen und alles umsonst gewesen wäre?

Es ist geschafft. Nach drei Stunden gefährlicher Bootsfahrt auf dem Mittelmeer. Lavinj ist in Europa. „I’m alive“ wird er später sagen. Er klingt glücklich, überwältigt. „Details kommen später.“ Er hatte Todesangst während der Fahrt. Doch in die Freude mischt sich Trauer: Wann wird er seine Familie wiedersehen? Zeit für Grübeleien bleibt jedoch kaum, morgen geht es weiter, das Ticket für die Fähre nach Athen hat er schon gekauft. Von dort geht es weiter nach Mazedonien und Richtung Deutschland.

10. Oktober, kurz nach Sonnenaufgang

Das Schlauchboot hat das Ufer erreicht: Lesbos. Nach dreistündiger Überfahrt auf dem Meer betritt die 40-köpfige Gruppe europäischen Boden. Alle sind erleichtert. Auf einem Foto, das Lavinj von sich vor dem Meer gemacht hat, sieht er müde aus, die orangene Schwimmweste trägt noch. Das Foto soll beweisen: Ich hab’s geschafft. Danach seien sie drei Stunden zu Fuß gelaufen, zum zentralen Flüchtlingscamp im Süden der Urlauberinsel. Dort gibt es Essen und – noch viel wichtiger – die Registrierungspapiere, mit denen Lavinj und die anderen Flüchtlinge auf die Fähre nach Athen dürfen.


Über sechs Grenzen in eine neue Welt

  • Lavinjs Fluchtroute
    Von Lesbos, Athen und Mazedonien über Serbien, Kroatien, Ungarn und Österreich bis nach Deutschland.

10. Oktober 2015, abends

Anruf von einer unbekannten Nummer. Es ist Lavinj, der sich ein Telefon geliehen hat, denn seine türkische Sim-Karte funktioniert nicht. „Hier im Camp ist es dreckig, es gibt keine Duschen. Morgen geht es mit der Fähre weiter nach Athen“, berichtet er. 50 Euro pro Person kostet die Überfahrt. Wo sie schlafen? Draußen vermutlich. Das wichtigste ist jetzt eine neue Sim-Karte.

11. Oktober

Lavinj schickt seine neue Nummer.

12. Oktober, 9.05 Uhr

Nach wenigen Freizeichen nimmt er ab, im Hintergrund ist es laut. „Ich bin gerade am Busbahnhof in Athen. Wir haben vorhin unser Ticket gekauft zur mazedonischen Grenze“, schreit er in die Leitung. „Jetzt kommt der schwierige Teil der Reise. Bisher lief ja alles gut.“ Vor europäischen Grenzzäunen habe er mehr Angst als vor dem tiefen Meer.

12. Oktober, 14.40 Uhr

Lavinj ist jetzt im Bus Richtung Mazedonien, die Grenze wird er gegen 19 Uhr erreichen. „Ich fühle mich sicher und traurig“, schreibt er. „Meine Familie ist immer noch in der Hölle.“ Über Facebook hält er mit ihr Kontakt. Gleich ist sein Akku leer.

13. Oktober, 18.18 Uhr

Der Facebook-Messenger piepst. Lavinj ruft an – über das Internet. Doch die Verbindung schlägt fehl. „Hallo, ich laufe gerade in Serbien“, schreibt er. „Ich habe kaum Akku, nutze das WLAN von einem Haus. Mir ist schwummerig und ich bin müde.“ Seine griechische Sim-Karte funktioniere nicht mehr. „Wir reden später“, schreibt er und ist wieder offline.

Der Facebook-Messenger piepst. Lavinj ruft an – über das Internet. Doch die Verbindung schlägt fehl. „Hallo, ich laufe gerade in Serbien“, schreibt er. „Ich habe kaum Akku, nutze das WLAN von einem Haus. Mir ist schwummerig und ich bin müde.“ Seine griechische Sim-Karte funktioniere nicht mehr. „Wir reden später“, schreibt er und ist wieder offline.

13. Oktober, 22.40 Uhr

Lavinj ist online. „Now we pull to Korwatia border“, schreibt er und meint „Croatia“, Kroatien. Durch welche Orte ist er gekommen? „Durch Mazedonien ging es mit dem Zug“, berichtet er. Dieser sei alt, dreckig und voll gewesen. Einen Teil der Strecke habe er stehen müssen. Die Männer wechselten sich alle paar Stunden ab, damit jeder mal auf dem Boden sitzen und kurz schlafen konnte. Die Fahrt habe mehr als zehn Stunden gedauert. Fast wäre der Zug mit einem anderen zusammengestoßen, 200 Meter vor dem Crash kam er zum Stehen, schreibt Lavinj. Die Vollbremsung habe die Weiterfahrt verhindert, bestimmt zwei Stunden hätten sie gestanden. Oder waren es drei? Seine Erinnerung ist verschwommen. An der Grenze zu Serbien ging es nach einem Fußmarsch mit dem Bus weiter. Wo genau war er, wo ist er und wo geht es hin? „I don’t know“, tippt er. Er weiß nur, dass er heute zwei Grenzen passiert hat, jene zwischen Griechenland und Mazedonien und jene zwischen Mazedonien zu Serbien. „Ich kann Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden. Es ist wie ein Albtraum…“ Er brauche Kaffee oder Tee. „Kannst du mir sagen, welches Land als nächstes kommt?“, fragt er. Es müsste Slowenien sein, dann Österreich, dann Deutschland. Er entschuldigt sich, er müsse aufhören zu schreiben: Der Busfahrer will sein Geld, 35 Euro.

13. Oktober, 23.22 Uhr

Lavinj schickt ein Selfie aus dem Reisebus. Er trägt ein rot-grau kariertes Hemd, sein müder Blick geht an der Kamera vorbei. Was denkt er? „Ich sehe die Menschen, die am gefährlichsten für die Welt sind, direkt neben mir“, schreibt er. Er meint Muslime. Für ihn sind diejenigen, die für den Islamischen Staat kämpfen, Grund, den gesamten Islam zu hassen. Dass sie die Religion nur benutzen, dass der Islam per se nicht gewalttätig sein muss, will er nicht sehen. Die Kämpfer zitieren doch den Koran, meint er. Und Al-Kaida, das seien doch auch Anhänger des Islam. Und was ist mit seinen muslimischen Freunden? Ja, die habe er. Aber ein Kindheitsfreund, der wie ein Bruder für ihn war, sei zum IS übergelaufen. Er hat darüber ein Gedicht geschrieben, er will es irgendwann ins Englische übersetzen. Dann verabschiedet sich Lavinj, er möchte seiner Schwester eine Nachricht schreiben. „And I need to sleep.“ Er ist müde vom langen Laufen heute. In sechs Stunden wird er in Kroatien sein. Dort wartet möglicherweise wieder ein Fußmarsch.

14. Oktober

Die Nachricht „Guten Morgen, bist du angekommen?“ hat Lavinj auch abends noch nicht gelesen, verrät Facebook.

15. Oktober

Noch immer kein Lebenszeichen.

16. Oktober, 08.30 Uhr

Keine neue Nachricht, weder im Postfach noch auf dem Handy.

16. Oktober, 21.10 Uhr

„Fünf verpasste Anrufe von Unbekannt“ zeigt das Display an, der erste kam schon am frühen Nachmittag. Mist. Das Handy hatte zu Hause gelegen, ausgerechnet heute. Ist Lavinj etwa schon in Deutschland? So schnell? Ich rufe die erste fremde Nummer zurück. Eine Frau nimmt ab, sie stellt sich als Mareike vor. Sie ist eine von vielen Tausenden Helfern in Deutschland, arbeitet für den Malteser Hilfsdienst und hat Lavinj am Morgen von Passau mit dem Zug nach Düsseldorf begleitet. „Er hatte kein funktionierendes Telefon und wollte meines benutzen“, sagt sie. Um 19 Uhr sei Lavinj in Düsseldorf angekommen, mehr weiß sie auch nicht. Unter der zweiten Nummer ist niemand zu erreichen.

16. Oktober, 22.50 Uhr

Nach dem sechsten Versuch nimmt jemand ab. Laute Hintergrundgeräusche. Wer ist da? „Ich bin es: Lavinj“, sagt die bekannte Stimme. Eine Lautsprecherdurchsage eines Bahnhofes unterbricht das Gespräch. Danach spricht wieder jemand anderes. Ein deutscher Helfer erklärt, dass Lavinj nun in einen Zug Richtung Bielefeld steigt, wo ihn Freunde abholen. Ich frage, ob alles in Ordnung ist mit ihm. Der fremde Mann übersetzt Lavinj die Frage auf Kurmandschi. „Ja, er ist in Ordnung“, sagt der Mann auf Deutsch. Lavinj übernimmt wieder das Telefon, es sprudelt aus ihm heraus: „An der Grenze… das war schrecklich. Sie haben uns behandelt wie Tiere, wie Tiere. Sie haben meine Würde beschädigt.“ Sein Zug fährt gleich ab.

17. Oktober, 14.32 Uhr

Das Handy blinkt, SMS von Lavinj: „Guten Morgen, wie geht’s? Ich fühle mich so gut heute Morgen, habe gut geschlafen, meine Haare geschnitten, geduscht, gut gegessen.“ Es ist sein erster Morgen in einem neuen Land. Wir verabreden uns für ein Treffen.

18. Oktober, 10.43 Uhr

Lavinj sitzt im ostwestfälischen Bielefeld an einem großen Küchentisch und schmiert Frischkäse auf sein Brot. Zaghaft, mit der vordersten Messerspitze verteilt er den winzigen Klecks Aufstrich. Erst einmal probieren. Auch die Scheibe Brot hat er in vier kleine Quadrate geschnitten. „Und was ist das?“, fragt er und zeigt auf eine Scheibe rohen Kohlrabi. Er beißt ab, überlegt kurz und meint: „That‘s good!“ Die Frühstücksbräuche – wie so ziemlich alles in diesem kalten Land – sind eine fremde Welt für Lavinj, langsam tastet er sich in ihr vor. „Als Flüchtling ist man wie blind“, sagt er. Blind und hilflos; wie ein Kind, das Banales noch lernen muss. Butterbrote schmieren und Milch von Kühen trinken zum Beispiel.

In seiner Heimat im Irak aß Lavinj Weizenbrot und trank Ziegenmilch. Doch seine Heimat ist weit weg an diesem Morgen im Haus eines befreundeten Deutschen, der ihn aufgenommen hat. Er wollte sich dort noch einmal ausruhen, bevor es ins Flüchtlingscamp geht. Ein Lichtblick am Frühstückstisch: die gelbe Dose Sardinen. Lavinj hat sie kurz vor seiner Abreise im irakischen Flüchtlingscamp in Zakho gekauft. Das war vor knapp zwei Wochen. Doch das einzige Mitbringsel aus seiner Heimat leert sich. Der Fisch ist mit ihm mitgereist. Lavinj hat ihn nicht aufgegessen, in der Türkei nicht, von wo er in ein Schlauchboot stieg, im Zug quer durch Mazedonien nicht und auch am Busbahnhof in Wien nicht.

18. Oktober, 12.30 Uhr

Nach dem Essen beginnt er von dem Teil seiner Reise zu berichten, an dem der Kontakt abgebrochen war, weil er drei Tage weder Internet noch Telefon hatte. Drei Tage, an denen er durch Matsch gewandert ist, kaum schlief. Woher kannte er den Weg? „Wir sind einfach der Herde gefolgt, wie Schafe“, sagt er. Irgendjemand habe immer gewusst, wo es langgeht. Mal war es eine Frau, mal ein junger Mann. Er selbst hat keine Ahnung, wo genau er lang gekommen ist. Wie in Trance sei er einfach mitgeschwommen im Strom. Wenn er von Ungarn erzählt, sagt er fälschlicherweise Bulgarien, Österreich wird zu „dem letzten Land vor Deutschland“. Gemeinsam zählen wir auf Google Maps die Grenzen, die er in sechs Tagen passiert hat: Es sind sechs.

Die Stimmung unter den Flüchtlingen vergleicht er mit einem Rennen, jeder wollte schnell vorankommen, der erste am nächsten Grenzpunkt sein, wo die Vereinten Nationen und das Internationale Rote Kreuz Essen verteilen. In diesem Rennen fühlte Lavinj sich stets wie einer der Langsamsten. Die befreundeten Frauen, mit denen er unterwegs war, konnten nicht so schnell laufen. Im Zug durch Mazedonien, im Bus und zu Fuß durch Serbien. Von dort mit dem Bus weiter nach Kroatien. Nach der Ankunft in Kroatien habe die Gruppe geglaubt, die Grenze zu Ungarn sei dicht, sagt er. Doch nette Polizisten hätten ihnen weitergeholfen und erzählt, die Grenze sei offen. Also ging es doch durch Ungarn statt durch Slowenien.

„Es fühlte sich ein bisschen an wie Krieg“, sagt er und steht auf, geht unruhig in der Küche umher. An der Grenze zu Ungarn habe ein Polizist eine alte Frau an der Schulter geboxt, sie seien angeschrien worden. Der Tiefpunkt kam in Wien. „Ich war so erschöpft“, sagt er und geht in die Hocke, um zu demonstrieren, wie er sich am Boden zusammengekauert hat. Vier Stunden warteten sie dort, dann nahmen sie den Bus zur deutschen Grenze.

18. Oktober, 15 Uhr

Lavinj schultert seinen kleinen Rucksack, den er eigentlich nicht benötigt, weil er das T-Shirt und die Zahnbürste auch einfach in seine Hosentasche stecken könnte. Er will nach Köln, dort hat er jesidische Freunde aus dem Irak. Nach einem kurzen Besuch bei ihnen wird er sich den deutschen Behörden stellen. Sein braunes Shirt trägt die Aufschrift „The World is Our“.


Wie sich ein Iraker in Deutschland einlebt

18. Oktober 2015

Vier Tage nach seiner Ankunft in Deutschland hat Lavinj sich entschieden: „Ich habe mich nun in einer Stadt namens Wickede-Wimbern registriert. Es ist OK“, schreibt er in einer SMS. Er brauchte ein paar Tage, um sich klar zu werden, wie es weitergehen soll. Soll er wirklich in Deutschland bleiben? Oder weiter nach Schweden? Was wird aus seiner Familie? Doch heute lässt er sich registrieren. Mit einem Bus geht es ins Dörfchen Wimbern. Dort ist er in einem ehemaligen Krankenhaus untergebracht. „Ich habe heute mit meiner Mutter telefoniert. Ich kann nicht aufhören zu weinen“, sagt er. Seine Familie ist noch immer in einem Flüchtlingscamp im Irak. Lediglich einer seiner Brüder ist auch in den USA.

21. Oktober, 23 Uhr

„Hallo, wie geht’s?“, schreibt Lavinj. „Mir ist langweilig.“ Schlafen will er nicht so recht. Denn er liegt in einem Zimmer mit vier Muslimen. Das macht ihm Angst. Vor genau diesen Menschen sei er doch geflüchtet, sagt er. Und jetzt soll er neben ihnen einschlafen?

23. Oktober

Der Facebook-Messenger blinkt: „Hello, I need some help. I am in a small village and there is nothing to buy.“ Wir telefonieren. Lavinj erzählt von seinem ersten Ausflug in die Umgebung. Das Krankenhaus, in dem er wohnt, liegt in einem 800-Seelen-Ort. Ins Städtchen Wickede sind es drei Kilometer, immer die große Bundesstraße entlang. Lavinj wollte dort einkaufen, er hätte gerne ein neues Handy. Und einen Anspitzer für seine Stifte. Im ganzen Ort gebe es keine Anspitzer. Was braucht er sonst? Kleidung und einen Koffer. Gibt es keine Kleiderkammer? Doch, die gebe es, sagt er. Aber er will keine Spenden. Ihm ist es unangenehm, Hilfe anzunehmen. Er habe ja noch etwas Geld, davon könnte er Jeans kaufen. Na gut, sagt Lavinj nach einer Weile, er wolle doch einmal bei der Kleiderkammer vorbei sehen. Aber wenn er irgendwann wieder arbeitet, will er das Geld zurückgeben.

25. Oktober, 13.19 Uhr

Lavinj hat ein Foto von seinen Papieren geschickt. Er bittet darum, es zu übersetzen. „Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender“, steht darauf. Bis zum 20. Januar 2016 darf er nicht arbeiten und kein Studium aufnehmen. Zudem muss er sich im Bezirk seiner Aufnahmeeinrichtung aufhalten. Der Text schließt ab mit: „Der Asylsuchende hat sich unverzüglich zu der für ihn zuständigen Aufenthaltseinrichtung zu begeben.“ Er versteht nicht, was er tun muss, wann er wo Asyl beantragen kann. „Du bist doch Deutsche, kannst du mir nicht helfen, Asyl zu bekommen?“

26. Oktober

Lavinj hat einen Brief geschrieben. An wen er den schicken muss, weiß er nicht. Aber er habe gehört, dass er politisches Asyl gesondert beantragen muss, bei jemandem an ganz hoher Stelle. Im Brief steht: „Ich sehe mich genötigt, politisches Asyl zu beantragen, weil ich bedroht war von Al-Kaida im Schingal, der islamischen Bruderschaft in Sulaimaniyya zwischen 2004-2008 und einmal schossen sie auf mich.

Ich fühlte mich nie sicher in Kurdistan nach dem Genozid in meiner Stadt Schingal. Das veranlasste mich, meine Familie in dieser Hölle zurückzulassen und ins Friedensland zu kommen.“

27. Oktober, 23.30 Uhr

„Bist du noch wach?“, schreibt Lavinj. Er kann nicht schlafen. Er denkt die ganze Zeit nach. An seine Familie, die noch in der Hölle sei. An den Tag im August 2014, als Daesch seine Heimatstadt einnahm, und an den Moment, als seine Schwester ihn bat: „Erschieß‘ mich, wenn ISIS kommt!“

28. Oktober

Heute hatte Lavinj seinen Gesundheitscheck. Schon am Morgen sollte er da sein, doch keiner konnte ihm sagen, wann er an der Reihe ist. Weil er sich nicht traute, den Warteraum zu verlassen, verpasste er das Mittagessen.

02. November

„Übermorgen werde ich nach Rheinbach umziehen“, schreibt Lavinj. In eine permanente Unterkunft. Seinen Asylantrag hat er immer noch nicht stellen können.

03. November

„Bitte Eins Zwei Drei Vier“, tippt er im Chat und macht nach jedem Wort einen Absatz. „Das habe ich heute gelernt“, schreibt er auf Englisch und schiebt hinterher: „Es ist so schwierig zu lernen.“ Sein Deutschkurs hat zwar noch nicht angefangen, aber er will lernen. Er fragt, was „It is hard“ auf Deutsch heißt. Als er es weiß, schreibt er: „Es ist very hart.““Wie muss ich das aussprechen?“, will er wissen. Sprachnachrichten gehen hin und her. Er sagt: „Hallo, wie geht es dir?“ und „Ich heise Lavinj und kame aus demm Iraahk.“ Danach lacht er laut, es klingt befreit.

13. November

„Gasthaus Eifeltor“ steht auf der Leuchtreklame. Lavinj geht um das weiß verputzte Haus herum, das bis vor wenigen Monaten noch ein Traditionslokal im Städtchen Rheinbach, ein paar Kilometer südlich von Bonn, war. Jetzt beheimatet es Gäste wie Lavinj. Gäste, die fliehen mussten – vor Daesch, vor Diktatoren, vor Armut. Lavinj öffnet den Lieferanteneingang und durchquert den Gastraum. Dahinter, zur Straße hin, liegt sein Schlafzimmer. „So, hier ist es“, sagt er, bleibt stehen und blickt sich um. Sechs Feldbetten, eine Kleiderstange, ein paar Lebensmittel auf der Fensterbank. Von den drei Monaten, die er jetzt in Deutschland ist, hat er zwei hier verbracht. Angefangen hatte es im Oktober in der Nähe von Dortmund.

Die Nachricht, dass Sindschar von kurdischen und jesidischen Kämpfern zurückerobert und Daesch vertrieben wurde, verbreitet sich. Lavinj verfolgt die Nachrichten aus der Heimat sehr genau. Es nimmt ihn mit. Ein Großteil der Stadt ist zerbombt.

07. Dezember

Lavinj schickt ein Foto von sich im Schaukelstuhl. Auf seinen Schultern und Beinen sitzen vier kleine Kinder. Es sind die Kinder eines Freundes, den er gerade besucht. Morgen fährt er zu einem weiteren Freund nach Hannover.

09. Dezember

„Vielleicht bleibe ich in Hannover“, sagt Lavinj. Er weiß, dass das nicht erlaubt ist. Asylbewerber dürfen sich nicht aussuchen, in welchem Bundesland sie ihren Antrag stellen. Aber in Hannover gibt es eine große jesidische Gemeinschaft. In Rheinbach, wo er mit Muslimen in einem Zimmer wohnt, fühle er sich nicht wohl. Nachts packe er sein Handy und Portemonnaie unters Kopfkissen. Er traut seinen Zimmergenossen nicht. Die Jahre der Unterdrückung als Jeside haben ihn ängstlich gemacht. Immer wieder erzählt er von seinem Kindheitsfreund, der sich Daesch angeschlossen hat.

11. Dezember

Lavinj ist nach Rheinbach zurückgekehrt. Er will keinen Ärger mit den Behörden.

18. Dezember

„Dieses Amt“, schimpft Lavinj. Er hat die ganze Woche den Sprachkurs verpasst, weil er zum Arzt gehen wollte und für die Genehmigung für die Behandlung tagelang auf dem Sozialamt wartete. Nur in Bremen und Hamburg bekommen Flüchtlinge eine Gesundheitskarte und können direkt zum Arzt. Weil der Allgemeinmediziner ihn nicht sofort an den Facharzt verwies, musste Lavinj noch mal zum Sozialamt – und wieder warten.

28. Dezember

„Wenn du mich Mitte Januar besuchst, trinken wir Kaffee mit Zitrone“, sagt Lavinj lachend. So trinkt man den Kaffee im Irak. Er freut sich auf das Treffen.

01. Januar

„Frohes neues Jahr“, wünscht Lavinj. Er hat Silvester mit syrischen Freunden verbracht. Es sind Männer, die ebenso wie er von Daesch verfolgt wurden. Er wünscht sich für das neue Jahr, keine Albträume mehr zu haben. Und bald seinen Asylantrag stellen zu können.

05. Januar, 21.40 Uhr

„Ich wünschte, ich wäre nie geboren“, bricht es am Telefon aus ihm heraus. Seine Wohnsituation und die Erinnerungen an seine Heimat bedrücken ihn. Er, der als Jeside seit der Kindheit von radikalen Muslimen verfolgt wurde – zunächst von Al-Kaida, dann von Daesch –, lebt mit fünf Männern in einem Raum, von denen er sich bedroht fühlt. Es fällt ihm schwer, darauf zu vertrauen, dass ihm das deutsche Grundgesetz Meinungs- und Religionsfreiheit sichert. Lavinj sagt, er brauche einen Psychologen.

13. Januar, 12.15 Uhr

Lavinj sitzt im Deutschkurs. „Die Susigkeiten“, sagt er langsam. „Ja genau, die Süüüßigkeiten“, wiederholt die Deutschlehrerin. Lavinj lacht. Das „ü“ und das „ß“ sind schwierig für ihn. Vor ihm liegt der Prospekt eines Supermarkts. An diesem Tag, an dem wir uns treffen, sind die Lebensmittel dran. Jeder soll sagen, was er gern isst. „Ich esse gerne Fisch“, sagt ein Mann, ein anderer trinkt gern Milch. Lavinj liebt die Herausforderung: „Ich esse gern Granatapfel“, sagt er und lächelt stolz, als er das schwierige Wort ausspricht. Drei Mal in der Woche lernt Lavinj Deutsch. Wenn er einen schlechten Tag hat, also viel an seine Heimat und Familie denken muss, kommt er nicht. Dann kann er sich nicht aufs Lernen konzentrieren.

13. Januar, 15 Uhr

Oliven, Frischkäse, Thunfisch, Wurst und Rührei stehen auf dem Tisch, an dem Lavinj mit seinen neuen syrischen Freunden sitzt und Mittag isst. Er reißt sich ein Stück Pita-Brot ab und tunkt es in den Frischkäse. Dabei erzählt er von der Zeit im Irak, als er noch „in Form“ war, wie er sagt. Als er sportlich war und in den Bergen kletterte. „Einmal bin ich stecken geblieben, und meine Freunde mussten mich retten“, sagt er und lacht lauthals. Die anderen Männer stimmen ein. In diesen Momenten mit seinen Freunden ist er unbeschwert. Er zeigt Fotos von sich: im Handstand, kletternd am Berg, mit Händen in der Hüfte. Bei seinen christlichen Freunden fühlt sich Lavinj wohl. „Sie sind wie meine Familie.“ Wenn er nicht gerade bei ihnen ist, verbringt er die Nachmittage mit seiner Gitarre. Oder er läuft zu einem Bauernhof, 30 Minuten entfernt. „Dort sitze ich dann und schaue in die Natur“, sagt er. „I love the landscape in Dütschland.“ Er mag die Hügel und Berge, die grünen Wiesen. Doch oft wird er nachdenklich. In wenigen Tagen ist er genau drei Monate hier. Dann darf er arbeiten – wenn kein Europäer den Job machen will. Lavinj will arbeiten. Dann hat er nicht mehr so viel Zeit für Grübeleien.

13. Januar, 16.30 Uhr

Lavinj steht wieder vor dem Gasthaus. Nennt er es sein Zuhause? „Ja“, sagt er spontan. Sein Zuhause im Irak ist zerstört. Dann überlegt er noch mal und meint: „Ein richtiges Zuhause ist es noch nicht, eher ein Ort.“ Kann er sich vorstellen, für immer hier zu bleiben? „So lange ich hier sicher bin.“

15. Januar 2016

Das Handy klingelt. Es ist Lavinj, die Worte sprudeln aus ihm heraus: Er hat vom Arzt eine Überweisung an einen Psychologen bekommen. Er weiß, dass die Therapie nicht einfach wird. Aber er will es versuchen.

Quelle: Weser Kurier


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