Jun 152016
 

Europa in einer tödlichen Spirale?

Der belgische Althistoriker David Engels über die Terroranschläge von Brüssel, den Selbstbetrug des Westens – und die Parallelen zum Niedergang der Römischen Republik.

Herr Engels, die „Hauptstadt Europas“ wurde unlängst Ziel terroristischer Anschläge. Ende vergangenen Jahres, nach dem Terror von Paris, glich Brüssel wegen der Fahndung nach den damaligen Attentätern schon einmal einer Festung. Sie haben Ihren Arbeitsplatz in Brüssel, leben etwas außerhalb der Stadt. Hat sich das Leben in den vergangenen Monaten verändert?
David Engels: Es ist schon eine seltsame Erfahrung, in einem Land zu leben, das sich in relativ kurzer Zeit von einer traditionell weltoffenen Gesellschaft zu einem zunehmend militarisierten Staatswesen entwickelt hat, wo selbst in Kleinstädten Militär und Polizei omnipräsent sind und die muslimische Bevölkerung zunehmend unter Generalverdacht steht – was leider in Anbetracht der bedeutsamen Rolle, die Belgien im Netzwerk des europäischen Fundamentalismus spielt, kaum erstaunt. Trotzdem will sich ein vergrößertes Sicherheitsbedürfnis nicht einstellen, und die Ereignisse vom 22. März haben ja auch gezeigt: Es ist einfach unmöglich, sich wirksam vor Selbstmordattentätern zu schützen. Im Gegensatz zu kriminellen Organisationen lässt sich der terroristische Fundamentalismus ja auch nicht einfach aus der Welt schaffen, indem man die eine oder andere Organisation zerschlägt, ohne die Wurzeln des Problems anzupacken.

Wo liegen diese Wurzeln?
Schon in meinem 2012 entstandenen Buch „Auf dem Weg ins Imperium“ hatte ich darauf hingewiesen, dass nicht nur die belgische, sondern die gesamte europäische Gesellschaft in eine tödliche Spirale eingetreten ist, in welcher aus kurzsichtigem Wettbewerbsdenken, Kasinokapitalismus und naiv-optimistischer Political Correctness notwendigerweise Frustration, Wirtschaftskrise, Fundamentalismus, Terrorismus, Populismus und am Ende unweigerlich der Sicherheitsstaat entstehen müssen. Die Ereignisse scheinen das vollauf zu bestätigen – leider.

Im Sommer 2005, unmittelbar nach den damaligen Anschlägen von London, sagte der israelische Philosoph Avischai Margalit in einem Interview: „Wenn wir uns abschotten und von offenen Gesellschaften zu ängstlichen, paranoiden Gesellschaften werden, dann hätte der Okzidentalismus gesiegt, dann gäbe es nichts mehr zu verteidigen!“ Stimmen Sie zu?
Diese Aussage scheint mir arg eurozentrisch zu sein. Als Historiker bereitet es mir immer wieder Bauchgrimmen, die europäische Kultur als solche verkürzt mit der „offenen Gesellschaft“ des späten 20. Jahrhunderts gleichgesetzt zu sehen. Zum einen hat Europa der Menschheitsgeschichte doch noch ein paar andere wunderbare Dinge neben der „offenen Gesellschaft“ geschenkt, sei es die gotische Architektur, die Malerei der Renaissance, die Musik des Barockzeitalters oder die Philosophie des 19. Jahrhunderts. Zum anderen finden sich auch in vielen anderen historischen Gesellschaften Phasen erstaunlicher Offenheit, denkt man an Rom in der späten Republik, Chang’an unter den Han-Kaisern oder an Bagdad zur Zeit der frühen Abbasiden. Gerade wir Europäer sollten endlich zu der Einsicht kommen, dass Offenheit und Toleranz eben nicht rein europäische Werte sind, sondern auch in anderen Kulturen gelebt wurden, wenn die Konstellation günstig war. Und solche Phasen der Offenheit führen es leider auch mit sich, dass sie früher oder später wieder zu Abschottung führen, vor allem, wenn sie aggressiv nach außen gelebt und von anderen als arrogante Bedrohung der eigenen Identität empfunden werden.

In dieser Hinsicht hat sich der Westen auch in der jüngsten Vergangenheit nicht gerade rühmlich hervorgetan.
Wer die gewachsenen Strukturen Afghanistans und des Irak zerschlägt, um dort westliche Staats- und Wirtschaftsmodelle einzupflanzen, wer Libyen, Ägypten und Syrien im Bürgerkrieg versinken lässt, weil er glaubt, aus dem Arabischen Frühling würden gleichsam von selbst westliche Demokratien entstehen, gleichzeitig aber im sicheren Europa beständig seine eigene Offenheit rühmt, der darf sich nicht wundern, wenn es mit dieser Offenheit bald vorüber ist. Das sehen wir nicht nur in Brüssel, sondern auch in vielen belgischen Kleinstädten nahezu jeden Tag. Mit Bequemlichkeit, Kalkül und Feigheit erkaufen wir den eigenen Frieden.

Schon in der Antike wurden die historischen Abläufe analysiert, welche zum Aufstieg und Fall großer Mächte führten. Hat man in Europa, angesichts von mehr als sieben Jahrzehnten Frieden, das Bewusstsein für die Tragik historischer Abläufe verloren, welche Paul Valery einst mit den Worten ausdrückte: „Und wir sehen jetzt, dass der Abgrund der Geschichte Raum hat für alle“?
Die 70 Jahre Frieden schrumpfen schnell zusammen, wenn man genauer hinsieht. Die schrecklichen Jahrzehnte des Kalten Krieges, als uns paradoxerweise nur die Angst vor atomarer Eskalation davor bewahrte, zum Schauplatz der Auseinandersetzung zweier hochgerüsteter politischer Giganten zu werden, sind kaum als echte Friedensjahre zu betrachten. Und auch in der Folge wurde Europa durch den langjährigen, eigentlich bis heute schwelenden Jugoslawienkrieg wie auch durch den gegenwärtigen ukrainischen Bürgerkrieg übel heimgesucht. Nein, den Frieden kann nur ausmachen, wer nicht wirklich hinschauen will, und das wollen heute nur die wenigsten. So hat sich denn auch der eigentlich sehr zynische Eindruck eingebürgert, im „Frieden“ zu leben, und die noch zynischere, weil unerträglich selbstzufriedene Einschätzung, diesen Frieden unserer eigenen, angeblich „zivilisierten“ Gesellschaftsordnung zu verdanken, also ein „Anrecht“ auf ihn zu haben. Dahinter steht freilich nur, dass wir zum einen das Kriegführen unserem amerikanischen Bündnispartner überlassen, um uns danach über ihn zu beklagen – und uns gegen klingende Münze am „Wiederaufbau“ zu beteiligen. Zum anderen, dass unsere Politiker jede Gelegenheit, bei der es eigentlich gelten würde, in unserem eigenen Interesse außenpolitisch und notfalls auch militärisch tätig zu werden, geflissentlich übersehen, um die Wahlbürger durch den Anblick einiger Särge nicht zu vergraulen. So haben Bequemlichkeit, Kalkül und, seien wir ehrlich, Feigheit eine Situation geschaffen, in welcher wir uns den eigenen Frieden dadurch erkaufen, dass wir nicht hinschauen, wenn anderswo Krieg herrscht.

Immerhin Frieden, und sei er auch erkauft.
Nein. Denn auf diese Weise bewirken wir letztlich nur, dass der Krieg sich unweigerlich unseren Grenzen nähert. Tatsächlich hat uns der Krieg schon längst erreicht – man denke nur an die fast monatlichen Attentatsopfer in den europäischen Großstädten. Mit dem Unterschied, dass dort Frauen und Kinder, aber keine Soldaten sterben müssen.

Roemischeprovinzentrajan

Römisches Reich Wikimedia Autor: FJ-de

In Ihrem Buch „Auf dem Weg ins Imperium: Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der Römischen Republik – historische Parallelen“ schreiben Sie: „Es gibt Zeiten in der Geschichte der Menschheit, in denen Optimismus einfach nur Feigheit und unverantwortliche Verblendung bedeutet.“ Wie kann man der asymmetrischen Kriegsführung, der wir uns heute ausgesetzt sehen, aber begegnen? Pessimismus oder Fatalismus wären doch auch keine Lösung.
Das hängt von der Definition von Optimismus ab. Pessimismus bedeutet nicht gleich Fatalismus, und selbst Fatalismus muss nicht Feigheit implizieren. Europa befindet sich seit mehreren Jahrzehnten in einem unaufhaltsamen Niedergang, den nur der nicht sehen kann, der aus ideologischen Gründen für eine realistische Einschätzung historischer Kategorien unzugänglich ist. Nie war in der jüngeren Geschichte die Arbeitslosigkeit höher, nie waren die Staatsschulden größer, nie die Auslagerungen der Betriebe bedrohlicher, nie war die Masseneinwanderung, ebenso wie die Integration der Immigranten umstrittener. Ganz zu schweigen vom schwindenden außenpolitischen und wirtschaftlichen Gewicht Europas, den geringen Aussichten auf einen Konjunkturaufschwung, einem enormen Glaubwürdigkeitsverlust der Politik. Und die Liste ließe sich fortsetzen. Wer da dem Bürger verspricht, ihn glorreichen Zeiten entgegenzuführen, oder von den Segnungen der liberalen, globalisierten und multikulturellen Gesellschaft schwärmt, ist einfach weltfremd, ja schon fast unverantwortlich. Das wird übrigens auch in ganz Europa mittlerweile so gesehen.

In Deutschland eher nicht.
Deutschland mit seiner noch relativ zufriedenstellenden und meist auf Kosten seiner Nachbarn gesicherten Wirtschaftslage als Exportgigant bildet eine Ausnahme. Und auch das wohl nur vorübergehend. Nur eine pessimistische Einschätzung unserer Zukunft ermöglicht es, einen realistischen Pragmatismus zu entwickeln, um wenigstens das Schlimmste zu vermeiden – vom allmählichen Versinken in Rezession bis zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

Sie haben Parallelen gezogen zwischen dem Untergang der Römischen Republik und der Lage in den heutigen europäischen Gesellschaften. Die EU existiert aber erst seit einigen Jahrzehnten, die Römische Republik bestand mehrere Jahrhunderte. Haben wir es mit einer beschleunigten historischen Entwicklung zu tun?
Tatsächlich sind die Parallelen zwischen der Niedergangsphase der Römischen Republik, also dem ersten Jahrhundert vor Christus, und der gegenwärtigen Krise der europäischen Gesellschaft augenfällig. Arbeitslosigkeit, Globalisierung, Niedergang traditioneller Religionen und Werte, Populismus, Brot und Spiele, Kriminalität, Staatsschuld, Massenimmigration, asymmetrische Kriege, massive Verflechtung von Wirtschaft und Politik, Fundamentalismus, Terrorismus und schließlich das allmähliche Versinken in Rezession: All das prägt eben nicht nur unsere Gegenwart, sondern auch die letzten Jahre der Römischen Republik, bevor sie an ihren inneren Widersprüchen zerbrach und in einen plebiszitär verbrämten, tatsächlich aber autoritären Sicherheitsstaat überging. Die übergeordneten historischen Parameter sind ebenfalls vergleichbar. Zum einen war die Mittelmeerherrschaft der Römischen Republik zu Beginn der Krise auch erst ein Jahrhundert alt, also nicht wesentlich älter als die europäischen Gemeinschaften. Zum anderen war diese Krise ein generelles Charakteristikum der gesamten, unter der lockeren Ägide Roms vereinigten griechisch-römischen Staatenwelt. Ebenso wie heute alle Mitgliedstaaten der EU ähnliche innere Zerfallserscheinungen zeigen, denen dementsprechend auch nur durch eine gemeinsame Politik begegnet werden kann.

EU

Quelle: Wikipedia

Ihre historische Analogie stimmt in der Tat wenig optimistisch.
Als ich 2012 die französische Erstausgabe meines Buches fertigstellte, waren manche Leser und Rezensenten überaus skeptisch, als ich der westlichen Staatenwelt, gestützt auf den Vergleich mit Rom, einen weiteren wirtschaftlichen Niedergang, eine immer größere europäische Bevormundung schwacher Mitgliedstaaten, bürgerkriegsähnliche Zustände in den Großstädten und den unweigerlichen Aufstieg populistischer Parteien ankündigte. Heute, nachdem wir bei Negativzinsen, der Fremdverwaltung Griechenlands, den fast monatlichen grausigen Attentaten überall in Europa und den Wahlerfolgen von AfD, Front National, Ukip und Donald Trump angekommen sind, ist die Kritik verstummt.

Wurde Ihre Analyse der Parallelen zwischen dem Niedergang der Römischen Republik und den aktuellen Problemen der EU eventuell durch Ihre Erfahrungen als Bürger Belgiens beeinflusst, basierend auf den anhaltenden innenpolitischen Problemen dort?
Gut möglich. Meine Geburtsstadt, Verviers, im 19. Jahrhundert eine wohlhabende Hochburg der europäischen Textilindustrie, hat mit ihren nur 70.000 Einwohnern eine mit Griechenland vergleichbare Arbeitslosenquote und erinnert in seiner Bevölkerungszusammensetzung an Duisburg-Marxloh. Jeder zweite Laden steht leer, viele öffentliche Gebäude verfallen, Drogen- und Alkoholkonsum sind brennende soziale Fragen. Und bei Anbruch der Dunkelheit wagen sich nur die wenigsten auf die Straße. Niedergang, schwelender Bürgerkrieg und der Ruf nach der starken Hand sind hier keine bloßen fixen Ideen, sondern alltägliche Realität. Dazu kommt dann noch die starke Präsenz des islamischen Fundamentalismus, der gerade in Verviers eine seiner Hochburgen hat. Das wurde erst vor wenigen Wochen wieder deutlich, als einige Hundert Meter von meiner Wohnung ein Haus von der Polizei regelrecht belagert wurde und in der Straße sogar Handgranaten explodierten.

Aber solche Brennpunkte sind doch nicht beispielhaft für ganz Belgien.
Verviers ist kein Einzelfall: Charleroi, Lüttich und selbst die Vorstädte der europäischen Hauptstadt Brüssel sind von ganz ähnlichen Problemen gekennzeichnet. Das öffnet einem fraglos die Augen für viele Krisenfaktoren und macht die schreckliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage unmittelbar nachvollziehbar, die viele Griechen, Spanier, Italiener und Osteuropäer ertragen müssen und die sich mittlerweile auch auf Frankreich ausdehnt. Deutschland ist eine Insel der Seligen und sonnt sich oft genug im Fehlschluss, nicht nur seinen eigenen Wohlstand auf Fleiß und Verfassungstreue, sondern auch die Armut der anderen auf Faulheit und Korruption zurückführen zu dürfen. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis die gravierenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Probleme seiner Nachbarstaaten auch Deutschland eingeholt haben werden, und der demografische Niedergang mitsamt der gegenwärtigen Migrationskrise werden diesen Prozess nur beschleunigen.

Was würde das bedeuten?
Sollte unter der Erfahrung dieser unabwendbaren Rezession der naive Glaube an die sogenannte soziale Marktwirtschaft und an den Verfassungspatriotismus zerstört werden, die seit 1945 an die Stelle der „historischen“ kulturellen Identität getreten sind, darf man wohl gerade in der Bundesrepublik mit einem gravierenden Wandel des Wahlverhaltens und einer Destabilisierung der gesamten EU rechnen.


Quelle: Cicero – 5. 2016
Das Gespräch führte Ramon Schack
David Engels wurde 1979 in Verviers nahe der deutschen Grenze geboren und ist Professor für Römische Geschichte an der Brüsseler Université libre. Er gilt als einer der interessantesten Intellektuellen seines Landes und ist Autor zahlreicher Bücher.


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