Aug 172016
 
Nachhaltiges Wachstum

Von Joseph Stiglitz

SOWOHL DIE LINKEN ALS AUCH DIE RECHTEN behaupten, den richtigen Weg zu wirtschaftlichem Wachstum zu kennen. Sollten Wähler, die sich zwischen beiden Seiten entscheiden müssen, also so vorgehen, als müssten sie zwischen verschiedenen Managementteams wählen?

Wenn es nur so einfach wäre! Zum Teil hat das Problem mit Glück zu tun. In den 199oer-Jahren profitierte die amerikanische Wirtschaft von niedrigen Energiepreisen, einem hohen Innovationstempo und dem wachsenden Angebot hochwertiger Güter zu sinkenden Preisen aus China. Gemeinsam ermöglichten diese Faktoren rasches Wachstum bei geringer Inflation.

Präsident Clinton und der damalige Fed-Chef Alan Greenspan hatten zu diesem Erfolg kaum beigetragen – obwohl eine schlechte Politik natürlich negative Auswirkungen gehabt hätte. Im Gegensatz dazu wurden die Probleme, mit denen wir heute kämpfen – hohe Energie- und Nahrungsmittelpreise sowie ein vom Zusammenbruch bedrohtes Finanzsystem -, vor allem von schlechten politischen Entscheidungen heraufbeschworen.

Joseph Stiglitz 2012 im Rathaus Köln
© Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0
(via Wikimedia Commons)

Tatsächlich gibt es große Unterschiede zwischen den Wachstumsstrategien von Linken und Rechten, und daher ist sehr wahrscheinlich, dass sie zu verschiedenen Ergebnissen kommen werden. Der erste Unterschied bezieht sich darauf, was überhaupt unter Wachstum zu verstehen ist. Wirtschaftswachstum ist nicht auf den Anstieg des Bruttoinlandsprodukts beschränkt. Es muss nachhaltig sein: Ein auf Umweltzerstörung, einem mit Schulden finanzierten Konsumrausch oder der Ausbeutung knapper natürlicher Ressourcen beruhendes Wachstum, dessen Erträge nicht reinvestiert werden, ist nicht nachhaltig.

Wachstum muss auch integrativ sein: Zumindest die Mehrheit der Bevölkerung muss davon profitieren. Die Trickle-Down-Theorie funktioniert nicht: Ein Anstieg des BIP kann durchaus dazu führen, dass sich die Lage der meisten Bürger verschlechtert. In jüngster Zeit ist das Wachstum der Vereinigten Staaten weder wirtschaftlich nachhaltig noch integrativ gewesen. Den meisten Amerikanern geht es heute wirtschaftlich schlechter als vor sieben Jahren.1

Aber es muss zwischen Ungleichverteilung und Wachstum abgewogen werden. Der Staat kann das Wachstum anregen, indem er die Integration aller Gesellschaftsschichten fördert. Die wertvollste Ressource jedes Landes ist seine Bevölkerung. Es muss also dafür gesorgt werden, dass alle Menschen ihr Potenzial ausschöpfen können, und das erfordert Bildungschancen für jeden.

Außerdem kann eine moderne Volkswirtschaft nur funktionieren, wenn die Menschen bereit sind, Risiken einzugehen. Sie werden eher dazu bereit sein, wenn es ein gutes soziales Sicherungsnetz gibt. Wenn nicht, verlangen die Bürger möglicherweise Schutz vor ausländischer Konkurrenz. Eine gute soziale Absicherung ist effizienter als Protektionismus.

Gelingt es nicht, für soziale Solidarität zu sorgen, so drohen noch weitere Kosten, darunter soziale und private Ausgaben, um Eigentum zu schützen und Straftäter zu inhaftieren. Schätzungen zufolge werden in wenigen Jahren in den Vereinigten Staaten mehr Menschen im Sicherheitssektor als in der Bildung arbeiten. Ein Jahr im Gefängnis kann sehr viel teurer sein als ein Jahr in Harvard. Die Kosten der Inhaftierung von zwei Millionen Amerikanern – das ist gemessen an der Einwohnerzahl eine der höchsten Raten der Welt – sollten vom BIP abgezogen werden – stattdessen werden sie jedoch dazugerechnet.

Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Linken und Rechten betrifft die Rolle des Staates im Bemühen, die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Die Linke glaubt, dass der Staat eine unverzichtbare Rolle spielt: Er muss Infrastruktur und Bildung anbieten, neue Technologien entwickeln und sogar als Unternehmer auftreten. Staatliche Einrichtungen schufen die Grundlagen für das Internet und die moderne Biotechnologie. Im 19. Jahrhundert schuf die Forschungsarbeit an den öffentlichen amerikanischen Universitäten die Grundlage für die technologische Revolution in der Landwirtschaft, und der Staat vermittelte diese Fortschritte an Millionen von amerikanischen Landwirten. Staatliche Kredite für kleine Unternehmen haben es nicht nur ermöglicht, neue Unternehmen aufzubauen, sondern auch neue Industriezweige zu unterstützen.

Der letzte Unterschied mag etwas seltsam erscheinen: Die Linke hat mittlerweile die Märkte verstanden und weiß, welche Rolle diese in der Wirtschaft spielen können und sollten. Die Rechte, insbesondere die amerikanische Rechte, versteht die Märkte hingegen nicht. Die neue Rechte, deren typischer Vertreter die Regierung Bush-Cheney ist, steht in Wahrheit für den alten Korporatismus in neuem Gewand.

Diese Leute sind keine Liberalen. Sie glauben an einen starken Staat mit weitreichenden exekutiven Befugnissen, die sie jedoch einsetzen wollen, um etablierte Interessen zu verteidigen, ohne den marktwirtschaftlichen Prinzipien allzu große Aufmerksamkeit zu schenken. Die Liste der Beispiele ist lang: Sie beinhaltet Subvention für große Agrarbetriebe, Zölle zum Schutz der Stahlindustrie und in jüngster Zeit die milliardenschweren Rettungsprogramme für Bear Stearns, Fannie Mae und Freddie Mac. Der Widerspruch zwischen Rhetorik und Realität ist nichts Neues: Unter Präsident Reagan wurde der Protektionismus ausgeweitet – er schloss sogar »freiwillige« Exportbeschränkungen für japanische Autobauer ein.

Hingegen versucht die neue Linke, die Funktionstüchtigkeit der Märkte zu gewährleisten. Die Märkte funktionieren nicht gut, wenn sie sich selbst überlassen werden, wie das Debakel des Finanzsektors deutlich zeigt. Manche Anhänger der freien Marktwirtschaft räumen ein, dass er tatsächlich hin und wieder versagt und sogar katastrophal versagt, aber sie beharren darauf, dass der Markt seine Fehler selbst korrigiert. In der Depression der 1930er- Jahre wurden ähnliche Argumente vorgebracht: Die Regierung müsse nicht eingreifen, da die Märkte die Vollbeschäftigung langfristig wiederherstellen würden. Aber wie John Maynard Keynes so treffend feststellte: Langfristig werden wir alle tot sein.

Die Märkte korrigieren ihre Fehler nicht innerhalb einer Zeitspanne, die für die Menschen relevant ist. Keine Regierung kann tatenlos Zusehen, wie ihr Land in die Rezession oder sogar in eine Depression schlittert, selbst wenn diese Krise durch die übermäßige Gier von Bankiers oder durch eine Fehleinschätzung der Risiken durch die Wertpapiermärkte und Ratingagenturen verursacht wurde. Aber wenn der Staat die Krankenhausrechnung der Wirtschaft bezahlen soll, muss er die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um künftig eine Einweisung ins Krankenhaus zu vermeiden. Das Mantra der Deregulierung von den Rechten war einfach falsch, und jetzt müssen wir alle den Preis dafür bezahlen. Und der Preis (in Form einer verminderten gesamtwirtschaftlichen Produktion) wird hoch sein: Allein in den Vereinigten Staaten könnte er sich auf 1,5 Billionen Dollar belaufen.

Die Rechte zitiert oft Adam Smith als ihren geistigen Vater, aber Smith sah nicht nur die Macht des Marktes, sondern auch seine Grenzen. Schon zu seiner Zeit wussten die Unternehmen, dass sie ihre Gewinne durch Preisabsprachen mit ihren Konkurrenten leich¬ter erhöhen konnten als dadurch, innovative Produkte effizienter zu erzeugen. Daher bedarf es wirksamer Antitrust-Gesetze.

Es ist leicht, eine Party zu veranstalten. Eine Weile haben alle Spaß. Nachhaltiges Wachstum anzuregen ist sehr viel schwieriger. Heute hat die Linke im Gegensatz zur Rechten einen schlüssigen Plan, der nicht nur ein höheres Wachstum, sondern auch soziale Gerechtigkeit beinhaltet. Daher sollte den Wählern die Entscheidung leicht fallen.


Meines Erachtens ist die Trickle-Down-Theorie – die wirtschaftspolitische Anschauung, wonach Einkommenszuwächse der Reichen automatisch zu den Ärmeren durchsickerten – völlig falsch. Überall auf der Welt steigen bei ausreichender Nachfrage (und wenn einige andere Voraussetzungen erfüllt sind, etwa Zugang zu Kapital und eine bedarfsgerechte Infrastruktur) die Kreativität und die unternehmerischen Initiativen. So gesehen sind die Verbraucher die eigentlichen »Beschäftigungsmotoren«. Dass die amerikanischen und europäischen Volkswirtschaften keine Arbeitsplätze geschaffen haben, liegt dann daran, dass stagnierende Einkommen eine stagnierende Nachfrage bedeuten. Tatsächlich liegen die Löhne gegenwärtig in vielen europäischen Ländern unter ihrem Niveau zu Anfang der Krise. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass das Einkommen der amerikanischen Durchschnittsfamilie heute niedriger ist als vor 25 Jahren. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass die Nachfrage stagnierte…

Wann hat diese Zunahme der Ungleichheit begonnen? Und worauf ist sie zurückzuführen? Meine Antwort darauf deckt sich mit den Erkenntnissen anderer Wissenschaftler: ungefähr mit dem Beginn der Amtszeit der Regierung Reagan. Auch wenn gewisse Maßnahmen von Präsident Reagan höchstwahrscheinlich zu dieser Zunahme der Ungleichheit beitrugen – etwa steuerrechtliche Änderungen, von denen die Superreichen enorm profitierten -, muss man das Phänomen aus einer umfassenderen Perspektive betrachten. So wie Thomas Piketty in seinem Buch: In vielen Industrieländern begann die Ungleichheit ungefähr zur gleichen Zeit zuzunehmen. Die »Reformen«, die dem Zeitgeist der 198oer-Jahre verpflichtet waren, entfalteten in einem Land nach dem anderen ihre Wirkung. Zu diesen Reformen gehörte nicht nur die Senkung der Spitzensteuersätze, sondern auch die Liberalisierung der Finanzmärkte.

So rekapitulieren wir zum Schluss noch einmal die Kernaussagen vom Anfang des Buches: Unsere Ungleichheit – das extreme Ausmaß, das sie erreicht hat, die Formen, die sie angenommen hat – ist nicht unvermeidlich, und sie ist nicht das Ergebnis unabänderlicher ökonomischer oder physikalischer Gesetze. Wir können sie durch unsere politischen Maßnahmen beeinflussen, die ihrerseits das Ergebnis unserer politischen Prozesse sind. Für diese Ungleichheit haben wir einen hohen Preis gezahlt – einen Preis, den wir im vergangenen Jahrzehnt mit der Entstehung der Krise und ihren Folgen besonders deutlich zu spüren bekamen. Und wenn wir die Politik nicht ändern, die dazu geführt hat, wird der Preis, den wir in Zukunft dafür zahlen, noch viel größer sein.


Quelle: Joseph Stiglitz, Reich und Arm, Siedler 2015, Seite 477 bis 480
Der obere Beitrag stammt aus dem dem Project Syndiate, 6. Juni 2008. Der untere Beitrag ist dem Nachwort des Buches auf Seite 486 entnommen.
Joseph E. Stiglitz ist ein US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Columbia University sowie Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2001.