Okt 262016
 
Grenzerfahrungen im Einsatz für Mitbestimmung

Beitrag zum Thema „Grenzen“ der ÖJD-Senioren-Tagung Oktober 2016 in Neudietendorf

Von Christoph Schnyder

Einleitung

Jede wahre Demokratie ist ein Versuch, den Bürgern Mitbestimmung im politischen Geschehen zu gewähren. Sie sollen Einfluss haben darauf, wie ihr Staat für ihr Wohl und Wehe sorgt und wie er mit ihrem Wohl und Wehe umgeht. Mitbestimmung ist ein Grundelement jeder wahren Demokratie. –

Ich möchte im Folgenden darüber sprechen, wie ich in meinem Einsatz für Mitbestimmung an Grenzen gestossen bin und immer noch darauf stosse.
Stichworte zum Thema Grenzen:

  • Es gibt natürliche Grenzen. Ich denke dabei nicht an Flussläufe und Gebirge, welche Grenzen zwischen Ländern setzen. Ich denke daran, dass ich in meinem persönlichen Leben an natürliche Grenzen stosse: Das gilt für meine körperlich-physischen Kräfte – ich kann viele Bergtouren nicht mehr machen, die ich früher spielend bewältigt habe – es gilt auch für meine verstandesmässig intellektuellen Kräfte. Es gibt natürliche Grenzen: Ich denke an Krankheit, ich denke an den Tod. Es ist eine der grössten Herausforderungen des Lebens zu lernen, mit unseren natürlichen Grenzen umzugehen. – Und ich denke an die vielleicht wichtigste natürliche Grenze: an meinen Nächsten, an meinen Mitmenschen. Ich weiss: Mein Nächster ist viel mehr als nur Grenze, aber er/sie sind auch Grenze. Er, sie ist das Du und ist meine Grenze.
  • Es gibt gesellschaftliche Grenzen. Wir erleben sie als Kind: zuerst in der Familie, dann in der Schule …, später als Erwachsene am Arbeitsplatz, im Staat, auch wieder in der Familie und, und … Ich gehe nur kurz auf die Grenzen ein, die der Staat setzt: Er schreibt uns mit ungezählten Regeln und Gesetzen vor, wie wir uns im Verkehr verhalten müssen; Er schickt uns die Steuerrechnung, die wir bezahlen müssen;

Er hat in Gesetzen festgelegt, wie wir uns gegenüber dem Nächsten verhalten müssen:

  • Du sollst nicht töten
  • Du sollst nicht stehlen
  • Du sollst nicht falsches Zeugnis reden

Wenn wir uns nicht an die vom Staat vorgeschriebenen Gesetze halten, werden wir bestraft: gebüsst und notfalls ins Gefängnis gesteckt. –

Und es gibt Grenzen, die wir uns persönlich setzen:

  • Die Abstinenten und Abstinentinnen setzen sich die Grenze, dass sie keine alkoholischen Getränke zu sich nehmen wollen;
  • Die Veganer, Männer und Frauen, setzen sich die Grenze, dass sie keinerlei tierischen Produkte weder essen noch brauchen wollen;
  • Es gibt Christen und Christinnen, die sich die Grenze setzen, dass sie nur mit ihrem Ehepartner schlafen wollen.

Ihr könnt die Liste aus eigener Erfahrung beliebig fortsetzen.

In mir ist in meinen jungen Erwachsenenjahren die Überzeugung gewachsen, dass ich mich für Mitbestimmung einsetzen will. Ich habe oben gesagt, dass eine der natürlichen Grenzen meines Lebens mein Nächster, mein Mitmensch ist. Mitbestimmung bedeutet, dass ich das ernst nehme und in mein Leben integriere: Mein Wollen und meine Interessen finden ihre natürliche Grenze an und in meinen Mitmenschen. Davon will ich mit zwei ganz verschiedenen Beispielen erzählen:

  • Das erste betrifft meinen Arbeitsplatz in Basel in den Jahren 1987 bis 1997;
  • Das zweite mich als Bürger im Schweizerischen Staat.

Beziehung der Basler Mission zu ihren afrikanischen Partnern in den Jahren 1987 – 1997

Ich habe von 1987 bis 1997 als Afrikasekretär in der Leitung der Basler Mission (=BM) mitgearbeitet. Die Führungsstruktur der BM war zu der Zeit ein merkwürdiges Gemisch von Mitbestimmung und Hierarchie, änderte aber in den 90er Jahren in Richtung stärkerer Hierarchisierung. Ich will darauf nicht näher eingehen.

1990 wurde die BM 175 Jahre alt. Die Leitung in Basel beschloss schon 1988, in einem partnerschaftlichen Prozess eine Konferenz vorzubereiten, in der von den Partnern selbst beauftragte Delegierte aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa darüber beraten sollten, wie es mit der BM weitergehen solle. Die Delegierten kamen im Juni 1990 in der Tagungsstätte Gwatt am Thunersee in der Schweiz zusammen und erarbeiteten in einer knappen Woche mit 62 Empfehlungen eine Vision, wie sich die BM auf den Weg zu einer weltweiten synodalen Struktur begeben solle. – Der Präsident der BM war überzeugt, dass die Leitung in Basel diese Synodalstruktur entwerfen müsse, wenn die grosse Vision je Wirklichkeit werden solle. Er arbeitete den Entwurf aus und stellte eine Firma für Organisationsentwicklung an, welche den Auftrag hatte, die Leitung in Basel mit dem Entwurf vertraut zu machen. Er hoffte, dass der Entwurf schon im September 1991 in der alljährlichen Leitungskonferenz angenommen und dann im Januar 1992 eingeführt werde.

Als ich den Entwurf im Mai 1991 endlich einsehen konnte, stellte ich fest, dass er in wichtigen Punkten von den Empfehlungen der afrikanischen Delegierten abwich. Ich machte darauf aufmerksam, fand aber kein Gehör. Wenige Wochen vor der entscheidenden Leitungskonferenz kam der Generalsekretär der Presbyt. Kirche in Kamerun auf seiner Dienstreise nach Deutschland in Basel vorbei. Ich hatte den Präsidenten informiert, dass ich ihm die geplante Neustruktur zeigen werde. Der Generalsekretär schaute sich den Entwurf an und meldete schwerwiegende Kritik an. Ich fasse sie in 4 Punkten zusammen:

  •  Die neue Struktur legt alles Gewicht auf die Schaffung einer synodalen Struktur innerhalb der einzelnen Kontinente, für die Afrikaner also eine Synodalstruktur in Afrika. Wir Afrikaner fragen aber: was ist unser Platz bei Euch in Europa.
  • Einmal mehr soll Afrika durch einseitige Entscheide in Europa von Gesprächen und vom Streit mit den Partnern in Europa ferngehalten werden.
  • Wir hofften durch den engeren Kontakt mit den europäischen Kirchen – unterstützt von ihnen – auch Zugang zu politischen Gesprächen in Europa zu finden. Er wies auf die damaligen Maastricht-Pläne hin. Ich interpretiere aus heutiger Sicht: Er befürchtete, dass die BM durch ihre Abschottung mithelfe, die Festung Europa auszubauen, durch die Afrikaner genau von den Entscheidungen ferngehalten werden, die für sie wichtig sind.
  • Der Generalsekretär hielt in aller Klarheit fest, dass das bisherige Verhältnis zwischen BM und den afrikanischen Partnern die Mitsprache in Basel und in Europa gewährte. In der neuen Struktur wäre diese Mitsprache kaum mehr möglich.

Der Generalsekretär der Kameruner Kirche informierte seinen Kollegen aus dem Sudan, der ihn vehement unterstützte. Gestützt auf die Stellungnahmen der Generalsekretäre der beiden grössten afrikanischen Partnerkirchen der BM verlangte ich in der Leitungskonferenz, dass die geplanten Strukturänderungen zurückgestellt werden müssen, bis die offiziellen Stellungnahmen der afrikanischen Partner vorlägen. Das Vorgehen der Leitung der BM verstosse gegen wichtige Empfehlungen der grossen Konferenz von 1990 und gegen alle Regeln der Mitbestimmung. Jetzt wurde meine Stimme gehört. Es wurde entschieden, dass die Verwirklichung der grossen Vision eines weltweiten synodal vernetzten Werkes nur unter Berücksichtigung der Stimmen aller Partner verwirklicht werden könne: Afrikas Stimme soll ernst genommen werden.

Der Weg in Richtung auf die Verwirklichung der grossen Vision war angetreten. Für die Afrikaner blieb es freilich ein Weg mit grossen Enttäuschungen. Immerhin wurde am Schluss eine Synode geschaffen, in der Mitsprache möglich ist, wenn auch nicht im Umfang, wie es sich der Generalsekretär der Presbyterianischen Kirche in Kamerun gewünscht hatte.

Initiative und Referendum als Möglichkeiten der Mitbestimmung der Schweizer Bürger und Bürgerinnen in der Gestaltung ihres Staates.

Das zweite Beispiel der Mitbestimmung liegt auf einer anderen Ebene. Es betrifft meinen Staat, meine Heimat.

Hier bin ich nicht in der Leitung. Ich bin nicht Parlamentarier, auch nirgends in einer politischen Exekutive. Aber als gewöhnlicher Bürger frage ich: Was kann ich in meinem kleinen Bereich beitragen, dass dieser Staat die Menschenrechte als rechtliche Grundlage alles Zusammenlebens von Staaten, Gesellschaften und einzelnen Menschen als vorgegebenes Ziel anstrebt. Die Frage tönt vielleicht zu pathetisch, aber sie ist faktisch hoch aktuell für uns alle.

Die Schweizer Verfassung gibt jedem Schweizer, jeder Schweizerin die Möglichkeit, auf die staatliche Verfassung und auf die staatliche Gesetzgebung Einfluss zu nehmen. Es handelt sich um die beiden gesetzlich streng geregelten Interventionsmöglichkeiten der Verfassungs-initiative und des Gesetzesreferendums. Ich will beides kurz erklären:

Die Initiative verlangt eine Änderung oder Ergänzung der Schweizerischen Verfassung. Dabei kann es um ganz grundlegende Anliegen gehen: z.B. um das Anliegen, dass Frauen das aktive und passive Wahlrecht und das Stimmrecht erhalten sollen, welchem die Schweizer Männer erst 1971 zustimmten. Es kann aber auch um so fragwürdiges Zeug gehen wie, dass die Muslime in der Schweiz keine Minarette bauen dürfen, was – Schande über uns Schweizer! – angenommen worden ist.

Ich will nur auf zwei Punkte auf dem langen Weg des Zustandekommens einer Initiative hinweisen:

  • Ein Initiativkomitee formuliert die Initiative. Es muss innert 18 Monaten 100.000 Unterschriften von stimmberechtigten Schweizerinnen und Schweizern sammeln. Gelingt das, so muss die Initiative dem Schweizer Volk zur Abstimmung unterbreitet werden.
  • Auf dem langen Weg von 18 Monaten gibt es für jeden Bürger und jede Bürgerin viele Möglichkeiten für oder gegen die Initiative Stellung zu nehmen.

Referendum: Wird die Initiative angenommen, so müssen Exekutive und Parlament die entsprechenden Gesetze ausarbeiten. Wenn Bürger mit diesem Gesetzesentwurf nicht einverstanden sind, können sie dagegen das Referendum ergreifen. Hier müssen innert 100 Tagen 50’000 Unterschriften zusammenkommen. Dann muss das Gesetz dem Volk zu Annahme oder Ablehnung vorgelegt werden.

Ich bin ein entschlossener Unterstützer der erwähnten Bürgerrechte: der Verfassungsinitiative und des Gesetzesreferendums. Beide stehen für die Ermöglichung und die Verwirklichung der Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger im Staat.

Ihr mögt skeptisch fragen: Was ist deine eine Stimme schon gegenüber 4 bis 5 Millionen Schweizer Stimmberechtigten? Ich antworte: So will ich nicht fragen. Ich bin Mitglied der SP der Schweiz. Ich bin nicht immer einverstanden mit meiner Partei. Aber im Prinzip wird meine Stimme durch die Auseinandersetzung mit meiner Partei verhundertfacht oder mehr. Dazu kommt mein ganzes Netz persönlicher Beziehungen. Ich will mich als Bürger meines Staates mit verantwortlich fühlen für seine Verpflichtung auf die Menschenrechte, die in unserer Verfassung festgehalten sind. Ich will meine Möglichkeit der Mitbestimmung wahrnehmen.

Aber ich will zum Schluss auf zwei schwerwiegende Mängel in unserer Verfassung hinweisen.

  • Der erste: Die Beeinflussung von Wahlen und Abstimmungen durch Finanzbeiträge ist in der Schweiz nicht geregelt. Die SP verlangt seit Jahren, dass in Wahl- und Abstimmungskämpfen hohe Geldspenden ausgewiesen werden müssen. Sie hat auch eine entsprechende Initiative eingereicht. Die Rechtsparteien stellten sich vehement dagegen und pflasterten die Schweiz mit Nein-Plakaten zu. Die Initiative wurde abgelehnt. Das ist ein Beispiel, wie die demokratischen Mitbestimmungsinstrumente der Initiative und des Referendumszug Instrumenten der Millionäre und Milliardäre werden. Die Schweiz ist heute eine merkwürdige Mischung von Demokratie und Plutokratie: von Regierung durch das Volk und Regierung durch die Reichsten. Wir wären um der demokratischen Werte der Initiative und des Referendums dringlich auf Transparenz im Blick auf die Geldflüsse in unseren Wahl- und Abstimmungskämpfen angewiesen: auf eine demokratische Begrenzung der übermässigen Rolle, welche das Geld spielt. Und diese Begrenzung wäre von unserer Verfassung her möglich!
  • Und das zweite: Die Schweiz hat leider kein Verfassungsgericht. Ich habe den Skandal schon erwähnt, dass die Schweiz eine Initiative, welche den Muslimen den Bau von Minaretten verbietet, angenommen hat. Sie hätte von einem Verfassungsgericht gar nicht zur Abstimmung zugelassen werden dürfen, weil sie gegen die in der Schweiz garantierte Religionsfreiheit verstösst. Aber es scheint, dass viele Parlamentarier und viele Bürger fürchteten, dass sie Sympathien bei der Bevölkerung und ihren Nachbarn verloren hätten, wenn sie sich gegen die Initiative offen ausgesprochen hätten. Die Stimmung gegenüber den Muslimen ist zur Zeit bei vielen Schweizern nicht gut. Die durch die Verfassung garantierten Rechte müssten durch ein Verfassungsgericht geschützt werden. Sie dürften nicht vom Auf und Ab der Tagespolitik abhängen, die kurzfristig häufig von Emotionen und Stimmungsmache abhängt. Auch hier müsste um der Menschenrechte willen eine klare Grenze gesetzt werden.

Grenzerfahrung im Einsatz für Mitbestimmung: Die damit zusammenhängenden Fragen stellen sich wohl nicht nur mir und meinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen in der Schweiz, sondern – vielleicht in anderer Form – auch euch, denn Wahre Mitbestimmung muss in den gegebenen Verhältnissen immer neu entdeckt, erarbeitet und verwirklicht werden: sie ist die Herausforderung, die dadurch gegeben ist, dass unser Mitmensch wohl die wichtigste natürliche Grenze von uns selbst ist.

Dadurch ist Mitbestimmung auch ein Grundpfeiler jeder wahren Demokratie: Demokratie haben wir nie: sie muss ständig im Blick auf die Mitmenschen und ihre Grundrechte neu gelernt und verwirklicht werden.


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