Okt 292016
 
Gedanken anlässlich des Reformationsgedenkens 2017

Von Carl Beleites

Für Luther war dieses ein feststehender Satz „Alle Obrigkeit ist von Gott“. Weil es so wenig Christen gibt, sind Obrigkeiten Gottes barmherzige Gabe, die Bösen in Schranken zu halten. Wenn jedoch alle Menschen in christlicher Liebe leben würden, dann wären alle Obrigkeiten überflüssig, denn sie würden in Verantwortung und Liebe das Zusammenleben meistern. Aber dem ist ja nicht so. In der Schrift „Ob Kriegsleute in seligen Stande sein Können“ rühmt er sich seit der Apostel Zeit hätte keiner das Schwert, die Obrigkeit so begründet wie er.

Wir lassen es offen, was zuerst da war, diese Lehre oder die konservative Haltung, die zu dieser Lehre trieb. Als Professor der neu gegründeten Universität in Wittenberg stand er von Anfang an unter dem Schutz des Kurfürsten. Auch in Worms konnte er sich dessen sicher sein. So kann Müntzer in seiner „Schutzrede wider das geistlose sanftlebende Fleisch zu Wittenberg“ schreiben: „So du zu Worms hättest gewankt, wärest du eher erstochen vom Adel worden denn losgegeben. Weiß doch jeder!“ Und Heinrich Böhmer schildert im „Jungen Luther“ wie er im Wissen um den fingierten Überfall bei Eisenach extra einen Abstecher auf Seitenwegen nach Möhringen gemacht habe, damit alles nach Plan gelänge. Diese positiven Erfahrungen von Obrigkeit mögen sein Denken beeinflusst haben.

Anders waren die Erfahrungen, die Müntzer mit Fürsten, Grafen und Stadtvätem gemacht hatte. Nirgends konnte er lange bleiben, weil es durch seine Predigten zu Streit kam. Für Müntzer betraf die Botschaft der Bibel das ganze Leben. Wo die Strukturen der Gesellschaft Menschen am Leben aus dem Evangelium hinderten, wo diese Strukturen menschenverachtender Unterdrückung und Ausbeutung dienen, da müssen sie angefragt werden. So schreibt er in der „ausgedrückten Emblösung des falschen Glaubens“: „Mit zarter Weise sprechen sie (die den falschen Glauben lehren): „Erforschet die Schrift, denn ihr wähnet, ihr lasset euch dünken, ihr wollet eure Seligkeit daselbst überkommen.“ Da werden denn die armen dürftigen Leut also hoch betrogen, dass es kein Zung genug erzählen mag. Mit allen Worten und Werken machen sie es ja also, dass der arm Mann nicht lesen lerne vorm Bekümmernis der Nahrung (Sorge um den Lebensunterhalt). Und sie predigen unverschämt, der arme Mann soll sich von den Tyrannen lassen schinden und schaben. Ja, lieber Thomas, du schwärmest! Die Schriftgelehrten sollen schöne Bücher lesen, und der Baur soll ihn‘ zuhören, denn der Glaub kommt durchs Gehöre! Ach ja, da haben sie einen feinen Griff funden, der wurde viel ärger Buben an die Statt der Pfaffen und Münch setzen, denn von Anbeginn der Welt geschehen ist“ In Allstedt, als Müntzer großen Zulauf zu seinen Predigten hatte, hinderte der Graf von Emst von Mansfeld die Menschen seines Machtbereichs nach Allstedt in die Kirchen zu Müntzer zu gehen. Und im Sommer 1524 vermochten die Vertreter der Stadt Allstedt sich nicht mehr gegen die Fürsten vor Müntzer zu stellen. So musste er bei Nacht heimlich diese Stadt verlassen. Das Versagen der großen Hansen sah er, in ihre Willkür und die Unterdrückung des Volkes erlebte er. Und darum förderte er, ihnen müsse das Schwert genommen und dem Volke gegeben werden. Jetzt sei es Zeit, dass in Erfüllung gehe, was Daniel 7 zu lesen ist: „Und jenem König wird die Macht genommen werden, endgültig zerstört und vernichtet. Und das Reich und die Herrschaft und die Macht über alle Reiche unter dem ganzen Himmel wird es Volk der heiligen des Höchsten gegeben werden. Ihr Reich ist ein ewiges Reich; und alle Mächte müssen ihnen dienen und untertan sein.“ Auch das Wort von den falschen Hirten bei Hesekiel im 34. Kapitel sah er als ein Wort gegen die Oberen im staatlichen und kirchlichen Bereich. Jetzt ist die Zeit der Wahrheit des Wortes aus dem Magnifikat Lc. 1,52 „Er stößt die Gewaltigen vom Thron, und erhebt die Niedrigen.“

Thomas Müntzer
Fünf-Mark-Banknote in der DDR
Quelle: Wikipedia – Scan: David Wintzer

Da Müntzer die Bibel als Buch der Gegenwart – jetzt ist die eschatologische Zeit – dynamisch liest, gehen seine reformatorischen Vorstellungen und Bemühungen weiter und tiefer als bei Luther. Während dieser an den altkirchlichen Symbolen und den überkommenen Kirchenlehren festhält und nur die schlimmsten Auswüchse und Flecken beseitigen will, denkt Müntzer an eine grundlegende Reformation. In der Fürstenpredigt hier auf dem Schloss zu Allstedt zitiert er Hegesipp nach Euseb: „dass die christliche Gemein eine Jungfrau blieben sei nit länger dann bis auf die Zeit des Todes der Apostelschüler. Bald danach ist sie eine Ehebrecherin geworden, Sie (die Pfaffen, die Nachfolger der Apostelschüler) haben die Schaf Christi der rechten Stimme beraubt und haben den wahren gekreuzigten Christum zum lautern fantastischen Götzen gemacht. Wie hat das zugegangen? Antwort: Sie haben die reine Kunst Gottes verworfen und an sein Statt eine hübschen, feinen, gülden Hergott gesetzet, do die amen Bauren vor schmatzen.“ Müntzer möchte, dass den Armen das Evangelium erlebbar verkündet werde. Wenn die großen Hansen dem im Wege stehen, muss ihnen das Schwert genommen und dem Volke gegeben werden. So ist für ihn die Obrigkeit nur solange von Gott; wie sie dem Evangelium dient. Die armen Leute sollen aus dem Geist Gottes, der heut noch wirksam ist, leben können.

Wie sollen wir heute Römer 13, 1-7 oder 1. Petrus 2,13 ff oder Titus 3,1 lesen? Können wir diese Aussagen von der gottgegebenen Obrigkeit so einfach übernehmen und weitergeben, nur weil sie in der Bibel stehen? Im NT lesen wir noch andere Aussagen zur Obrigkeit. So schildert Lukas in der Apostelgeschichte (4,19 und 5,29) von Petrus und Johannes wie sie vor dem Hohen Rat bekennen, dass man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen. Und in dem Zusammenhang der Zebedaidenfrage im Anschluss an die 3. Leidensankündigung überliefern die Synoptiker als Wort Jesu: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer aller Diener und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht.“ Johannes bestätigt dieses Wort mit der Geschichte von der Fußwaschung.

Wenn wir von der Zitierung weiterer Gegentexte absehen, so müssen wir uns doch fragen, kann Paulus solche Sätze geschrieben haben? „Willst du dich nicht fürchte vor der Obrigkeit, so tue Gutes; so wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin dir zugut.“ Als Stephanus gesteinigt wurde, war Paulus Obrigkeit und desgleichen als er mit Briefen ausgestattet nach Damaskus zog. Und danach hat er in vielen Verfolgungen Obrigkeit äußerst negativ erlebt. Und kann eine Gemeinde, in der die Erinnerung an das Zusammenwirken der Obrigkeiten zur Hinrichtung des Meisters lebendig ist, solche Sätze verinnerlichen? Ich denke, wo solche Sätze formuliert werden, wird das Kreuzesgeschehen zur symbolhaften toten Dogmatik. „Zum erdichteten Glauben“ würde Müntzer sagen. Und der Satz: „Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist die ist von Gott angeordnet.“ Mag man das Zusammenwirken von Kaiphas, Herodes und Pilatus zur Hinrichtung Jesu noch als von Gott gewollte Heilsgeschichte deuten, so kann doch im Rückblick auf die Ereignisse vor 50 und vor 75 Jahren dem nicht mehr zugestimmt werden. Die Gewalttaten in Polen und später in der SU und anderen Ländern, das schreckliche Geschehen, das mit Auschwitz gekennzeichnet wird, kann ich mit den oben zitierten Sätzen nicht in Einklang bringen. Regierungen, die Menschen zu solchen Handlungen veranlassen, führen und zwingen, kann ich nicht als von Gott eingesetzt sehen.

Wir sollten wohl mit Müntzer das Tun der Regierungen in aller Welt und besonders derer, wo die Eide auf die Bibel geschworen werden, die sich also dem Christentum verbunden wissen, sehr kritisch sehen. Regierungen, die Menschen unterdrücken, quälen, foltern sind nicht von Gott. Wo Kriege begonnen werden, wo Menschen zu Gewalttaten angehalten werden, da wird der Name Gottes gelästert. Ich denke da auch an das Büchlein Luthers „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ mit seinem Aufruf zum Stechen, Schlagen und Morden an den Bauern, auch dieses ist eine Lästerung Gottes mit einer bösen Wirkungsgeschichte. In diesem Büchlein stellt sich Luther ganz offen auf die Seite der Mächtigen. Seine Kirche stellte er dann unter den Schutz der Machthaber. So wurde er ihr Untertan und Büttel und in seiner Nachfolge wurde der Untertanengeist kirchlich sanktioniert.

Die Diskrepanz zum Evangelium hatte er schon 1523 in der Schrift von der weltlichen Obrigkeit mittels der Zweireichelehre aufgelöst. Damit nahm er dem christlichen Glauben seine Schärfe. Der Hauptteil des Lebens, die Welt, war ausgeklammert, da galt das Evangelium nicht sondern die Gesetze der Welt. Und so wurden die Christen nicht befähigt, Strukturen der Macht anzufragen und zu verändern. Nur wenige Christen wachten nach 1933 auf und leisteten Widerstand, als Hitler in kirchliche Belange eingreifen wollte. Für das außerkirchliche Unrecht blieb man bis auf ganz wenige schon wieder blind. Und als brave Untertanen zogen sie auch mit in den Krieg und viele sind gefallen.

Während Luther sagt, es gäbe nur wenige Christen, und darum müsse die alte Ordnung erhalten bleiben, spricht Müntzer die Fürsten auf ihren Christenglauben an. In der Fürstenpredigt weist er sie in der Auslegung von Daniel 2 auf die endzeitliche Situation seiner Zeit hin. Da sie Christen sein wollen, gilt auch ihre christliche Verantwortung. Von der Schrift her möchte er ihnen die Augen öffnen. So wirbt er in dem Sendebrief zu Bekehrunge Bruder Ernstes zu Helderungen den Grafen für die Sache der Bauern. „Du musst und sollst beweisen, ob du ein Christen bist, sollst und musst deinen Glauben berechne (Rechenschaft ablegen) wie 1. Petrus 3 befohlen,“ Seinen Gegnern im kirchlichen Bereich warf Müntzer eine erdichteten Glauben vor. Dieser entspricht nicht der Bibel, obwohl er mit der „gestohlenen Bibel“ begründet wird. Sie missbrauchen die Bibel, um zu beweisen, was nicht in der Bibel steht. Darum „gestohlene Bibel“ und „erdichteter Glaube“. Mit Müntzer sollten wir immer wieder neu die Botschaft, die hinter den Worten der gesamten Schrift steht, das Glaubenszeugnis der Schreiber, versuchen zu hören, und dann sollten wir im Geiste der Schriften verantwortlich zu leben wagen.

Jesus war jedenfalls nicht untertan im Sinne des Gehorsams. Er tat, was ihm recht dünkte, heilte am Sabbat, ohne vorher in Jerusalem zu fragen, ob es auch erlaubt sei. In freier Verantwortung vor Gott und für die Menschen hat er gelebt und die Menschen angehalten, es ebenso zu tun. Und darum, weil er so die Strukturen der Macht ignorierte, verbanden sich die Mächtigen gegen ihn. In dem Wort des Petrus und Johannes, dass man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen klingt es noch etwas an. Solche Sätze wie Rö. 13 hätte Jesus wohl nie formulieren können, weil es seinem Leben von freier Verantwortung widersprach. Lasst uns von ihm lernen, den mühseligen Weg des bitteren Christus zu gehen in Freiheit und nicht im Gehorsam, dann könnte in der Kirche wahrhafte Umkehr nach den Ereignissen vor 50 und 75 Jahren beginnen.

Quelle: Andacht zu Römer 13, 1 – 7 in Allstedt anlässlich einer Studienfahrt des Pfarrkonventes Zeitz zu Müntzer-Gedenkstätten am 31. August 1989


Prediger der Revolution Thomas Müntzer steht für den linken Flügel der Reformation

Von Stephan Cezanne

Im Mai 1525 reitet Thomas Müntzer in die entscheidende Schlacht. Der Theologe und Prediger führt rund 300 Mann nach Frankenhausen im heutigen Thüringen, um das bis zu 8.000 Mann starke Bauemheer zu verstärken. Als Zeichen ihres Bundes mit Gott und als Symbol ihres Aufstandes gegen die Obrigkeit führen die bewaffneten Bauern eine weiße Fahne mit einem Regenbogen mit. Zeitzeugen zufolge soll sich am Morgen des 15. Mai vor der Schlacht tatsächlich ein Regenbogen am Himmel gezeigt haben. Doch das gute Omen ist trügerisch: Rund 5.000 aufständische Bauern werden an diesem Tag vom Fürstenheer erschlagen. Auf der Gegenseite sollen sechs Tote gezählt worden sein. Der rund 35 Jahre alte Bauemführer Müntzer wird gefangen genommen, zwei Tage lang gefoltert und am 27. Mai 1525 enthauptet. Die Bauern wehrten sich gegen rechtliche, politische und soziale Repressionen durch ihre Landesherren, Frankenhausen hatte sich im April 1525 zum Zentrum des Protestes entwickelt. Müntzer polarisiert bis heute und ist sicherlich die umstrittenste Person der Reformationsgeschichte. Als »Theologen der Revolution«, utopischen Visionär, ja frühen Kommunisten sah ihn der Philosoph Emst Bloch (1885-1977). In der DDR zog man eine direkte Linie von den Bauernkriegen und Müntzer zum Arbeiter- und Bauemstaat. Sein Antlitz zierte lange die Fünf-Mark-Banknote in der DDR. 1975 erhielt Mühlhausen den offiziellen Beinamen »Thomas-Müntzer-Stadt« – der aber 1991 wieder abgeschafft wurde. Kritiker sehen in Müntzer dagegen nur einen religiösen Fanatiker. Vor allem gilt der Protestant der ersten Stunde als der große Gegner von Martin Luther (1483-1546).

Vermutlich gegen Ende 1489 oder 1490 – auch von seinem Aussehen gibt es kein zeitgenössisches Bild – wird Müntzer in Stolberg im Harz als Sohn eines Handwerkers und einer Bäuerin geboren. Er durchläuft erfolgreich die klassische Bildung: 1506 schreibt er sich an der Fakultät in Leipzig ein, ab 1512 studiert er in Frankfurt an der Oder Theologie und Philosophie. Ab 1514 ist er Priester in mehreren Orten in Mitteldeutschland. Schon früh bekommt Müntzer Kontakt zu den Ideen der Reformation. 1517/18, als Luther seine 95 Thesen veröffentlicht, studiert er zeitweise in Wittenberg, ab etwa 1519 gilt er als Lutheraner, 1520 wird er auf Empfehlung Luthers Prediger in Zwickau. Dort lernt Müntzer die sozialen Probleme einer damaligen Großstadt kennen und trifft auf schwärmerische Erweckungsbewegungen, die religiöse Visionen mit scharfer Sozialkritik verbinden.

Wichtige Wirkungsstätten Thomas Müntzers
Scan von Nightflyer

Müntzer lebte sein Leben wie im Zeitraffer. Aus Zwickau wird er als Unruhestifter verjagt, er macht Station in Prag, dann wieder Wittenberg. Ab 1523 wird er Prediger in Allstedt (Sachsen-Anhalt). Dort gründet er mit der früheren Nonne Ottilie von Gersen eine Familie. Noch vor Luther reformiert er den Gottesdienst, verdeutscht die lateinische Messe und erneuert den Gemeindegesang. Das Volk soll zu seinen Predigten geströmt sein. Dieser wichtige Beitrag Müntzers für die Reformation ist Historikern zu folge bis lang nicht genügend gewürdigt worden. Müntzer, der »Knecht Gottes«, setzt sich aktiv für Arme und Ausgegrenzte ein. Doch dann radikalisiert er sich zunehmend, aus dem Schüler Luthers wird ein erbitterter Gegner, er geht in Opposition zu »den Wittenbergern« und gehört damit zum so genannten linken Flügel der Reformation. Luther keilt in der ihm eigenen Maßlosigkeit zurück, nennt Müntzer einen Satan. Dieses negative Müntzer-Bild wurde lange konserviert.

Letztendlich war Müntzer aber eher Theologe als Revolutionär. Er wollte in erster Linie dem Reich Gottes den Weg bereiten – wie er auch das nahe Ende der Welt erwartete. Die Bauern hofften dagegen vor allem auf einen Ausweg aus ihren menschenunwürdigen Lebensumständen.

An Müntzer erinnert heute das Monumentalgemälde »Frühbürgerliche Revolution in Deutschland« des Leipziger Malers Werner Tübke (1929-2004) auf dem Schlachtberg bei Bad Frankenhausen. Das Panorama wurde 1989 eröffnet, zur Zeit der politischen Wende in Deutschland das passt zu Müntzer, der auch in einer Zeit der radikalen politischen Umbrüche lebte.

Quelle: epd-Wochenspiegel | Ausgabe Ost Nr. 38, 2016


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