Apr 132017
 
Gerhard Rein, Auf der Grenze von West und Ost

Buchvorstellung im Rahmen der „Friedenswerkstatt Pankow“ zum Berliner Kirchentag 2017, 25. Mai 2017, Evangelisches Gemeindehaus Pankow

Von Joachim Garstecki

Die „Friedenswerkstatt Pankow“, in deren Rahmen wir hier zusammenkommen, wird von ihren Veranstaltern als „ein ergänzendes Angebot zum offiziellen Kirchentagsprogramm“ 2017 vorgestellt. Das ist eine freundliche Umschreibung des Umstandes, dass der Themenschwerpunkt Frieden im offiziellen Kirchentag nicht vorkommt und gewissermaßen ins Kirchen-Asyl nach Pankow ausgelagert werden muss, damit er nicht völlig unter den Tisch fällt. Zwei erprobte Akteure christlicher Friedensarbeit in Berlin, die Evangelische Kirchengemeinde Alt-Pankow und der seit 1981 bestehende „Pankower Friedenskreis“, sorgen mit ihrem guten Namen  gemeinsam mit der „Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Dienst für den Frieden“ (AGDF) dafür, diese peinliche Leerstelle zu füllen. Sie setzen damit auf die Tagesordnung, was bis vor wenigen Jahren ein Markenzeichen Evangelischer Kirchentage war: Frieden als verpflichtende, zivile, immer wieder neu zu bedenkende Aufgabe von Christinnen und Christen angesichts aktueller Fragen und Herausforderungen.

Heute Abend haben wir die große Freude, passend zu diesem Anlass einen Zeitgenossen und guten Freund begrüßen zu dürfen, den Journalisten Gerhard Rein, der mit der Arbeit der Evangelischen Kirchentage der Achtzigerjahre in der Bundesrepublik aufs engste verbunden war. Gerhard Rein hat die „deutsch-deutschen Gespräche“ auf den Kirchentagen 1985 in Düsseldorf, 1987 in Frankfurt und 1989 in Berlin mitkonzipiert, moderiert und anschließend publiziert. Damit hat er Brücken zwischen West und Ost geschlagen, über die wir heute, 30 Jahre später, wie selbstverständlich gehen. Für Gerhard Rein ist die ökumenische Bewegung vor allem eine Friedensbewegung.  Deshalb hat er sich schon in den Achtzigerjahren dem „Pankower Friedenskreis“ angeschlossen, einem Gesprächskreis, der seine Auseinandersetzung mit Friedensfragen eng mit der Kritik an den Verhältnissen in der real-existierenden DDR verbunden hat.

Geboren 1936 nahe Kulm an der Weichsel, war der gelernte Journalist Gerhard Rein seit 1961 als Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk (SDR) in Stuttgart tätig, in der Redaktion Kultur und Kirche. Von 1982 bis 1989 arbeitete er als Hörfunk-Korrespondent für den Süddeutschen Rundfunk in der DDR, lebte in West-Berlin und kam in Ost-Berlin und im Land mit vielen kritischen, unangepassten Menschen in Kontakt, die sich nicht damit abfinden wollten, dass der „Sozialismus in den Farben der DDR“ schlechthin alternativlos sein sollte. Gerhard Rein wiederum wollte nicht akzeptieren, dass die Journalisten-Verordnung der DDR alleinige Richtschnur für seine Arbeit als Korrespondent sein sollte. „Wir lieben Dissidenten, weil sie eine andere Sprache aufrecht erhalten“, hat er über seine Arbeit als Korrespondent verraten. Laut Duden ist ein Korrespondent ein „auswärtiger Berichterstatter“; im DDR-Deutsch „West-Journalist“, im Klartext der Stasi „feindlicher Agent“.

Von 1992 bis 1997 ging Gerhard Rein zusammen mit seiner Frau als ARD-Hörfunk-Korrespondent für das südliche Afrika nach Johannesburg und erlebte dort den Übergang vom Apartheid-Staat zur Demokratie mit, hoffnungsvoll und schmerzhaft zugleich. 1997 kehren Reins nach Berlin zurück, wo sie bis heute leben. Sie machen die merkwürdige Erfahrung: die Vergangenheit der DDR ist präsent wie eh und je. Auch unter den politischen Bedingungen nach der deutschen Vereinigung von 1990 bleibt Gerhard Rein mit den kritischen Geistern im Land im Gespräch. Und weil den ehemaligen Korrespondenten aus dem Westen gelegentlich pauschal vorgeworfen wird, sie hätten „Hofberichterstattung“ zugunsten der DDR betrieben, gibt er sich Rechenschaft über sein Leben und Arbeiten als Korrespondent in der DDR.

So auch in dem Buch, um das es heute Abend gehen soll und das uns der Autor mit einigen ausgewählten Text-Beispielen gleich vorstellen wird. Es trägt den vielsagenden Titel: „Auf der Grenze von West und Ost. Texte, Notizen und Gespräche eines Korrespondenten“. In 50 ausgewählten Beiträgen, Kommentaren und Interviews gibt Gerhard Rein auf 300 Seiten Auskunft über seinen Blick auf die Menschen und Verhältnisse in der DDR zwischen 1982 und 1989 und auf die Zeit “danach“, zwischen 1990 und heute. Den „Vorboten und Spuren einer Revolution“ ebenso wie ihren „Nachwirkungen“ sind 36 Texte des Buches gewidmet; 14 weitere handeln davon, „Was aus der Vergangenheit ins Heute reicht“, darunter drei Reportagen aus Südafrika. In seiner Einleitung schreibt der Autor: „Die Mehrzahl der hier versammelten Texte ist (…) bisher nicht verlegt worden. Sie sind aber veröffentlicht. Vor allem im Radio“. Im Radio haben die „DDR-Bürger“ Gerhard Reins Beiträge in der Regel leider nicht oder nur selten hören können, schon gar nicht im O-Ton Rein. Umso wichtiger, dass sie jetzt als richtiges Buch auf dem Tisch liegen, mit schönem Hardcover-Einband und verlegt in einem richtigen Verlag.

Ein Geschenk, lieber Gerhard! Kostbar nicht allein, weil du dich in deinen Texten sehr genau an große und kleine Begebenheiten erinnerst, weil du nichts vergessen und „im Nachhinein nichts verharmlosen“ willst. Und weil du damit auch dem Erinnern Deiner Leserinnen und Leser auf die Sprünge hilfst. Kostbar aber vor allem deshalb, weil dieses Buch den Ort Deiner Korrespondenten-Tätigkeit im Rückblick noch einmal genau beschreibt: „Auf der Grenze von West und Ost“. Du zitierst den deutsch-amerikanischen Theologen Paul Tillich (1886 – 1965) aus dessen Buch „Auf der Grenze“ (1936, dt. 1962), das zu jenen drei Büchern gehört, die du mit auf eine einsame Insel nehmen würdest. Der dir besonders wichtige Satz lautet: „Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis“. Ein Schlüsselsatz. Erst „auf der Grenze“ erfassen wir die wirklichen Fragen der Zeit und der Menschen, die Fragen nach Krieg und Frieden, in ihrer existenziellen Tragweite. Erst die Grenze öffnet und verändert unseren Blick auf die Wirklichkeit. Das kann die distanzierte Neugier eines Zuschauers von außen nicht leisten, der über die Mauer in ein komisches, fremdes Land blickt, um eine paar „Eindrücke“ zu erhaschen, sich Notizen macht und zu Hause überlegt, wie er das seinen Hörerinnen und Hörern möglichst bekömmlich serviert. Der Titel „Auf der Grenze von West und Ost“ verrät den Standort eines unabhängigen Journalisten jenseits der gängigen Verortungen, die wir von einem angepassten Journalismus „an der Grenzlinie“ oder „an der Nahtstelle“ der beiden Blocksysteme „West“ und „Ost“ sattsam kennengelernt haben: immer nur die Perspektive der einen oder der anderen Seite, von „diesseits“ oder von „jenseits“ der Grenze der Systeme nachplappernd. „Auf der Grenze“ – das ist „Ein schmaler Grat“, wie der Text überschrieben ist, der das Buch einleitet, mit dem Risiko des Abstürzens, aber eben auch voller Chancen des engagierten Sich-Einlassens, des Dazwischen-Seins (was die treffende Übersetzung von „Interesse“ wäre), mit Empathie ohne kuscheligen Touch, mit solidarischer Teilnahme wie kritischer Zurückhaltung. Das gilt für Ost-Berlin und die DDR vor 1989 ebenso wie für Südafrika nach dem Ende des Apartheid-Regimes.

Eine Vorstellung des Buches „Auf der Grenze von West und Ost“ wäre unvollständig, wenn in ihr das Thema Frieden fehlen würde. Du hast es am deutlichsten angesprochen vor dem Hintergrund eines ökumenischen Ereignisses, prägend für das Friedenszeugnis der Kirchen in der DDR in den Achtzigerjahren. In der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung 1988/89 siehst du eine Auftaktveranstaltung der Friedlichen Revolution. In dieser Versammlung kamen die globalen Krisen unserer Zivilisation und die hausgemachte Krise der DDR in ein produktives Gespräch. Das hat dieses Land nachhaltig verändert und den Staat DDR implodieren lassen.

Du erinnerst an einen faszinierenden Vordenker. In einem großen Radio-Feature über den ökumenischen Theologen Ernst Lange (1927 -1974), das du nach dessen Selbsttötung 1974 verfasst hast, bringst du das „Auf-der-Grenze-Sein“ als Leiden an dieser Welt, an dieser Kirche und am eigenen Unvermögen, es zu überwinden, exemplarisch auf den Punkt. Für Ernst Lange stand die Friedensfrage im Mittelpunkt seiner ökumenischen Leidenschaft. Hätte er die Chance gehabt, die Ökumenische Versammlung in der DDR, ihre „Zeugnisse der Betroffenheit“ zu Beginn und ihre Ergebnisse am Ende erleben zu können, er hätte sie mit Sicherheit als einen „Ernstfall des Glaubens“ und als Glücksfall für seine „Ökumenische Utopie“ begrüßt, „als Modell, als Unruhe der werdenden Weltgesellschaft, als Träger eines Impulses der Humanisierung…“ (Ernst Lange, Die ökumenische Utopie, 1970).

Die meisten Protagonisten der Friedlichen Revolution haben die ökumenische Verwurzelung des Aufbruchs der DDR in eine andere Zukunft heute schon wieder vergessen, manche ignorieren sie, manche haben sie nie verstanden. Das gilt auch für das Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“, Markenzeichen der christlichen Friedensbewegung in der DDR und der Friedensdekaden ab 1980, ebenso für die „Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“ (Bundessynoden 1982 bis 1987), mit der die evangelischen Kirchen in der DDR auf das drohende Wettrüsten mit atomaren Mittelstreckenwaffen in Europa reagiert haben. In dem Text „Keine Empörung. Nirgends“ von 2013 dokumentierst du deine Fassungslosigkeit über die gegenwärtige politische Klasse, vertreten durch Merkel, Gauck und de Maiziére, die munter dabei ist, den „Vorrang für Zivil“ für die deutsche Politik auf dem Altar sicherheitspolitischer Interessen zu opfern. Das wird aktuell nur noch überboten durch den Kirchentag selbst, der das Thema Frieden dem Evangelischen Militärbischof überlässt, als hätten wir nicht allen Anlass, endlich zivilen Akteuren den Vortritt zu lassen. Wo der Friedensauftrag der Kirche auf ein soldatisches Derivat eingedampft wird, mit dem Militärbischof als Liturge und der Militärministerin von der Leyen als Predigerin – da hat der Frieden schon verloren.

Lieber Gerhard Rein, „Nicht was ich bin, sondern wer ich bin, soll diesen Texten zu entnehmen sein“, hast du am Anfang deines Buches geschrieben. Wir nehmen das gern als Einladung an, dich noch besser kennenzulernen. Ich bin sicher – wer dein Buch in die Hand nimmt und zu lesen beginnt, wird deine Hoffnung bestätigt finden.


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